Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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erschien es fast unerträglich, weitere zwölf Tage ohne ihn auszuhalten.

      Sie strich über ihr Smartphone, aus dem sie eben noch seine liebevolle Stimme mit dem sympathischen Schweizer Akzent vernommen hatte. Sie trocknete ihre Augen mit dem Ärmel und verließ ihre Wohnung.

      Aus der großen Wohnküche roch es köstlich. Grace hatte Hunger und freute sich auf ein schmackhaftes Essen mit ihren Eltern. Die Angestellten aßen in der Gemeinschaftsküche im Haus nebenan, wo sie ihre Zimmer hatten. Das war gut so, denn auf diese Weise hatte die Familie ein bisschen Privatsphäre.

      Emily hatte sich bei Mahora beruhigt und lag jetzt friedlich in seinen kräftigen Armen. Das war ein köstliches Bild: das kleine, hellhäutige Baby in den Armen seines großen, kräftig gebauten Großvaters mit der dunklen Hautfarbe.

      Mahora war sozusagen ein Vollblut-Maori. Seine Frau Liz hatte zwar eine Maori-Mutter, ihr Vater war aber Europäer. Sie hatte ihn leider nie kennengelernt, da er sich noch vor ihrer Geburt von ihrer Mutter getrennt hatte und nach Europa zurückgekehrt war. Sie war etwas hellhäutiger als die meisten Maori, aber dunkler als die von Europäern abstammenden Neuseeländer. Grace hatte etwa die gleiche Hautfarbe wie Liz, ihre Tochter Emily aber glich stark ihrem blonden und hellhäutigen Schweizer Papa.

      «Unser kleines Bleichgesicht ist eingeschlafen», flüsterte Mahora und grinste Grace stolz an.

       Kapitel 3 : Ein Jobangebot

      Ben erwachte und brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden. Wo war er? Er hörte Kinderstimmen und Lachen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er fasste sich an seinen Kopf, der Verband war in der Nacht abgefallen.

      Ben richtete sich schnell auf und sprang aus dem Bett. Wie viel Uhr war es wohl, hatte er lange geschlafen? Der Akku seines Smartphones war leer und er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er stolperte fast über seine Tasche. Wer hatte die geholt und dahingestellt? Ihm war das alles peinlich. Er brauchte dringend eine Dusche, ob er einfach danach fragen sollte?

      Zögernd verließ er das Zimmer und schon wurde er von den Kindern bestürmt. Halb Englisch, halb Schweizerdeutsch redeten sie auf ihn ein. Die zwei kleinen Jungen hatte er am Vorabend kurz gesehen, aber die beiden älteren Kinder waren noch nicht zu Hause gewesen.

      «Du bist Ben, oder?», fragte Leah.

      «Schläfst du immer so lange?», wollte Chloe wissen.

      Liam zeigte ihm seinen Ball und rief: «Kommst du mit nach draußen zum Spielen?»

      Ein wenig hilflos schaute Ben sich um, da trat zum Glück Stella aus der Küche.

      «Hey, Kinder, das ist unser Gast, er heißt Ben. Er hat sicher Hunger.» Sie warf ihm ein fröhliches Lächeln zu und scheuchte die Kinder scherzend fort. «Husch, husch, ihr Wilden, lasst Ben etwas Zeit.»

      Nur Josh, den Jüngsten, behielt sie auf ihrem Arm, die drei anderen stürmten lautstark in ihr großes gemeinsames Spielzimmer.

      «Guten Morgen, Ben, hast du gut geschlafen?»

      «Ähm, ja, danke, tief und fest. Wie viel Uhr ist es denn?»

      Stella stellte einen Teller und eine Tasse für ihn auf den Tisch und lachte. «Es ist schon zehn Uhr. Die Kinder lärmen sicher seit sieben, du musst einen Schlaf wie ein Schweizer Murmeltier im Winterschlaf haben!»

      Ben war das peinlich! Er schaute zu Boden und stotterte: «Ach, du meine Güte, ich bin sonst kein Langschläfer!»

      Stella lachte. «Wie geht es deinem Kopf ?»

      «Danke, viel besser.»

      Sie nahm ihn bei der Hand, schüttelte entschuldigend den Kopf und zog ihn mit sich, während Josh noch immer auf ihrem Arm hockte. «Du möchtest sicher zuerst einmal duschen, komm, ich zeig dir alles.»

      Sie schien Gedanken lesen zu können! Sie ließ seine Hand wieder los. Eigentlich schade, dachte er.

      Stella führte ihn in das einfache kleine Badezimmer und drückte ihm ein Duschtuch in die Hände. «Nimm dir alles, was du brauchst. Duschgel, Shampoo und keine Ahnung, was Männer sonst noch so nötig haben. Bedien dich einfach bei Phils Zeug, okay?»

      «Super, vielen Dank!», sagte Ben erleichtert.

      Stella blieb im Bad stehen und Ben räusperte sich.

      «Ach, du meine Güte, entschuldige, bin schon weg.» Stella errötete und verschwand schnell um die Ecke.

      Ben musste schmunzeln. Sie war echt süß.

      Er genoss die Dusche wie wohl noch keine vorher. Vorsichtig ließ er das Wasser auch über seine verschwitzten und blutverkrusteten Haare fließen. Die Wunde brannte noch ein wenig. Die Kopfschmerzen waren aber wie weggeblasen.

      Unterdessen machte Stella das Frühstück für Ben. Sie selber hatte schon lange mit den Kindern, Julia, Phil und Taonga gegessen.

      Die drei waren danach an ihre Arbeit gegangen. Julia war jeden Morgen in einer Klinik beschäftigt und die Männer hatten auf dem zukünftigen Campingplatz viel zu tun. Stella war für die vier Wildfänge zuständig, bis Julia wieder zurück war. Die Mädchen hatten gerade Weihnachtsund Sommerferien, die bis Ende Januar dauerten, und die Jungen waren immer zu Hause, da sie noch nicht zur Schule gingen.

      Ben trat frisch geduscht und mit neuen Kleidern ins Esszimmer.

      «Vielen Dank für alles!»

      Stella lächelte ihn fröhlich an. «Kein Problem.»

      Dieses Lächeln! Ben konnte seinen Blick kaum von Stella wenden. Sie war wunderschön, sogar in den etwas seltsamen Kleidern, die sie trug. Heute war es ein geblümtes ärmelloses Kleid, unter dem sie kurze Leggins trug. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Ben schaute zu Boden, es war unhöflich, sie so anzustarren.

      Stella schien es zum Glück nicht bemerkt zu haben. «Magst du nichts essen? Du bist schon um dein Abendessen gekommen, da du so schnell eingeschlafen bist.» Sie schien fast ein bisschen besorgt zu sein.

      Ben griff herzhaft zu, er hatte tatsächlich eine ganze Weile nichts mehr gegessen.

      Phil schaute kurz vorbei und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Er wollte auch hören, wie es Ben ging.

      «Alles in Ordnung, vielen Dank, Phil», sagte Stella lächelnd.

      «Ja, herzlichen Dank», stotterte Ben.

      Josh krabbelte am Boden herum. Stella hatte ihr Gesicht in die Hände gestützt und schaute Ben beim Essen zu.

      Er schien wirklich Hunger zu haben und Stellas New Zealand Breakfast zu mögen. Seine Haare waren noch nass und deshalb nicht so wild wie am Vortag. Nur hier und da kämpfte sich eine vorwitzige Locke heraus. Er hatte kräftige Arme und Hände.

      Stella überlegte sich, was er von Beruf sein könnte. «Arbeitest du auf dem Bau oder so?»

      Ben schaute erstaunt auf. Wie war sie plötzlich auf diese Frage gekommen? «Wieso meinst du?»

      Stella zeigte lächelnd auf seine Oberarmmuskeln und sagte: «Ich überlege mir gerade, wie du wohl zu denen gekommen bist.» Sie lächelte ihn wieder an und fügte hinzu: «Im Büro bekommt man die wohl nicht und auch nicht im Studium, oder?»

      Ben erzählte von seinem Job in der Zimmerei und davon, dass er gerne kletterte. «Eigentlich würde ich jetzt, wenn es nach meinem Vater ginge, in irgendeinem Hörsaal sitzen, aber ich konnte mich bis jetzt für kein Studium erwärmen.»

      Stella hörte interessiert zu. «Dann bist du sozusagen nach Neuseeland geflüchtet vor den Plänen deines Vaters?»

      «So ungefähr.»

      Stella schaute ihn lange nachdenklich an. «Aber da ist noch mehr, oder?»

      Ben hätte sich fast verschluckt. Diese junge Frau konnte wohl wirklich Gedanken erraten. Er erzählte ihr einiges, was ihn schon lange