Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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Visa darf ich nicht arbeiten und ein Working Visa konnte ich ohne einen Job in Neuseeland nicht beantragen. Ein Working Holiday Visa habe ich auch nicht bekommen, da die Schweiz nicht in der EU ist und kein entsprechendes Abkommen mit Neuseeland hat.»

      «Ja, das ist alles etwas kompliziert, aber ich werde mich darum kümmern», entgegnete Phil fröhlich.

      Nach dem Essen stellte sich Stella zur Verfügung, die Küche wieder auf Vordermann zu bringen, und Ben meldete sich freiwillig, um sie dabei zu unterstützen. Die Männer waren bereits wieder draußen bei der Arbeit. Julia war mit den Kindern ebenfalls dort, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das mit der Küche für die beiden wirklich okay war.

      Stella drehte sich abrupt vom Waschbecken um und spritzte Ben dabei mit der nassen Bürste mitten ins Gesicht. «Sorry!» Lachend reichte sie ihm das Geschirrtuch, damit er sich abtrocknen konnte.

      «Ich bin manchmal etwas ungeschickt. Geht’s?» Ben schmunzelte. Sie war so süß.

      «Weißt du, ich finde es echt toll, dass du hierbleibst. Ich glaube, du wirst eine gute Unterstützung sein in diesen Projekten. Du bist nicht nur handwerklich geschickt, sondern auch sehr clever.»

      Woher wollte sie das wissen? Sie kannte ihn erst seit gestern. «Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht. Du kennst mich doch kaum.»

      Stella lächelte ihr bezauberndes Lächeln, sodass es in Bens Magengrube kribbelte. «Weißt du, ich bin nicht gerade sehr klug, aber ich habe ziemlich gute Menschenkenntnisse. Du bist genau der Richtige für diesen Job.»

      Ben krauste die Stirn. «Nicht klug, wie um Himmels Willen kommst du darauf ?»

      Stellas Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. «Das hat man mir oft genug in der Schule gesagt. Ich bin einfach anders. Ich lerne anders als die meisten. Ich war nie sehr gut in der Schule, ich hätte wohl eine kreativere Form des Lernens benötigt.»

      Stella hatte die Pfannen fertig abgewaschen und wandte sich Ben ganz zu. «Ich kann einige Dinge ziemlich gut. Ich bin musikalisch, kann gut zeichnen und ich schneidere meine Kleidung selbst. Aber damit kommt man in der Schule nicht sehr weit.»

      Ben schaute sich ihr Kleid nochmal genauer an. «Darf ich?», fragte er und nahm den Stoff des weiten Kleides ohne eine Antwort abzuwarten in die Hand. «Du hast das selbst genäht?», fragte er ungläubig. Er hatte gestern gedacht, dass er solche Kleider noch nie gesehen hatte, kein Wunder, wenn Stella sie selbst entwarf.

      «Ich mag keine Kleider von der Stange, darum schneidere ich mir fast alles selbst, so wie es mir gefällt.»

      Ben war fasziniert. Die Kleider hätten ihm normalerweise nicht so sehr gefallen, aber sie passten perfekt zu Stella und machten sie zu etwas ganz Besonderem. «Wunderschön ... äh, das Kleid!» Eigentlich fand er nicht nur das Kleid toll.

      Stella lächelte erfreut. «Ich wurde immer ausgelacht wegen meiner Kleider. In der Schule trugen die Mädchen eine Zeit lang nur schwarze Klamotten. Ich fühlte mich jeden Tag wie auf einer Beerdigung.»

      Ben musste lachen.

      «Ich mag es bunt und verstehe nicht, warum ich mich wie alle anderen kleiden soll, nur um dazuzugehören.»

      Ben staunte über diesen Mut. Er musste sich eingestehen, dass er oft Dinge getragen hatte, die ihm gar nicht speziell gefielen, die aber gerade in gewesen waren.

      Ben druckste zuerst ein wenig herum, aber dann sagte er: «Du bist klug, sehr klug, sogar.»

      Stella errötete und sah ihn fragend an.

      «In der Schule gut zu sein heißt noch lange nicht, dass jemand besonders intelligent ist. Vieles ist einfach auswendig gelerntes, an Prüfungen abrufbares Wissen. All dieses Gelernte wird ganz schnell wieder vergessen, was bringt es dir dann? Für mich ist jemand wirklich klug, wenn er sich selber eine Meinung bilden kann und gute Entscheidungen fällt, zu denen er durch eigene Überlegungen gekommen ist. So wie du.»

      Stella errötete noch mehr. «Meinst du wirklich?» Ben lächelte sie an. «Aber ganz sicher.»

      Stella wollte Ben gerne glauben, aber irgendwie gelang es ihr nicht so richtig, sie fühlte sich nicht wirklich klug.

      Um das Thema zu wechseln, fragte sie Ben nach seinem Gepäck. Julia hatte ihnen beim Gehen gesagt, sie könnten am Nachmittag für Ben die fertiggestellte Cabin einrichten, sodass er da wohnen konnte.

      «In deinem Auto habe ich gestern Abend nur das eine Gepäckstück gefunden. Ist das alles, was du dabei hast?»

      Ben nickte. Sie hatte also seine schwere Reisetasche ins Gästezimmer geschleppt. «Ja, das ist alles. Ein paar Klamotten und was man sonst noch so dringend braucht. Ich dachte, alles andere kann man sich hier kaufen, wenn man es benötigt.»

      «Klar», erwiderte Stella. «Dann zeige ich dir also dein neues Zuhause.»

      Sie führte ihn durch den zukünftigen Campingplatz. Phil und Taonga winkten den beiden fröhlich zu. Sie waren gerade dabei, das Fundament für die zweite Cabin zu betonieren. Der Campingplatz glich im Moment eher einer Baustelle als einem gemütlichen Ort zum Urlaubmachen. Es waren überall Arbeiten begonnen, aber nichts war richtig zu Ende gebracht worden.

      Außer eben die eine Cabin, in der Ben ab heute wohnen würde. Es war eine einfache Holzhütte mit einer kleinen Veranda, über die man ins Innere trat. Drinnen gab es eine Kochnische und ein kleines Bad mit Toilette und Dusche.

      Es waren jedoch noch keine Möbel vorhanden. Stella stemmte die Arme in die Hüften und sah sich um. «Du brauchst ein Bett, einen Tisch und Stühle. Brauchst du auch Küchenutensilien? Essen kannst du ja eigentlich mit uns.»

      Ben schüttelte den Kopf.

      «Aber du meine Güte, ich muss dir unbedingt Vorhänge nähen, das gibt dem Raum etwas Farbe.» Sie zählte einige weitere Dinge auf, die er ganz dringend benötigen würde, und er schaute entzückt zu, wie sie sich voll ins Zeug legte.

      Ihm wäre es völlig egal gewesen, ohne Vorhänge zu leben, er brauchte auch die anderen Dinge nicht wirklich. Er war ein Mann. Aber er fand es süß, wie Stella sich um Dinge Gedanken machte, die ihm schlicht und einfach nie in den Sinn gekommen wären.

      «Welche Farbe magst du? Ich meine, für die Vorhänge.»

      Ben war sich nicht sicher, besser gesagt, es war ihm egal. «Oh, ich habe keine Ahnung, aber mir gefällt ganz sicher alles, was du dir ausdenkst.»

      Stella schüttelte den Kopf, «Du weißt nicht, was für eine Farbe dir gefällt? Ich würde lindgrün nehmen, das passt gut zum Holz und macht den Raum freundlich.»

      Ben hatte noch nie von lindgrün gehört, aber er beschloss, dass dies von heute an seine Lieblingsfarbe sein würde. Sie hätte ihm auch rosa Gardinen mit grünen Streifen vorschlagen können und es hätte ihm gefallen.

      Als sie so in der kleinen Hütte herumwirbelte, voll in ihrem Element, wurde er von starken und verwirrenden Gefühlen überwältigt. Er wollte sie am liebsten in die Arme nehmen und an sich drücken. Er hätte auch gar nichts dagegen gehabt, sie zu küssen! Er hatte sich bis über beide Ohren in dieses Mädchen verliebt.

      Diese Gefühle waren ungebeten gekommen, und er versuchte sie wegzuschieben. Er hatte Angst davor, wieder verletzt zu werden. Zudem war sie auch Christin und er wollte eigentlich nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben.

      «Hallo!» Stella stand plötzlich ganz dicht vor ihm und fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. «Träumst du?» Sie lachte. «Ich habe dich schon drei Mal gefragt, ob wir zusammen die fehlenden Sachen einkaufen wollen. Du kannst Auto fahren, oder? Und ich weiß, wo die Läden sind.»

      «Äh, ja, klar, sehr gerne, ich habe keinen Schimmer, was man für einen kleinen Haushalt benötigt.»

      Stella strahlte übers ganze Gesicht.

      Es stellte sich heraus, dass Julia sowieso zu einem Einkaufszentrum in die nächstgrößere Stadt fahren wollte. Sie nahm Stella und Ben in ihrem Familienauto