Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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Grace! Du hast ein gutes Auge für schöne Bilder. Du könntest sicher etwas aus deiner ... äh ...», sie suchte nach dem englischen Wort. «Begabung! Du könntest etwas aus dieser Begabung machen.»

      Grace lächelte. «Meinst du wirklich?»

      Marcos Mutter nickte. «Du könntest zum Beispiel einen Kalender gestalten, den könntest du ganz bestimmt verkaufen. Also, ich würde dir auf jeden Fall die ersten Exemplare abkaufen und damit in der Schweiz meine Bekannten beschenken.»

      Grace dachte darüber nach und spürte, wie diese Idee sie begeisterte. Sie wollte später mit Marco darüber sprechen. Dieser kam gerade aus dem Wasser, übergab die Kleine seiner Mutter und trocknete sich ab.

      Grace sah ihren Mann kopfschüttelnd an. Der Lake Tekapo wurde auch im heißesten Monat Juli nie mehr als zwölf Grad warm. «Ist der See nicht extrem kalt?»

      Marco lachte. «Na ja, er ist sogar für mich Bergler an der Schmerzgrenze! Aber ich weiß, dass das Wasser bei dir mindestens 25 Grad warm sein muss, damit du nicht frierst.» Er grinste frech.

      «Ich bin eben eine Prinzessin», entgegnete sie und hob stolz den Kopf.

      «Und ich bin dein Frosch», lachte Marco und quakte so laut, dass die kleine Emily zu weinen begann. Er drückte sie sanft an sich und beruhigte sie wieder.

      Sie nahmen ihr Picknick aus der mitgebrachten Kühltasche und breiteten alle Köstlichkeiten auf der Decke aus. Sie genossen ihren Imbiss im Schatten der Bäume mit der grandiosen Aussicht auf den tiefblauen See und die Berge im Hintergrund.

      «Deine Mutter meinte, ich könnte mit einigen meiner Fotos einen Kalender oder etwas in der Art gestalten und uns damit vielleicht eine kleine Aufbesserung für unseren Geldbeutel verdienen.»

      Marco nickte und schluckte einen großen Bissen von seinem Sandwich hinunter. «Das ist eine gute Idee, mach das», sagte er mit halbvollem Mund.

      «Meinst du wirklich?»

      «Klar, du könntest es einfach versuchen.»

      Grace überlegte und strahlte. «Ich könnte meine Waren Mom für den Wochenmarkt mitgeben, da kommen auch immer wieder Touristen vorbei, die sich vielleicht für so etwas interessieren.»

      Liz verkaufte an ihrem Marktstand Produkte aus Wolle und Schaffell sowie Körperpflegemittel aus Lanolin, alles selbst hergestellt.

      Marco fand den Gedanken sehr gut. «Das ist eine tolle Idee, das musst du unbedingt machen, Grace. Die Leute werden sich um deine Fotos reißen!»

      Voller Elan griff Grace nach dem Fotoapparat und machte einige Aufnahmen vom See. Dann schwenkte sie die Kamera in die entgegengesetzte Richtung und schoss witzige Schnappschüsse von Maria, Marco und Emily: Marco, wie er gerade in sein drittes Sandwich biss und ihm ein Teil des Inhalts auf seine Shorts flutschte. Maria, die sich bei diesem Anblick fast kringelte vor Lachen, und Emily, die auf der Picknickdecke lag und angestrengt versuchte, Papas Fuß zu erreichen, um mit ihren ersten Zähnchen hinein zu beißen.

      Grace hatte richtig Spaß dabei und es gelangen ihr viele tolle Aufnahmen. «Ich werde es versuchen!», rief sie und schwenkte ihre Kamera in der Luft.

      Marco hatte seinen Mund dermaßen voll, dass er nur den Daumen hochhalten konnte zur Bestätigung.

      «Danke für deinen Tipp und für die Ermutigung», sagte sie zu ihrer Schwiegermutter, «ich werde es auf jeden Fall wagen.»

      Maria lächelte, sie war froh, ihrer liebenswerten neuseeländischen Schwiegertochter einen guten Rat gegeben zu haben.

      «Ach, nun ist schon die Hälfte meines Aufenthaltes hier bei euch vorüber», klagte sie in Schweizerdeutsch zu Marco gewandt. «Es ist so schön, mit euch zusammen zu sein, ich vermisse euch zu Hause immer so sehr!»

      Marco, der endlich mit dem Essen fertig war, erwiderte sofort:

      «Wieso ziehst du nicht hierher, Mama?»

      Er schaute zu Grace und übersetzte kurz den Wortwechsel.

      Sie nickte heftig und wandte sich an Maria: «Ja, wieso nicht? Wir hätten genug Platz auf der Farm, zu tun gibt’s auch immer etwas, falls du das möchtest. Du könntest Emily beim Aufwachsen zusehen.»

      «Ja, Mama, du wärst herzlich willkommen, überleg es dir doch. Seit dem Tod von Papa bist du viel alleine, nicht wahr?»

      Marcos Vater war vor zehn Jahren an Krebs gestorben und Maria hatte lange damit zu kämpfen gehabt. Sie wohnte in einem kleinen Bergdorf, wo sie zwar einige gute Freundschaften pflegte, doch alle hatten ihre eigenen Familien und die meisten waren Landwirte und immer sehr beschäftigt. Seit ihr einziger Sohn nach Neuseeland gezogen war, machte ihr die Einsamkeit oft zu schaffen.

      Sie schaute die beiden nachdenklich an. Dann sagte sie wieder auf Englisch, damit Grace es verstehen konnte: «Ich habe in den letzten Tagen tatsächlich daran gedacht. Aber Neuseeland ist so weit weg. Ich bin nicht mehr die Jüngste, ich weiß nicht, ob ich so einen großen Schritt schaffe.» Sie hatte Tränen in den Augen.

      «Das kann ich sehr gut verstehen», erwiderte Grace, «ich bin noch jung, aber ich könnte niemals aus meiner Heimat wegziehen. Ich würde das nicht schaffen! Zum Glück war Marco bereit, nach Neuseeland zu ziehen.»

      Marco lächelte. «Überleg es dir, Mama, du bist herzlich willkommen! Wir würden uns sehr freuen, aber wir verstehen auch, wenn du lieber in der Schweiz bleibst.»

      Sie schwiegen und schauten eine Weile gedankenverloren über den See, dessen Oberfläche sich vom aufkommenden Wind kräuselte. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über einen der Bergkämme, danach wurde es rasch kühler.

      Sie packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zurück zur Church of the Good Shepherd, wo sie ihr Auto geparkt hatten. Grace setzte sich hinters Steuerrad und fuhr die kleine Familie zielsicher in Richtung der elterlichen Farm zurück. Man merkte, dass sie diese Straße in und auswendig kannte.

      Diese Region Neuseelands war sehr dünn besiedelt und jeder, der hier lebte, war auf ein Auto angewiesen. Die Strecken waren lang und der öffentliche Verkehr ließ sich mit dem in der Schweiz überhaupt nicht vergleichen. Diese Tatsache hatte Marco anfangs etwas Mühe bereitet. Er liebte die Natur und wollte sie schonen, deshalb hatte er in seiner Heimat bewusst auf ein eigenes Auto verzichtet. Doch das war hier kaum möglich.

      Unterdessen war es dunkel geworden. Plötzlich verlangsamte Grace das Tempo und fuhr an den Straßenrand. «Du musst dir diesen Sternenhimmel anschauen, Maria.»

      Sie stiegen aus, Emily, die in ihrem Kindersitz eingeschlafen war, ließen sie im Auto. Grace hatte auf einer kleinen Anhöhe angehalten, von wo sie einen Blick aus der schwarzen Ebene in den dunklen Sternenhimmel hatten.

      Maria staunte. Sie war in den Bergen aufgewachsen und kannte schöne Sternenhimmel, aber was sie hier sah, stellte alles in den Schatten. Es war stockdunkel und keine menschliche Lichter störten die Sicht ins All, weder Lichter aus Dörfern, noch von Straßenlaternen. Es zeigte sich ein tiefschwarzer Himmel, an dem unzählige Sterne funkelten. Die Milchstraße zog sich wie ein helles Band über den dunklen Hintergrund.

      «Unglaublich!», rief Maria und flüsterte dann ehrfürchtig: «Der Himmel verkündet es: Gott ist groß! Das Heer der Sterne bezeugt seine Schöpfermacht.»

      Grace kuschelte sich näher an Marco und fragte: «Was hat deine Mom gesagt?»

      «Das ist ein Vers aus der Bibel.» Maria erklärte: «Psalm 19,2.»

      Marco übersetzte den Vers sinngemäß.

      Da lachte Maria und fügte hinzu: «David muss hier gestanden haben, als er diesen Psalm schrieb. Was für ein gewaltiger Gott!»

      Maria hatte eine tiefe persönliche Beziehung zu Gott. In der schwierigen Zeit nach dem Tod ihres Mannes war er ihr einziger Halt gewesen. Marco hatte im Gegensatz zu seiner Mutter seit dem Tod des Vaters große Mühe mit dem Glauben an einen guten Gott.

      «Ein Gott, der Milliarden von Sternen an den Himmel