Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


Скачать книгу

Fragen. Er hatte sich noch nie jemandem so anvertraut, aber er merkte, dass es guttat. Er erzählte ihr sogar, wie sehr er vom Glauben enttäuscht war und dass er ziemlich sicher nie mehr eine Kirche betreten würde.

      Stella schaute ihn traurig an. «Das tut mir leid. Menschen können so verletzen. Wenn sie dann auch noch Christen sind, schmerzt es noch viel mehr. Von Christen erwarten wir einfach mehr, ist es nicht so?» Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ja, Menschen enttäuschen uns, aber Gott ist anders!»

      Ben schwieg. Sie war also anscheinend auch Christin.

      Stella musste zwischendurch immer wieder nach den Kindern sehen, einen Streit schlichten oder ihnen etwas zu trinken einschenken. Sie machte dies mit einer Ruhe und Freundlichkeit, die ihn faszinierten.

      «Und du bist Erzieherin?», fragte er sie mehr zum Scherz.

      «Genau!», schmunzelte sie. «Ich habe meine Ausbildung in einer Kindertagesstätte im letzten Sommer, also im Schweizer Sommer, abgeschlossen.»

      Sie senkte ihren Blick und schwieg einen Moment. Dann schaute sie Ben traurig an.

      «Was ist passiert?», fragte er.

      «Ich konnte meine Ausbildung dort als Einzige ohne ein vorheriges Praktikum beginnen, was zwar erlaubt, aber in diesem Beruf unüblich ist. Na ja, die Chefin fand einfach, dass ich sehr geeignet für den Beruf bin. Meine Kolleginnen waren aber immer eifersüchtig und haben mich das spüren lassen. Ich war deswegen natürlich auch die Jüngste, sie nannten mich das Baby. Als ich dann von meiner Chefin als frisch Ausgebildete die Gelegenheit bekam, als Gruppenleiterin zu arbeiten, wurde ich von meinen Mitarbeiterinnen gemobbt. Es war so schlimm, dass ich am Ende des Herbstes kündigen musste, ich hielt es einfach nicht mehr aus!»

      Ben war schockiert und wütend gleichzeitig. Er warf Stella einen ermutigenden Blick zu, damit sie weitererzählte.

      «Da fragte mich Julia an, ob ich ihr hier mit den Kindern und dem Haushalt unter die Arme greifen könnte. Ich könnte gleichzeitig Englisch dabei lernen. Sie konnte so eine gute Arbeitsstelle bekommen, bei der sie jeden Morgen in einer Klinik arbeitet. Es ist in ihrem Beruf keine Selbstverständlichkeit, regelmäßig arbeiten zu können, deshalb war sie froh, diese Tätigkeit annehmen zu können, natürlich auch aus finanzieller Sicht. Tja, und jetzt bin ich hier.»

      Stella schaute auf die Uhr und erschrak. Es war fast Mittag und sie sollte doch das Mittagessen für alle zubereiten. Ben half ihr und gemeinsam schafften sie es, etwas Leckeres auf den Tisch zu zaubern, bis Julia, Phil und Taonga eintrafen.

      Beim Essen sprachen sie darüber, dass sie dringend Mitarbeiter bräuchten, aber das Geld fehlte, um sie zu bezahlen.

      «Wir brauchen Hilfe, sonst schaffen wir das nicht. Solange wir den Campingplatz nicht eröffnen können, haben wir keine Einnahmen. Und die benötigen wir dringend», klagte Phil.

      Er arbeitete von Montag bis Mittwoch als Englischlehrer an einer höheren Schule und auch Taonga hatte verschiedene zusätzliche Jobs, um das Einkommen etwas zu verbessern, doch es kam einfach zu wenig zusammen.

      Phil schaute ernst drein und sogar Taonga fehlte heute das Lachen. «Wir sind mit allen Projekten im Rückstand. Die Surfschule ist nicht so weit wie geplant. Dein Laden, Julia, ist noch eine Baustelle. Unsere kleine Kirche, die auf unserem Land steht, hätte dringend eine Renovierung nötig. Es sind einfach zu viele Projekte auf einmal und wir sind alle etwas chaotisch veranlagt, wir bräuchten jemanden, der das Ganze planen und leiten könnte.»

      Ben hörte gespannt zu. «Was sind das für Projekte, die ihr da plant und wie kam es dazu?»

      Phil begann Ben alles genau zu erklären. Er erzählte von dem großen Landstück, das er geerbt hatte, und die Ideen, die sie dafür hatten. «Dieses Stück Land hat mein Großvater vor über 75 Jahren von Maori erworben. Er baute dieses Haus, wir haben es kürzlich renoviert und angebaut. Mein Großvater war Pastor, er baute auch die kleine Kirche da drüben, die dringend saniert werden müsste.»

      Phil schöpfte sich noch einmal eine große Portion. Er lächelte Julia an und fuhr fort: «Meine Frau Julia ist sehr künstlerisch begabt und fertigt aus Naturmaterialien, die sie in der Umgebung findet, wunderschöne Deko Objekte an, die sehr beliebt sind. Wir sind dabei, ihr einen kleinen Laden zu bauen, in dem sie dann die Sachen verkaufen kann.»

      Julia schüttelte den Kopf und klagte: «Meine Sachen stapeln sich überall, ich habe die Übersicht verloren.»

      Phil nickte. «Dann ist da noch unser größtes Projekt, der Campingplatz. Das Campen ist in Neuseeland sehr beliebt. Einerseits bei den Neuseeländern, denn die meisten können sich keine Ferien außerhalb des Landes leisten, weil man, wohin man auch will, sehr lange fliegen muss. Aber auch die vielen ausländischen Touristen übernachten gerne auf Campingplätzen.»

      Nun strahlte Taonga übers ganze Gesicht, sodass seine weißen Zähne aufblitzten. «Ich bin unter anderem auch Surflehrer und da zu diesem Landstück ein Stück Strand gehört, würden wir gerne eine Surfschule aufbauen.»

      «Taonga ist außerdem Pastor, am Sonntag predigt er in der alten Kirche, es kommen jeweils etwa 50 Leute. Viele dieser Menschen unterstützen uns, wo sie können, jeder macht das, was er gut kann», erklärte Julia weiter.

      Phil nickte. «Aber es läuft alles ein bisschen chaotisch, wir Neuseeländer sind sehr spontan und nicht so organisiert wie ihr Schweizer.» Stella hatte nicht alles verstanden, aber das Wichtigste schon und nun schaute sie Ben mit großen, fragenden Augen an. Diese Augen!

      Bens Herz schlug Purzelbäume.

      Sie war irgendwie so naiv, zum Verlieben naiv, sie schien überhaupt nicht zu ahnen, was sie in ihm auslöste.

      «Nun?» Stella lächelte Ben an.

      «Äh, was meinst du?»

      Stella lachte: «Du bist doch handwerklich begabt und suchst in Neuseeland einen Job, nicht wahr? Zudem hast du die Matura gemacht, da wirst du doch wohl auch ein bisschen gelernt haben, wie man Projekte plant und wie man zu Finanzen kommt und so weiter. Oder für was hast du so lange die Schulbank gedrückt?» Sie grinste.

      «Na ja», meinte er.

      Sie zwinkerte mit den Augen und rief laut in die Runde: «Das ist doch der Mann, auf den ihr gewartet habt, oder etwa nicht?»

      Ben war so erstaunt, dass er vergaß, den Bissen, den er gerade im Mund hatte, weiter zu kauen. Er schaute entgeistert drein und stotterte: «Äh, mir kommen da schon ein paar Ideen.»

      Die vier schauten ihn erwartungsvoll an. Ben erzählte, was ihm durch den Kopf gegangen war, als sie von ihren Projekten erzählt hatten. Phil und auch Julia und Taonga waren begeistert.

      «Übernimmst du den Job?», fragte Phil. «Ehrlich gesagt, können wir dir nur ein Taschengeld bezahlen. Aber du könntest hier wohnen und essen und alles mitbenutzen, was du benötigst. Vom Surfbrett über Werkzeug bis zum Auto. Was denkst du?»

      Ben hatte immer noch den Bissen im Mund. Er kaute und schluckte, dann räusperte er sich. Acht Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Er schaute in die stahlblauen Augen von Stella und wusste nicht, was es noch zu überlegen gab. Wo bekäme er noch einmal ein solches Angebot? Er könnte hier helfen, etwas Geniales aufzubauen. Seine Ideen, seine Planung und Organisation wären gefragt. Und der im Moment für ihn aufregendste Gedanke an der Sache war, dass er sich nicht von Stella verabschieden müsste und sie besser kennenlernen könnte. Geld war ihm nicht so wichtig.

      «Tja, ich könnte es zumindest einmal versuchen.»

      Phil sprang von seinem Stuhl auf, rannte um den Tisch und umarmte Ben. Dieser wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah.

      «Lass ihn, Phil, der arme Kerl ist erst seit vorgestern in Neuseeland und weiß noch nicht, wie verrückt ihr alle seid!» Julia schaute den verdutzten Ben mitleidig an. «Eines wirst du schnell lernen, Ben, die Neuseeländer sind ziemlich verrückt, mein Mann ist da keine Ausnahme. Aber er freut sich wirklich sehr, dass du uns unterstützen möchtest. Wir alle freuen uns sehr!»

      Ben musste