Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


Скачать книгу

versprach, so schnell wie möglich zu kommen.

      «Ben, meine Tante Julia will sich gleich deine Wunde ansehen, sie ist nämlich wirklich Krankenschwester. Sie hat auch gesagt, dass du auf keinen Fall auf die Idee kommen sollst, dich heute noch hinters Steuer zu setzen.»

      Ben nickte brav. Langsam und vorsichtig machten sie sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Bens Kopf dröhnte beim Gehen im Takt seines Pulses.

      Beim Parkplatz mussten sie nicht lange auf Julia warten. Ihr Auto kurvte zügig auf den Kiesplatz und sie stieg freundlich lächelnd aus.

      Sofort ging sie auf Ben zu und fragte: «Du bist also Ben? Und du bist Schweizer?»

      Er nickte.

      «Zum Glück hat dich Stella gefunden. Ich werde mir das mal kurz ansehen, okay?»

      Sie ließ Ben auf einen großen Stein sitzen und sah sich seine Verletzung an. Die Wunde musste nicht genäht werden, sie befürchtete aber, dass sich Ben vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung geholt haben könnte. «Du kommst auf jeden Fall zuerst einmal zu uns,

      okay? Dann sehen wir weiter.»

      Wieder nickte Ben. «Wenn das keine Umstände macht», stotterte er.

      Julia lachte nur. «Umstände? Das ist überhaupt kein Problem!» Julia war Ben auf Anhieb sympathisch. Sie sah Stella unglaublich ähnlich, nur dass sie rund 20 Jahre älter war.

      Kurze Zeit später rollte das Auto auf den Campingplatz und die drei stiegen aus. Auf der Fahrt hatte Julia kurzerhand vorgeschlagen, dass Ben die Nacht bei ihnen verbringen sollte. Sie hatte ihm das Gästezimmer im Haus angeboten.

      «So kann ich dich etwas beobachten, und falls es dir in der Nacht nicht gut gehen sollte, wärst du nicht alleine und ich könnte reagieren. Du kannst auch gerne länger bleiben, wir schauen einfach, okay?»

      Ben war einverstanden. Normalerweise hätte er ihre Art als Bevormundung empfunden. Doch nun war er froh, in diesem Zustand in einem völlig fremden Land nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Er konnte Stellas Tante mit ihrer fröhlichen und lockeren Art gut leiden und Stella sowieso.

      Nur eine Frage plagte ihn: «Was wird jetzt aus meinem Auto?»

      «Keine Sorge Ben, darum kümmern sich mein Mann Phil und unser Freund Taonga bestimmt», meinte Julia.

      «Oh, das ist wirklich sehr nett. Das ist mir irgendwie gar nicht recht, dass ihr wegen mir so viel Aufwand habt.»

      «Aufwand? Absolut kein Problem, wir helfen gerne!», antwortete Julia. «Du solltest dich nun aber unbedingt etwas ausruhen. Stella zeigt dir das Zimmer.»

      Gerade in diesem Moment traten Phil und Taonga mit den zwei jüngeren Kindern, Liam und Josh, aus dem Haus und kamen neugierig auf sie zu. Phil war hellhäutig und dunkelblond, Taonga hatte eine dunklere Hautfarbe und kohlschwarzes Haar. Er war sehr kräftig gebaut und sein ärmelloses Shirt gab den Blick auf eine typische Maori-Tätowierung frei, die über seine linke Schulter bis fast zum

      Ellbogen verlief.

      Julia stellte Ben die Männer vor. «Das ist mein Mann Phil Harris und das ist Taonga Anaru. Taonga ist ein guter Freund und wohnt hier bei uns.»

      Taonga grinste breit über sein rundes, dunkelhäutiges Gesicht. Er hatte kein Wort Schweizerdeutsch verstanden. Auch Julias Mann Phil verstand nur ein wenig der für ihn seltsamen Sprache. Deshalb wechselte Julia nun lachend ins Englische und erzählte den beiden, was geschehen war. Sie fragte die Männer, ob sie Bens Auto holen könnten.

      «Natürlich, das machen wir gerne. Wir haben uns gerade eben gefragt, was wir noch tun könnten, uns ist schrecklich langweilig», scherzte Phil.

      Die beiden machten sich mit Bens Autoschlüssel aus dem Staub.

      «Taonga ist ein Maori, nicht wahr?», fragte Ben interessiert.

      Maori waren die ersten Einwanderer, die Neuseeland besiedelt hatten, sie stammten ursprünglich aus Polynesien.

      «Ja, genau», antwortete Julia. «Er wohnt in dem kleinen Häuschen auf unserem Grundstück und arbeitet hier bei uns. Er ist uns eine sehr große Hilfe. Er kann einfach fast alles. Er ist kräftig wie ein Bär und handwerklich äußerst geschickt», lobte Julia den Maori. «Er ist ein langjähriger guter Freund der Familie und liebt unsere Kinder», fügte sie strahlend hinzu. Dann sah sie Ben ernst an: «Du siehst müde aus, Ben!», und an Stella gewandt, sagte sie: «Bitte zeig ihm sein Bett. Kannst du es auch gleich beziehen? Es liegt, glaube ich, noch einige Wäsche darauf. Du musst entschuldigen, Ben, bei uns geht es etwas chaotisch zu.»

      Ben war das völlig egal. Im Gegenteil, es gefiel ihm, dass in diesem Haus deutlich zu sehen war, dass hier eine Familie lebte. Bei ihm zu Hause war immer alles fein säuberlich aufgeräumt und seine Mutter putzte hinter allen her.

      Ben musste Stella beim Herrichten des Betts zuschauen, sie hatte sich geweigert, Hilfe von ihm anzunehmen. Er saß also untätig auf einem Stuhl und beobachtete, wie das Mädchen geschickt das Bett bezog. Ihre langen Haare bewegten sich bei jeder Bewegung wellenartig hin und her. Sie trug ungewöhnliche Kleider: bunte Pluderhosen, fast etwas alternativ, dazu ein enges, knallrotes Top. Sie hatte eine super Figur, ob sie sich dessen bewusst war?

      Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden und merkte, wie sein Herz plötzlich Kapriolen schlug. Was ging da in ihm vor? Er hatte sich geschworen, dass er sich mindestens einige Jahre nicht mehr verlieben wollte, wenn überhaupt noch einmal. Nach allem, was er mit Naemi, seiner Ex-Freundin erlebt hatte.

      Ein ganzes Jahr waren sie zusammen gewesen. Er hatte sie wirklich geliebt. Doch dann, vor drei Monaten, hatte sie ihn von einem Tag auf den anderen verlassen, um mit seinem besten Freund anzubandeln. Am schlimmsten war es für ihn gewesen, dass sie alle drei in die gleiche Kirche gingen. Das Ganze hatte ihn nicht nur unendlich enttäuscht und verletzt, sondern auch seinen Glauben ins Wanken gebracht.

      Naemi hatte dauernd von Gott und der Bibel gesprochen und hatte sich einen Prediger nach dem anderen zu diesem und jenem christlichen Thema angehört. Ben konnte einfach nicht verstehen, dass sie ihm das angetan hatte. So ein Verhalten passte für ihn nicht zu einem christlichen Leben. Warum soll ich Christ sein, hatte er sich gefragt, Christen sind keinen Deut besser als alle anderen. Er ging dann nicht mehr zu den Gottesdiensten, was wiederum den Vorstellungen seines Vaters widersprach. Er solle sich nicht so anstellen, hatte er nur dazu zu sagen gehabt.

      «Du bist so schweigsam, hast du noch starke Kopfschmerzen?» Stella stand vor ihm und schaute ihn ernst an.

      «Äh ... ja, schon, es hämmert noch immer ziemlich in meinem Kopf.»

      Sie wandte sich ab und sagte beim Hinausgehen: «Ich frage Julia nach einem Schmerzmittel, leg dich nur hin!»

      Ben überlegte, ob er sich mitsamt den Kleidern in das frische Bett legen sollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Er klopfte sich den Staub ein wenig aus der Hose und setzte sich zögernd auf die Bettkante.

      Da kam Stella zurück, ein Glas Wasser in der einen und eine Tablette in der anderen Hand. Sie hielt ihm beides hin. «Julia hat mir für dich eine Schmerztablette mitgegeben, sie ist gerade noch mit den Kids beschäftigt.»

      Sie lächelte ihm aufmunternd zu und er schluckte brav das Medikament.

      «Ich lasse dich jetzt in Ruhe.» Stella zog unaufgefordert die Vorhänge zu. «Julia hat gesagt, sie kommt später noch nach dir schauen und du sollst dich melden, falls du ein Problem hast, okay?»

      Er nickte dankbar und sie verließ das Zimmer.

      Ein wenig später wollte sie ihm die Tasche mit seinen Sachen aus dem Auto bringen. Sie klopfte an und trat, als er sich nicht meldete, vorsichtig ein. Er lag in seinen Kleidern auf dem Bett und schien bereits tief und fest zu schlafen.

      Leise stellte sie die Tasche neben das Bett, blieb noch einen kurzen Moment im Zimmer stehen und schaute Ben beim Schlafen zu. Er war verschwitzt, die dunklen Locken klebten ihm an der Schläfe. Am liebsten hätte Stella sie ihm aus dem Gesicht gestrichen, doch im nächsten