Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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       Kapitel 2 : Ich vermisse dich! .

      Der Wecker schrillte, nur langsam erwachte Grace aus dem Tiefschlaf. Sie stöhnte und vergewisserte sich schlaftrunken, ob es tatsächlich schon Morgen war. Fünf Uhr, eine Unzeit zum Aufstehen, dachte sie.

      Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und schlich zum Babybettchen hinüber. Emily schlief friedlich, nichts deutete darauf hin, dass sie ihre Mutter die halbe Nacht mit ihrem Geschrei auf Trab gehalten hatte. Zärtlich strich Grace ihrer kleinen Tochter über die rundlichen Bäckchen und schüttelte den Kopf. «Du süßes kleines Monster, wenn du nur die ganze Nacht so brav schlafen würdest.»

      Müde gähnte sie und streckte sich. Dann zog sie sich an und schlurfte in die Wohnküche, wo ihre Eltern Liz und Mahora bereits beim Frühstück waren.

      «Hat sie dich wieder wachgehalten?», fragte ihr Vater und grinste so breit über sein rundes, dunkelhäutiges Maori-Gesicht, dass seine weißen Zähne aufblitzten.

      Grace nickte nur müde.

      «Du warst genauso in diesem Alter, du wolltest nachts einfach nicht schlafen.» Liz sah ihre Tochter mitleidig an. «Ich schaue nachher nach der Kleinen. Du kannst dich dann am Mittag noch ein bisschen hinlegen nach der Arbeit.»

      Grace nickte dankbar. Es hatte Vorteile, dass sie im Elternhaus wohnte, auch wenn sie es sich manchmal anders wünschte. Immerhin bewohnte sie mit ihrem Mann Marco und dem Baby eine eigene kleine Wohnung. Aber sie lebten doch unter demselben Dach mit ihren Eltern, was manchmal zu Konflikten führte.

      Aber wenn sie am Mittag müde von der Arbeit auf der elterlichen Schaffarm zurück ins Haus kam, wartete immer ein kräftiges, nahrhaftes Mittagessen auf sie. Ihre Mutter war bestimmt die beste Köchin Neuseelands. Und Liz würde sich nach dem Essen weiter um Emily kümmern, damit Grace sich noch ein Stündchen hinlegen konnte. Liz hatte Rückenprobleme und wurde deshalb möglichst von der körperlich sehr anstrengenden Arbeit auf der Farm herausgehalten.

      Grace schnappte sich noch ein Stück Toast und schlürfte den schwarzen Kaffee. Ihr Vater zog sich bereits den breitkrempigen Hut ins Gesicht und schlüpfte in die Gummistiefel.

      «Ein Wetter ist das wieder!», schimpfte er. «Wir haben Ende Januar, Hochsommer, aber es regnet bei knapp acht Grad! Zieh dich bloß warm an, Grace!»

      Sie verdrehte die Augen. Es war wirklich unwirtlich draußen, die ganze Woche schon. Aber das kam einfach vor auf der neuseeländischen Südinsel. Das konnte sich auch schnell wieder ändern.

      Etwas später verrichtete sie, wasserdicht und warm verpackt, ihre Arbeit im Stall und auf der Weide. Es gab viel zu tun auf der elterlichen Farm mit rund 1000 Schafen. Zum Glück hatten sie Hilfe von mehreren fleißigen Angestellten, unter ihnen auch Menschen aus aller Herren Länder, die einen Farmstay oder Work and Travel absolvierten. Sie arbeiteten hier einige Monate und verdienten sich Geld, um danach das Land zu bereisen.

      Sie hatten auf diese Weise viele schöne Bekanntschaften gemacht. So hatte Grace sogar ihren Schweizer Mann kennen gelernt. Marco war vor fünf Jahren für einen halbjährigen Farmstay zu ihnen auf die Farm gekommen. Doch dann war er länger geblieben, denn sie hatten sich schnell verliebt, und bald war klar gewesen, dass er in Neuseeland und bei ihr bleiben würde.

      Nun waren sie schon drei Jahre verheiratet. Sie erinnerte sich gerne an die zwei Hochzeitsfeste, die sie gefeiert hatten, eines in Neuseeland und das andere in der Schweiz, sodass alle daran teilnehmen konnten, ihre Verwandten und Freunde sowie auch seine.

      Im Moment war Marco für einen Monat in seiner Heimat und besuchte seine Familie und seine Freunde. Normalerweise begleitete ihn Grace, doch dieses Mal war sie mit dem Baby zu Hause geblieben. Die über 24-stündige Reise wollten sie der erst sechsmonatigen Emily noch nicht zumuten.

      Aber Grace vermisste Marco schrecklich. Er war sonst immer für sie da, half ihr viel mit der Kleinen und war ständig gut gelaunt. Er war der starke Mann an ihrer Seite, sie fühlte sich sicher bei ihm. Er hatte in der Schweiz die Ausbildung zum Landwirt gemacht, so passte er sogar beruflich perfekt in ihr Umfeld und war auch auf dem Hof eine riesige Hilfe. Er hatte überhaupt kein Problem mit dem rauen Leben hier weitab von der Zivilisation.

      Grace zählte die Tage, bis er endlich wieder zurück nach Neuseeland kommen würde. Sie freute sich schon darauf, ihn in genau zwölf Tagen am Flughafen in Christchurch abzuholen. Er würde seine Mutter mitbringen, die noch nie in Neuseeland gewesen war. Sie wollte endlich das Land, in das ihr Sohn gezogen war, kennenlernen und natürlich die Familie ihrer Schwiegertochter und ihre erste Enkeltochter Emily. Es war nicht einfach für sie, so weit entfernt von ihrem Sohn zu sein und ihn so selten zu sehen.

      Auch Grace freute sich auf diesen Besuch. Ihre Schwiegermutter hatte sie immer herzlich aufgenommen, wenn sie in der Schweiz zu Besuch gewesen waren. Sie konnten sich zwar nicht gut unterhalten, da Grace praktisch kein Deutsch und die Schwiegermutter wenig Englisch sprach, aber Marco spielte immer charmant den Dolmetscher, wenn seine Mutter mit ihrem Englisch nicht weiterkam.

      Endlich war es Mittag und Grace hatte ihre Arbeit erledigt. Sie zog sich im Vorraum ihre nassen Überkleider aus und ging zum Händewaschen ins Bad.

      Schon von Weitem hörte sie ihre Tochter schreien. Was war bloß mit dem Kind los? Emily schrie manchmal stundenlang.

      Liz kam mit dem Baby zu ihr. «Nimmst du sie mal, ich muss schnell fertig kochen, ich bin heute Morgen zu fast nichts gekommen.» Vorsichtig überreichte sie Grace das schreiende Kind.

      «Seit wann geht das so?»

      «Ach, fast den ganzen Morgen, ich musste sie ständig herumtragen, sie ließ sich kaum beruhigen.»

      Grace drückte ihre Tochter sanft an sich und redete ihr gut zu, da klingelte ihr Smartphone.

      «Hallo, Marco! Schläfst du noch nicht, es ist ja schon Mitternacht bei euch.»

      Am anderen Ende der Welt konnte Marco außer dem Weinen seiner Tochter kaum etwas hören. Grace übergab das schreiende Kind ihrem Vater, der gerade zur Tür hereingekommen war, und ging mit dem Telefon in ihre kleine Wohnung.

      «Kannst du mich jetzt verstehen?»

      «Ja, viel besser. Wie geht’s denn meinen zwei Liebsten? Schreit

      Emily die ganze Zeit so?»

      Grace drückte das Smartphone fest an ihr Ohr, als wäre sie Marco so etwas näher. «Marco, es ist furchtbar ohne dich, ich vermisse dich so schrecklich!»

      «Ich dich doch auch, mein Schatz. Was meinst du, warum ich bis Mitternacht durchhalte, um dich anzurufen, du weißt doch, wann ich normalerweise zu Bett gehe!»

      Grace musste lachen. Marco war ein extremer Frühaufsteher. Er hatte überhaupt keine Probleme, wenn der Wecker um fünf klingelte. Doch abends war er spätestens um zehn todmüde und zu nichts mehr zu gebrauchen. Trotzdem hatte er mit dem Anrufen gewartet, bis sie mit der Arbeit fertig war.

      «In zwei Wochen bin ich wieder bei euch, ich freue mich. Doch ich genieße es auch, hier mal wieder alle meine alten Freunde zu treffen, und Mutter weicht mir kaum von der Seite. Sie hat mich sehr vermisst.»

      «Klar, das verstehe ich gut. Grüß sie ganz lieb von mir.»

      «Mach ich. Sie hat furchtbare Angst vor dem Flug, ich glaube, ich muss ihr noch ein Beruhigungsmittel besorgen.» Marco lachte sein herrlich ansteckendes Lachen am anderen Ende. «Ich muss langsam Schluss machen, mein Schatz. Gib Emily einen dicken Schmatzer von mir und sag ihr, sie soll dich diese Nacht schlafen lassen, okay?»

      «Das mache ich. Hoffentlich versteht sie das mit dem Schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal durchgeschlafen habe.»

      «Das ist nicht gut. Sobald ich wieder da bin, übernachte ich mit der Kleinen für ein paar Nächte im Gästezimmer, damit du wieder einmal richtig schlafen und zu Kräften kommen kannst, versprochen!»

      So war Marco. Grace bekam feuchte Augen und schluchzte ins

      Telefon: