Hans Günter Hess

Pit Summerby und die Magie des Pentagramms


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eigenes Handeln, schmiss er sich aufs Bett und begrub sein Gesicht im Kissen. Er wollte nichts mehr hören und sehen. Sein Groll versank im Nebel der hoch kommenden Müdigkeit. Schon nach wenigen Minuten schlief er tief und fest.

      Ein Geräusch riss ihn aus dem Schlaf. Es war am frühen Nachmittag. Seine Mutter kehrte gerade von der Arbeit zurück. Bleierne Schwere zog ihn nach unten, er fühlte sich wie von einer unsichtbaren Kraft auf sein Bett gepresst. Ein unvollendeter Traum lähmte seine Sinne und machte ihn unfähig, klar zu denken. Meli hatte ihm erneut eine Abfuhr erteilt. Warum? Nur mit größter Mühe schraubte er sich in die Senkrechte. Plötzlich begannen seine Gedanken, die so zwanghaft das Gehirn blockierten, wie von selbst weg zu fließen. Die aufkommende Klarheit in seinem Kopf gab ihm auch die Antwort auf das Warum. Eine scheinbare Antwort. Aber sie brachte ihm seine Gelassenheit zurück. Bekanntlich gehörte er wie auch die anderen der Clique zum Freundeskreis von Meli und das seit sie in Neuburgroda auf die Realschule gingen. Sicher, er empfand etwas für sie, was möglicherweise über eine normale Freundschaft hinausging. Sie, dem einzigen Mädchen in ihrer Runde, trat er schon immer anders entgegentreten als den Jungen. Er griff auf Tugenden zurück, die beispielsweise bei Fauli völlig fehlten. Zuvorkommenheit, Ritterlichkeit, Manieren, all diese Dinge, die ihm schon sein Opa beigebracht hatte. Aber das gehörte zum Anstand im Umgang mit Frauen. Er hegte bisher nie die Absicht, sie zu verletzen. Wo lag also der Haken?

      Natürlich lag es in seiner Absicht, sich beim Volleyball absichtlich abwerfen zu lassen, um ihr einen Triumph zu gönnen und glaubte, ihr damit zu schmeicheln. Jetzt sah er das anders. Mit dieser eigennützigen Geste hatte er seiner eigenen Mannschaft auf unfaire Weise einen Bärendienst erwiesen. Das ließ sich kaum übersehen. Damit handelte er unehrlich und egoistisch, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Statt ihr zu imponieren, verletzte er aufs gröblichste ihre Gefühle. Eine Freundschaft verkraftete solche Aktionen nur schwer, wenn überhaupt. Also war sie mit Recht auf ihn sauer. Er musste sich daher etwas einfallen lassen, um diesen Ausrutscher gerade zu biegen und sich erneut als ein würdiger Freund zu erweisen.

      Noch bevor er die Bude verließ, besaß sein Weltbild wieder klarere Konturen. In der Küche beklagte Jule wie so oft, lauthals sein abweisendes Verhalten. Seltsamerweise berührte ihn diesmal die obligatorische Standpauke seiner Mutter nur wenig.

      „Ist was mit dir?“,

      forschte sie, irritiert von seinem ungewöhnlichen Benehmen.

      „Ist schon ok, nur ein bisschen übertrieben“,

      konterte er, ließ die Beiden stehen und ging hinaus. Boldi kam ihm entgegen, er forderte die übliche Spielrunde ein. Den scheinbaren Kampf um einen Ball mochte er am liebsten. Knurrend hielt er ihn seinem Herrchen vor die Nase. Wenn ihn Pit erwischte, musste er ihn wegwerfen. Er jagte dann hinterher. Irgendwann ebbte auch dieser Spaß ab, und die müde Hundeseele gönnte sich in seiner Hütte eine Mütze Schlaf. Pit kontrollierte danach sorgfältig die Beete im Garten. Seine Oma konnte fürchterlich grantig werden, wenn der Hund bei der wilden Jagd ihre Anpflanzungen zerstörte. Den Garten pflegte sie nämlich mit großer Hingabe, und er präsentierte sich zu jeder Jahreszeit als eine Augenweide. Alle im Dorf wussten das. Gott sei Dank fand Pit nichts. Zufrieden setzte er sich auf die Gartenbank und schweifte nachdenklich mit den Augen über Omas Schmuckstück. Früher stand da eine Scheune. Die gab es nicht mehr. Seine Großmutter hatte oft genug von ihr erzählt. Vor Pits geistigem Auge entstand sie wieder. Er glaubte, jede Ecke des legendären Bauwerks zu kennen, so genau erinnerte er sich an das, was er sich aus ihren Schilderungen eingeprägt hatte. Sie gehörte einst zu dem Bauernhof, mit dem seine Urgroßeltern ihren Lebensunterhalt bestritten. Jetzt gab es nur noch ein Seitengebäude aus dieser Zeit. Darin richteten seine Großeltern in den sechziger Jahren eine kleine Wohnung ein, als der Platz im Wohnhaus knapp wurde. Anfangs lebte dort seine Tante Henriette, bevor sie nach Frankreich zu ihrem Mann zog. Außerdem baute sein Großvater den ehemaligen Kuhstall zu einer kleinen mechanischen Werkstatt um, und die existierte noch. Kurz vor Jules Geburt verstarb er. Um Platz für den Familienzuwachs zu schaffen, zog seine Oma in das kleine Domizil des Nebengebäudes. Auf den Einbau einer Zentralheizung hatte sie damals verzichtet, sie schwor auf ihren Kachelofen, der alle Räume mit einer wohligen Wärme versorgte. Nur das Bad bekam eine moderne Ausstattung mit Sitzbadewanne.

      Pit hielt sich gerne bei ihr auf. Ihre Wohnstube liebte er besonders, sie verströmte einen Hauch vergangener Gemütlichkeit, und das hatte nicht nur etwas mit der Einrichtung zu tun. Da gab es neben unzeitgemäßen Gegenständen wie einem alten Kanapee mit bestickten Deckchen, einer Nähmaschine zum Trampeln sowie einem fast antiquarischen Grammophon auch Gerüche, die das Flair ihrer Wohnung in besonderer Weise prägten, und es gab natürlich sie selbst. Alles gehörte zusammen, bildete eine harmonische Komposition. Aber zu den schönsten Stunden bei ihr zählten die Tage, wenn sie ihre Fitzkuchen buk oder eine der vielen Geschichten erzählte. Dann wünschte sich Pit, diese Momente mögen nie vergehen. Das Fenster der Wohnstube befand sich auf der Hofseite. Heute hatte sie es weit geöffnet. Auf der Fensterbank lag die Kuchenhorde aus Weidengeflecht. Die ersten Fitzkuchen oder Waffeln, wie man neuerdings dieses Backwerk nannte, verströmten einen herrlichen Duft. Pit schlich sich ans Fenster, um sich ein Stück dieser Köstlichkeiten zu stibitzen, doch seine Oma hatte ihn längst erspäht.

      „Willst du wohl deine Finger weglassen!“,

      drohte sie lachend. Pit erschrak und zog blitzartig seine Hand zurück.

      „Du kannst nachher zum Kaffee kommen, wenn sie abgekühlt sind. Sie schmecken dann auch viel besser, sind knuspriger.“

      Sie hatte ihn mit ihrer wohlwollenden Art beschämt. Er bekam stets seinen Anteil, musste nie was heimlich entwenden. Mit gesenktem Kopf ging er zu seinem Fahrrad und werkelte daran herum. Es quietschte etwas, das lag wohl am Ölen. So reagierte er meist, wenn ihn das schlechte Gewissen plagte. Diese Verdrängungstaktik machte ihn neuerdings mehr als früher zu schaffen. In Omas Stube wurde gelacht. Käthe, ihre Nachbarin und Freundin, hatte sich zum üblichen Kaffeeklatsch am Dienstagnachmittag eingestellt. Ein Ritual, das die alten Damen, seit Pit denken konnte, mit Hingabe pflegten. Sie erzählten und witzelten, manchmal tanzten sie auch nach den krächzenden Tönen alter Schallplatten oder sie kicherten wie kleine Schulmädchen. Diese Stimmung, die jetzt ungefiltert aus dem Fenster drang, dazu der Duft des Kaffeetisches, wirkte wie eine heilsame Kraft. Pit sog sie auf wie eine Droge, die allen Griesgram vertrieb. Gleich würde ihn seine Oma rufen, dann musste er sich sorgfältig die Hände waschen, Nachbarin Käthe begrüßen und noch einige andere allgemein unübliche Handlungen vollziehen. In solchen Dingen war sie sehr konsequent, und Pit folgte ihr gern. Als er in die Stube trat, fiel gerade der Name Alfons Meier.

      „Sicherlich haben sie wieder einmal über ihn und seine Geschichten gelacht.“,

      folgerte er. Besagter Mensch unterrichtete die alten Damen nämlich während ihrer Kindheit im Fach Heimatkunde und soll ein sehr kauziges Exemplar gewesen sein.

      Pit begann das vorgegebene Programm abzuarbeiten, dann stand er am gedeckten Kaffeetisch. Seine Oma hatte das beste Geschirr aufgelegt, den selbst gekochten Apfelgelee in einem Kristallschälchen serviert, daneben eine Schüssel mit geschlagener Sahne und dazu ein Krug frischer Kuhmilch gestellt. Als Krönung des Ganzen befanden sich in der Tischmitte auf einem größeren Teller die köstlichen Fitzkuchen. Pit begrüßte gerade artig die Nachbarin, als seine Oma mit dem eben gebrühten Kaffee erschien. Er stand noch, als sie das behaglich duftende Getränk einschenkte und auf jeden Teller einen der Leckerbissen legte. Danach setzte sie sich zu ihrer Freundin aufs Kanapee. Erst jetzt nahm Pit auf einem der beiden Stühle Platz, so wollten es Omas Tischregeln. „So, nun langt zu!“,

      lautete endlich das Stichwort, auf das er sehnsüchtig gewartet hatte. Er wollte sich gerade eine Portion Schlagsahne auf sein Gebäckstück klatschen, da bemerkte er noch rechtzeitig den tadelnden Blick.

      „Der Gast hat immer den Vortritt.“,

      korrigierte seine Oma im belehrenden Ton den vermeintlichen Fehlgriff und reichte Käthe die Schale. Selten widersprach Pit einer von Omas Bemerkungen. Doch diesmal irritierte ihn ihre Logik.

      „Ich bin doch auch dein Gast. Du hast mich ausdrücklich eingeladen, Oma. Was habe ich falsch gemacht?“,

      fragte er mit