Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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      Julia war mit ihrem Mann Phil auf einem Handwerkermarkt, wo sie Julias selbst hergestellte Deko-Objekte verkauften.

      Stella hatte mit den Kindern gespielt, für sie gekocht, Windeln gewechselt und Tränen getrocknet.

      Sie war nun einen Monat hier im Norden Neuseelands, ein Stück außerhalb des Dörfchens Paihia. Hier lebte ihre Schweizer Tante, die jüngste Schwester ihrer Mutter, seit ein paar Jahren mit ihrem neuseeländischen Mann Phil. Stella war hergekommen, um ihre Tante und ihre Familie zu unterstützen und um ihr Englisch zu verbessern. Phil war Englischlehrer und konnte ihr ganz nach ihren Bedürfnissen Privatunterricht geben. Julia, ihrerseits war froh über die professionelle Kinderbetreuung. Stella hatte ihre Ausbildung als Kinderbetreuerin in einer Kindertagesstätte vor einem halben Jahr abgeschlossen und kümmerte sich mit viel Liebe um ihre Cousins und Cousinen.

      Es hatte sie einigen Mut gekostet, alleine die lange Reise in das ihr völlig unbekannte Land am anderen Ende der Welt zu wagen. Zum Glück waren da ihre Tante Julia und die ganze Familie Harris, die sie herzlich willkommen geheißen und ihr das Einleben erleichtert hatten.

      Stella hatte einige schwierige Erfahrungen an ihrer ersten Arbeitsstelle hinter sich. Sie war deshalb froh, das alles weit hinter sich zu lassen. Aber sie vermisste ihre Familie in der Schweiz sehr. Sie hatte eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern und ihren vier jüngeren Schwestern. Speziell zu ihrem Vater hatte sie schon als kleines Mädchen eine ganz besondere und enge Verbindung gehabt. In ihrer Großfamilie waren immer alle für einander da gewesen.

      Nun war sie mit ihren 19 Jahren so etwas wie eine zweite Mutter für Leah, Chloe, Liam und Josh geworden. Die Kinder liebten Stella und Stella liebte sie.

      Als Julia nach einem erfolgreichen Verkaufstag gegen vier Uhr vom Markt zurückkam, fand sie, dass ihre Nichte ein bisschen Ruhe verdient hätte. «Etwa zehn Autominuten von hier gibt es einen Weg zu einem wunderschönen Strand, den du noch nicht kennst. Ich kann dich zum Parkplatz fahren, von da aus erreichst du den Strand in etwa einer halben Stunde. Es ist eine kleine Kletterpartie, aber dafür wirst du reich belohnt mit einem traumhaften Strand und türkisfarbenem Meer.»

      Der Vorschlag ihrer Tante war ganz in Stellas Sinn. Da Stella noch nicht Auto fahren konnte, chauffierte sie ihre Tante bis zum Parkplatz, wo bereits ein altes Auto stand.

      «Schade, da bin ich wohl doch nicht ganz alleine», stellte Stella ein wenig enttäuscht fest. Trotzdem machte sie sich auf den Weg über die Felsen.

      Sie hatte mit Julia vereinbart, dass sie sich per Smartphone melden würde, wenn sie abgeholt werden wollte. Stella hatte es bisher nicht für nötig gehalten, ihren geringen Lohn für Fahrstunden auszugeben. Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz waren ja ziemlich gut ausgebaut. Doch hier in Neuseeland war es anders. Hier war man auf ein Auto angewiesen, wenn man innerhalb einer gewissen Zeit an einem bestimmten Ort sein wollte.

      Stella kletterte über die Steine und Felsen und staunte einmal mehr über die üppige Vegetation am Wegrand. Nach einer Weile erblickte sie von Weitem eine Person, die ebenfalls auf dem Weg zum versteckten Strand zu sein schien. Dieser Person gehörte das alte Auto auf dem Parkplatz, vermutete Stella. Plötzlich verschwand der Mann oder die Frau, Stella konnte es aus der Ferne nicht erkennen, hinter einem großen Felsen. Als sie ihn kurze Zeit später erreicht hatte und darüber geklettert war, erschrak sie sehr: Sie sah einen jungen Mann, der reglos am Boden lag.

      Mit schlotternden Knien rannte sie zu ihm, berührte ihn am Arm und sprach ihn in ihrem besten Englisch an. Tatsächlich reagierte der junge Mann, öffnete die Augen und hielt sich die Hand stöhnend an den Hinterkopf. Er hatte eine Platzwunde.

      «Geht es dir gut? Du hast eine Wunde am Kopf, es blutet ziemlich stark!»

      Ben lächelte trotz seiner Verletzung und antwortete auf Schweizerdeutsch: «Ich glaube es nicht! Ich bin kaum einen Tag in Neuseeland und schon treffe ich eine Schweizerin. Aber die Art des Kennenlernens ist mir etwas peinlich!»

      Stella war verdattert. War ihr Englisch so mies, dass man bereits nach einem Satz hörte, woher sie kam? «Ähm, du kommst also auch aus der Schweiz», stotterte Stella. So viel war nun wohl klar. «Ich muss wohl mein Englisch noch etwas verbessern.»

      Ben hatte überhaupt nicht im Sinn gehabt, das Mädchen irgendwie zu beleidigen. «Nein, nein, dein Englisch ist super, aber ich konnte einen sympathischen helvetischen Akzent heraushören.»

      Stella musste lachen. «Und du sprichst perfekt Englisch?»

      «Perfekt? Nein! Aber ich war während meiner Zeit am Gymnasium zu einem halbjährigen Austauschaufenthalt in England. Mein Englisch ist deshalb very, very british, ich hoffe, ich falle hier nicht allzu sehr damit auf.»

      Stella musste lachen. Der Junge war ihr sympathisch. Er schien witzig zu sein und er sah ziemlich gut aus. Er hatte mandelförmige dunkelbraune Augen, stark ausgeprägte dunkle Augenbrauen und sein lockiges, wildes Haar hatte genau dieselbe Farbe. Er schien eine Weile nicht mehr beim Frisör gewesen zu sein, doch das etwas längere Haar stand ihm gut. Er war nicht besonders groß, aber muskulös.

      Stella wollte ihn eigentlich nicht anstarren und fragte schnell:

      «Kann ich dir irgendwie aus deiner misslichen Situation helfen?» Ben verdrehte die Augen. «Höre ich da einen sarkastischen Unterton heraus? Eigentlich müsste es umgekehrt sein: Prinz rettet Prinzessin, oder?»

      Stella lachte: «Ja, lieber Prinz, die Zeiten scheinen sich geändert zu haben!»

      Ben versuchte sich aufzurappeln. Sein Kopf schmerzte ziemlich, doch er wollte sich möglichst nichts anmerken lassen.

      Stella öffnete ihren Rucksack. Zum Glück hatte sie darin noch etwas Verbandsmaterial, weil sie es für die Kinder ihrer Tante schon öfter gebraucht hatte. «Ich werde dich erst einmal verarzten. Meinst du, du schaffst es danach zurück zum Parkplatz?» Sie begann die Wunde zu säubern.

      Ben spielte den Helden und ließ sich nicht anmerken, wie sehr es brannte. «Zum Glück sind meine Füße noch in Ordnung, den Kopf brauche ich ja nicht zum Gehen», scherzte er.

      Stella lächelte. Sie legte Ben so gut es ging einen Verband an, das war gar nicht so einfach mit den lockigen Haaren.

      Ben versuchte inzwischen, sich das fremde Mädchen, das sich an seinem Kopf zu schaffen machte, etwas genauer anzusehen. Ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar reichte ihr bis auf den Rücken und glänzte im Sonnenlicht. Sie hatte ein hübsches ovales Gesicht mit einer süßen Stupsnase und stahlblaue Augen. Sie gefiel ihm sehr gut. «Wie heißt du eigentlich, Krankenschwester?»

      Sie hielt einen Moment inne und wandte sich ihm zu. «Stella und du?»

      «Ich bin Ben.»

      Stella schaute ihn erstaunt an: «Ben? Das klingt irgendwie nicht schweizerisch.»

      Ben erwiderte: «Eigentlich heiße ich Benjamin.» Er winkte verächtlich mit der Hand ab. «Aber ich hasse diesen Namen, sag ja nie Benjamin zu mir, okay?»

      Stella grinste. «Alles klar, Ben, kann ich irgendwie verstehen!»

      Der Verband hielt nun einigermaßen und Ben versuchte aufzustehen. Sein Schädel hämmerte, aber er wollte vor Stella nicht als Schwächling dastehen. Er schaffte es, sich aufzurichten und trotz des Schwindels, der ihn überkam, einige Schritte zu machen.

      Stella hatte ihr Smartphone aus dem Rucksack geklaubt. «Ich kann meine Tante anrufen, dann kommt sie uns holen. Du solltest heute wohl nicht mehr selber Auto fahren. Wo musst du überhaupt hin?»

      «Wenn ich das wüsste», antwortete Ben. Er erzählte ihr kurz, dass er noch keine konkreten Pläne hatte.

      Stella überlegte einen Moment. Sollte sie ihn auf den Campingplatz von Julia und ihrem Mann Phil einladen? Phil hatte ein riesiges Grundstück am Meer geerbt, auf dem unter anderem das Haus stand, in dem sie wohnten. Sie waren mit verschiedenen Projekten beschäftigt, die sie auf dem Landstück umsetzen wollten. Das eine war ein Campingplatz. Eine Cabin, ein kleines, gemütliches Holzhäuschen, war bereits fertiggestellt. Die Idee, einen fremden Jungen einzuladen,