Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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seine Nähe zu suchen, so wie gerade eben. Aber er hatte Mühe, sie einzuschätzen, und er wollte auf keinen Fall einen Fehler machen. Nach dem Gespräch mit Phil war er noch vorsichtiger.

      Stella schaute auf die Uhr. «Du musst sicher weiterarbeiten, ich möchte dich nicht stören.» Sie drehte sich um und kletterte vom Dach herunter.

      Ben blieb wie angewurzelt stehen. Sie störte ihn nicht, ganz im

      Gegenteil. Warum brachte er kein Wort heraus?

      Stella ging nicht gerne von Ben weg, doch sie fühlte sich ein wenig aufdringlich. Vielleicht empfand er gar nicht so viel für sie, wie sie für ihn? Zudem hatte sie die Gespräche, die sie mit ihren Eltern über die Liebe geführt hatte, tief in ihrem Herzen verinnerlicht. Auch Phil und Julia hatten schon mit ihr über Beziehungen gesprochen.

      Stella wünschte sich einen christlichen Partner, der ihre Überzeugung in Bezug auf Liebe und Sexualität teilte. Dies war ihr so wichtig, dass sie sogar einen Ring trug, der sie daran erinnern sollte, dass sie sich Sex für die Ehe aufsparen wollte.

      Wie wohl Ben darüber denken würde? Hielt er das vielleicht für altmodisch? Sie war überzeugt, dass es sich lohnte, etwas so Kostbares und Wunderbares wie die Sexualität für den Ehepartner zu bewahren. Für sie war dies nicht verbunden mit komischen prüden Regeln, die man einhalten musste, sondern es war ein vorübergehender, aber überaus lohnender Verzicht!

      Über Bens Glauben wusste sie nicht viel mehr, als dass er im

      Moment eine Pause eingelegt hatte.

      Etwas später kehrte Stella mit Liam und Josh nach draußen zurück und spielte mit ihnen. Als die Kinder alleine friedlich im Sand buddelten, zückte Stella ihre Stifte und ihren Zeichnungsblock und begann zu zeichnen. Sie schaute immer wieder zu Ben, der weiter auf dem Dach des zukünftigen Duschraums arbeitete. Er war dabei, Wellblech zu montieren.

      Wellblech wurde in Neuseeland für fast alles verwendet. Ben hatte mit den Neuseeländern nicht lange diskutiert, ob es nicht ein schöneres Material gäbe, er konnte sich den Gepflogenheiten durchaus anpassen.

      Nun hatte er Stella entdeckt und winkte ihr zu. «Beobachtest du mich etwa?»

      Stella grinste. «Es gibt nichts Schöneres, als jemandem beim Arbeiten zuzusehen!»

      Ben knüllte sein T-Shirt, das er kurz zuvor wegen der Hitze ausgezogen hatte, zu einer Kugel und warf es nach Stella.

      «Du hast mich nicht getroffen!», kicherte sie. «Aber du solltest dein T-Shirt wieder anziehen, du wirst dich sonst an der neuseeländischen Sonne schnell verbrennen.»

      «Ich habe mich mit Sonnenmilch eingerieben», erwiderte Ben und widmete sich erneut seiner Arbeit. Nicht ohne immer wieder zu ihr zu schauen.

      Stella skizzierte fleißig weiter. Sie hatte Ben bald in den verschiedensten Haltungen gezeichnet und begutachtete ihre Skizzen, indem sie den Block etwas von sich weghielt. Dann korrigierte sie ihre Zeichnungen da und dort mit schnellen, gekonnten Strichen.

      Plötzlich stand Ben hinter ihr und hielt ihr die Augen zu. Sie schrie auf vor Schreck, sie hatte so konzentriert an ihren Skizzen gefeilt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie er das Dach verlassen und sich an sie herangeschlichen hatte.

      «Hast du ein schlechtes Gewissen?», witzelte Ben. Als er ihr erschrockenes Gesicht sah, entschuldigte er sich. «Habe ich dich so erschreckt? Das wollte ich echt nicht, sorry!»

      Er begutachtete die Zeichnungen und war überrascht. «Das ist unglaublich. Du bist eine Künstlerin, Stella!» Dann grinste er geschmeichelt. «Das bin ja ich. Immer und immer wieder ich.»

      Stella war die Situation peinlich. Diese Skizzen hatte sie eigentlich nur für sich selbst gezeichnet, sie wollte nicht, dass Ben sie sah.

      «Du nähst deine Kleidung selbst, du zeichnest hervorragend, was stecken noch für Überraschungen in dir?»

      Stella war ganz rot geworden und schob den Zeichenblock schnell in ihre Tasche. «Na ja, das mache ich eben gerne, aber es gibt Leute, die können das besser.»

      Ben hielt sie an den Schultern fest und schaute ihr einen Moment ernst in die Augen, bis sie den Blick senkte. «Stella, du bist viel zu bescheiden. Du bist extrem begabt.» Ben ließ sie los. «Darf ich die Zeichnungen behalten?»

      Stella schaute wieder auf und lächelte ihn an. «Du bist hartnäckig, Ben. Von mir aus kannst du sie behalten, aber sie sind nicht so gut, ich habe das alles nur schnell skizziert.» Nicht sehr begeistert händigte sie ihm die Bilder aus.

      Ben schüttelte den Kopf und entgegnete: «Wie sehen deine Bilder denn aus, wenn du mehr Zeit dafür hast?»

      Stella überlegte einen Augenblick, dann kam ihr eine Idee. «Was hältst du davon, wenn ich ein Porträt von dir male? Aber so richtig, mit Farbe und allem. Kannst du mal eine Stunde oder etwas länger ruhig sitzen?»

      Ben war begeistert. Die Vorstellung, Zeit allein mit Stella zu verbringen, war fabelhaft. Das mit dem Stillsitzen könnte zwar eine Herausforderung werden, aber der würde er sich stellen. «Das würdest du machen? Kann ich mir das denn leisten?», scherzte er.

      Stella lachte. «Für dich mache ich es ausnahmsweise kostenlos. Normalerweise würde es dich einige Tausend Neuseelanddollar kosten.» Sie musste noch mehr lachen.

      Dieses wunderbare Lachen.

      «Morgen ist Samstag. Wir könnten an den Strand runtergehen, dann male ich dich dort. Das wäre ein toller Hintergrund.»

      Ben war sofort einverstanden. «Wollen wir morgen direkt nach dem Frühstück losziehen?», fragte er.

      Sie nickte und überlegte insgeheim, ob sie wohl diese Nacht überhaupt schlafen könnte vor lauter Aufregung. Ben begleitete sie und die Kinder bis zum Haus. Auch er war aufgeregt, wenn er an den nächsten Tag dachte.

       Kapitel 5 : Sternenhimmel

      Marcos Mutter Maria war bereits seit zwei Wochen in Neuseeland und genoss die Zeit mit ihrem Sohn, der Schwiegertochter und der Enkelin sehr. Auch mit Liz und Mahora kam sie gut aus. Sie unternahmen so oft wie möglich Ausflüge in der wunderschönen Umgebung.

      Die Gegend war extrem dünn besiedelt, man konnte kilometerlang durch das trockene Hochland fahren, ohne ein Haus zu entdecken. Einmal fuhren sie an den Lake Tekapo, der sich mit seinem intensiven Blau aus der im Sommer gelbbraunen Umgebung klar heraushob. Der Himmel war fast so blau wie das Wasser und es war richtig heiß.

      Natürlich mussten sie Marcos Mutter, die alte Kirchen liebte, unbedingt die Church of the Good Shepherd zeigen. Die einfache Steinkirche lag auf einer kleinen Anhöhe direkt am Lake Tekapo und zog die Touristen an wie ein Magnet. Viele stiegen hier kurz aus ihren Fahrzeugen, um einige Fotos zu knipsen.

      Auch Maria wollte fotografieren, doch Grace machte ihr einen Vorschlag: «Spaziert ihr am See entlang, und ich lege mich hier auf die Lauer. Ich warte auf einen der seltenen Augenblicke, wenn sich gerade keine Person um die Kirche herum aufhält. Dann schieße ich dir einige Bilder, okay?»

      Grace war eine talentierte Fotografin, deshalb willigte ihre Schwiegermutter gerne ein.

      «Ich werde euch bald einholen, ihr kommt mit der Kleinen und dem Kinderwagen ja nicht so schnell vorwärts.»

      So setzte sie sich in den Schatten vor der kleinen Kirche, während sich die anderen langsam auf den Weg machten. Sie wusste genau, von welcher Stelle aus sie fotografieren wollte, um ein schönes Bild zu knipsen, auf dem im Hintergrund der blaue See zur Geltung kam. Nach einer Wartezeit, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam, bot sich tatsächlich ein kurzes Zeitfenster, um die Kirche ohne menschliche Wesen zu erwischen. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden.

      Nun machte sie sich auf, um die anderen einzuholen. Sie fand ihre kleine Familie etwas weiter hinten am See. Marco vergnügte sich mit Emily im kalten Nass. Er hielt die Kleine über dem Wasser und tauchte immer wieder ihre Füßchen hinein, worauf sie diese hochzog und laut quietschte.

      Maria