Peter Gnas

Schlussstein


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begleitet von den Beamten in Weiß, über das Trümmerfeld in Richtung des ehemaligen Kamins.

      „Wir müssen es machen wie gestern am Kindergarten“, meinte der Leiter der Forensik. „Mit einem Bergungskran tragen wir Schicht um Schicht ab.“

      Rotberg ging auf die Suche nach Günter Timm, dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Er sah ihn gestikulierend in einer Gruppe seiner Männer.

      „Wahrscheinlich haben Sie es bereits veranlasst“, sagte der Kommissar zu Timm, „ich möchte, dass die Anwohner von hier weggebracht werden. Insbesondere die, die auch noch fotografierend herumlaufen. Wir könnten Sie mit dem Hinweis auf Einsturzgefahr ihrer Häuser von hier fortkomplimentieren.“

      „Wir haben alle aus den Gebäuden herausgeholt“, antwortete Timm. „Die laufen aber hier natürlich noch rum.“

      „Sehen Sie, ich dachte mir, dass Sie das getan haben.“ Rotberg legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Ich schnappe mir jetzt ein paar uniformierte Kollegen, die bringen die Leute weg von hier.“

      Es gab Unmut unter den Anwohnern. Einige waren einsichtig, andere argumentierten, dass Sie Angst hätten, dass Einbrecher dieses Chaos nutzen könnten, um in die Häuser einzusteigen. Die Polizei ließ nichts gelten und sorgte innerhalb von zwanzig Minuten dafür, dass niemand mehr in dem Gebiet herumlief, der hier nichts verloren hatte.

      In der Zwischenzeit bahnte sich der Bergungskran den Weg bis an die Trümmer heran. Nach einer halben Stunde war er aufgebaut und begann unter Anleitung der Feuerwehr die großen Trümmerteile beiseite zu räumen. Man hatte zuvor einige verletzte und auch tote Personen aus den Trümmern geborgen. Der schwere Dachstuhl lag jedoch wie ein Deckel auf der Ruine. Der Kran räumte das Dach Stück für Stück fort.

      Die Schüler, die sich zum Zeitpunkt des Einsturzes im Dachgeschoss befunden hatten, fand man zuerst. Einige lebten und waren mehr oder weniger stark verletzt, bei anderen konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen. Es gab dramatische Rettungsszenen. Ärzte und Sanitäter rangen darum, schwerstverletzte Schüler zu stabilisieren. Einige Versuche schlugen fehl. Man merkte den Medizinern ihren hilflosen Zorn an, wenn sie es nicht schafften. Auch die Helfer würden in den nächsten Tagen schlecht schlafen.

      Rotberg wusste, dass die Zahl der Toten zunehmen würde, je tiefer man suchte. Er sah Sabrina Hamm am Rande stehen – sie sah den Bergungstrupps bei der Arbeit zu. Er ging zu ihr.

      „Wie geht es dir?“, fragte er.

      Sie zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten. Er sah sie von der Seite an, sie schien innerlich aufgewühlt zu sein. Würde sie jetzt sprechen, kämen ihr die Tränen. Er wartete ab.

      „Wenn du dich ausruhen willst, mach doch Schluss für heute. Wir können hier sowieso nichts ausrichten“, versuchte er sie zu beruhigen.

      Sabrina Hamm schüttelte den Kopf. Sie schob die Unterlippe vor und zog die Mundwinkel nach unten. Sie sagte immer noch nichts. Rotberg sah, dass ihre Augen feucht wurden.

      Er hakte sie unter: „Komm, wir gehen irgendwo einen Kaffee trinken.“

      „Diese Schweine!“, presste sie heraus, „lauter Kinder – heute schon wieder.“ Es waren zornige Tränen, die ihr die Wange hinunterliefen. Sie wischte sie mit dem Handballen fort. Dadurch hatte sie nun große Flecken von Schmutz im Gesicht.

      „Komm“, wiederholte Rotberg. Er zog sie mit. Er erblickte Wesselmann einige Meter entfernt. Rotberg deutete mit der freien Hand eine Bewegung an, als würde er aus einer Tasse Kaffee trinken.

      Wesselmann bemerkte, dass es Sabrina Hamm nicht gut ging und nickte ihm zu, dass er verstanden hatte.

      Sie entfernten sich vom Ort des Geschehens. Rotberg schlug den Weg in die Richtung ein, von der er glaubte, dass es dort eine Gaststätte geben müsste. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her.

      „Entschuldige“, sagte Sabrina Hamm. Sie hatte sich wieder gefangen.

      „Mir geht es nicht besser als dir“, meinte Rotberg, „ich bin bloß schon viel zu viele Jahre als harter Kerl unterwegs, um jetzt Tränen zuzulassen. Du machst es richtig – ich werde stattdessen nächtelang wach liegen.“

      „Wie kann ein Mensch so etwas tun? Für Geld.“ Sie machte eine Pause. „Für diese Arschlöcher ist eine Gefängnisstrafe viel zu harmlos.“

      Rotberg kannte solchen Zorn. Auch er hatte schon einige Male darüber nachgedacht, ob er einen besonders grausamen Täter nicht einfach erschießen sollte. Es gab Menschen, die so boshaft waren, dass sie die niedrigsten Instinkte in einem hervorriefen. Vor manchem Verbrechen stand man in hilfloser Wut. Er hatte mit Jutta immer wieder darüber gesprochen. Es hatte ihm in diesen Momenten geholfen, seine Gefühle zu kanalisieren.

      „Da ist die Gaststätte, in die ich wollte“, sagte er. „Wenn wir dort sind, würde ich gern zuerst von Berghausen anrufen und fragen, ob das mit dem Geld läuft.“

      „Okay“, antwortete sie.

      „Du gehst am Besten auf die Toilette, um dir dein Gesicht zu waschen. Du siehst aus, als kämst du geradewegs aus einem Bergwerk“, er zwinkerte ihr zu. „Ich bestelle uns einen Kaffee.“

      Er griff in die Tasche und merkte, dass der Lehrer noch sein Telefon haben musste.

      „Ach Sabrina, kannst du mir dein Telefon geben? Ich habe meines leider verliehen?“

      In der Gaststätte ging sie sofort in Richtung Toilette. Rotberg bestellte im Hereinkommen am Tresen zwei Kaffee. Er setzte sich an einen Tisch und wählte die Mobilnummer des Polizeipräsidenten. Unter normalen Umständen hätte er zuerst in dessen Sekretariat angerufen – jetzt nahm er sich die Freiheit.

      Hans von Berghausen nahm nach dem fünften Klingeln ab. Rotberg sagte, er wolle nicht drängen. Er versuche nur die nächsten Schritte zu planen und möchte wissen, ob der Senator die Sache ebenso sähe wie sie. Der Polizeipräsident berichtete, dass der Innensenator sich gerade in einer Telefonkonferenz mit dem Bundesinnenminister und dem Bürgermeister abstimme. Er hätte das Gefühl, dass Senator Franke der Gedanke gefalle. Er sei optimistisch, dass die Sache laufen werde. Er würde sich melden, sobald er etwas wisse.

      In der Zwischenzeit hatte Sabrina Hamm am Tisch Platz genommen, die Kaffees standen vor Ihnen.

      „Ich will nicht herzlos erscheinen“, meinte Rotberg, „ich muss aber eine Kleinigkeit essen.“ Er gab der Bedienung ein Zeichen. Sie brachte die Speisekarte.

      Er las die Karte quer. „Knipp!“, sagte er, „das hält eine Weile vor.

      Sabrina Hamm schüttelte sich. Ihr war diese Grützwurst zuwider. Sie bestellte sich einen großen Salat mit Hühnchenfleisch.

      „Der Innensenator führt gerade ein Abstimmungsgespräch mit dem Bürgermeister und dem Bundesinnenminister“, sagte Rotberg.

      „Dann läuft die Sache?“, fragte sie.

      „Von Berghausen ist optimistisch.“ Rotberg machte eine Pause, er drehte die Kaffeetasse geistesabwesend zwischen den Fingern. „Wie geht’s dir?“

      „Na ja, es geht so.“

      Er druckste herum. „Sabrina, wenn es möglich ist, will ich dich bei dem Fall an meiner Seite haben.“

      Sie antwortete nicht – sie ahnte, was er sagen würde.

      „Das, was in den vergangenen sechsunddreißig Stunden passiert ist, übersteigt die Kräfte von uns allen.“

      „Du meinst, ich hätte nicht ausrasten sollen.“

      Rotberg sah sie an. „Natürlich darfst du mir alles sagen und deinen Zorn auf die Täter bei mir abladen. Wir sollten dann allerdings unbeobachtet sein.“

      Sabrina rührte wortlos im Kaffee.

      „Da draußen können überall Kameras und Mikrofone lauern. Eine Polizeibeamtin, die die Todesstrafe fordert, die ihre Emotionen scheinbar kaum im Griff hat, ist genau das Futter, auf das sie warten.“

      „Verstehe.“