Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


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Mutter umarmte Marco und Grace. «Ach, Marco! Es ist hart, den wunderbarsten Papa zu verlieren oder den allerbesten Ehemann. Aber trotz allem weiß ich, dass Gott gut ist!»

      Marco schüttelte entschieden den Kopf. Solchen Unsinn wollte er sich nicht anhören.

      Seine Mutter sagte leise: «Papa ist im Himmel, das ist ein gewaltiger Trost für mich. Wir werden uns da wiedersehen!»

      Marco wischte sich die Tränen vom Gesicht und Grace tröstete ihn. Sie hatte nicht verstanden, was Maria in dieser seltsamen Sprache zu Marco gesagt hatte, aber sie wusste, dass es um Marcos Vater ging. Sie wusste, welches Loch sein Tod in Marcos Herz gerissen hatte.

      «Einen Vater zu haben ist wichtig», sagte sie und streichelte sein Gesicht. «Meine Mama erzählt oft, wie sie ihren Dad, den sie ja niemals kennenlernen durfte, als Kind vermisst hat. Ja, sogar noch jetzt als erwachsene Frau vermisst sie ihn manchmal!»

      Marco nickte.

      «Mahora, mein Daddy, ist für dich ein bisschen ein Vaterersatz geworden, nicht wahr?»

      Marco nickte und schniefte. Er mochte seinen Maori-Schwiegervater sehr, er war tatsächlich wie ein Vater zu ihm.

      Maria sagte nun wieder auf Englisch: «Mahora ist ein toller Vater und Schwiegervater. Ich bin glücklich für dich, Marco, dass du in eine so liebe Familie hineingeheiratet hast!»

      «Du bist auch herzlich willkommen, Maria», sagte Grace lächelnd und zog die beiden Richtung Auto. Es war viel zu kalt geworden, um weiter im T-Shirt draußen zu stehen.

       Kapitel 6 : Das Porträt

      «Ich helfe dir tragen.» Ben nahm Stella einige ihrer Malutensilien ab.

      Stella war aufgeregt. «Ich kenne ein Plätzchen ganz am Ende des Strandes, wo der Regenwald beginnt. Dort könntest du es dir auf einem großen Stein gemütlich machen und ich male dich mit diesem schönen Hintergrund. Was denkst du?»

      Ben war einverstanden.

      «Wie muss ich mich hinsetzen?», fragte er unsicher, als sie die Stelle erreicht hatten. Er hatte nicht die geringste Erfahrung als Modell.

      «Möglichst natürlich. Du kannst aufs Meer schauen, dann male ich dich von der Seite. Oder du schaust zu mir herüber, dann sieht man dich von vorne.»

      Ben liebte das Meer und hätte der Brandung stundenlang zusehen können. Doch jetzt, wo er die Gelegenheit hatte, Stella ganz offiziell anschauen zu dürfen, war für ihn der Fall sofort klar. «Ist es gut so?», fragte er.

      Stella nickte und lächelte. Sie musterte Ben eine lange Zeit und drehte ihren Kopf ein wenig zur einen, dann zur anderen Seite, sie studierte Ben regelrecht.

      Er musste lachen.

      Stella prustete los: «Hab ich dir nicht gesagt, du müsstest mindestens eine Stunde stillsitzen, ganz still, ohne Regung!»

      Ben gab sich alle Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen, aber er schaffte es einfach nicht. Im Gegenteil, er bekam einen Lachanfall.

      Stella ließ sich zuerst anstecken, spitzte dann aber theatralisch die Lippen und klagte: «So geht das nicht!»

      Sie ging zu Ben und bewegte seinen Kopf und seine Arme wie die einer Schaufensterpuppe in verschiedene Positionen. Dann stemm-

      te sie ihre Arme in die Hüften, musterte ihr Modell und schüttelte den Kopf. «Ein hoffnungsloser Fall!» Theater spielen konnte sie wohl auch.

      Ben musste nur noch mehr lachen.

      Stella ließ sich kichernd neben ihn auf den Stein plumpsen. «So wird das nichts, Ben, ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren!» Ben schaute ihr tief in die Augen. Eine vorwitzige Haarsträhne hatte sich in ihr süßes Gesicht verirrt. Vorsichtig strich Ben sie weg und steckte sie hinter ihrem Ohr fest. Seine Finger zitterten. Er wünschte sich, Stella zu küssen, doch er wagte es nicht. Ob sie dazu bereit war? Sie war bei seiner Berührung etwas zurückgewichen.

      Stella spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, als Bens Hand ganz leicht ihr Gesicht berührte, um ihr die Haarsträhne wegzuwischen. Er kam ihr ganz nah und sie roch den Duft seines Duschgels.

      Ben nahm ihre Hände in seine und flüsterte: «Du bist wunderschön!»

      Stellas Herz raste noch schneller. Seine Hände waren angenehm warm. Dann hob er die eine Hand zaghaft an und kam ihrem Gesicht näher. Er stockte einen Moment, auch Stellas Atem stockte. Sie sah, wie Bens Finger zitterten, als er ihr zärtlich über die Wange strich.

      Stella war wie gelähmt. Sie wollte ihm am liebsten durch seinen wilden Haarschopf streicheln, doch es ging einfach nicht, sie war so furchtbar nervös. Sie fühlte sich innerlich zerrissen, weil sie an ihr Gelübde dachte und sich gleichzeitig nach einer Berührung von Ben verzehrte.

      Sie schaute Ben nur mit großen Augen an. Sein Gesicht mit der schönen, feinen Nase, dessen Nasenflügel etwas bebten. Seine glänzenden schokoladebraunen Augen, die von seinen dichten Augenbrauen betont wurden. Er war so wunderbar und sie konnte sich fast nicht vorstellen, dass er wirklich Interesse an ihr haben könnte. Sie schluckte, ihr Hals fühlte sich trocken an.

      Ben strich nochmals sanft über ihre Wange, doch dann ließ er die Hand sinken. Er war sich nicht sicher, ob er zu weit gegangen war.

      Er wollte auf keinen Fall etwas falsch machen. Sie war dieses Mal nicht zurückgewichen, als er sie streichelte, aber sie zeigte sonst keine Reaktion. Vielleicht fühlte sie nicht dasselbe wie er?

      Er schaute in ihre klaren, blauen Augen, hob noch einmal vorsichtig seine Hand und näherte sich ihrem Gesicht. Da ging ein kleiner Ruck durch ihren Körper und auch sie hob eine Hand und begann, in seinem Haar zu wuscheln.

      Dann lehnte sie ihren Kopf an seine Brust, in der sein Herz hämmerte, sodass sie es hören und spüren musste. Ben legte vorsichtig seinen Arm um sie und drückte sie an sich. So blieben sie eine lange Zeit sitzen und hofften beide, dass dieser Moment nie vorbeigehen würde.

      Irgendwann flüsterte Ben ihr ins Ohr: «Ich dachte, du würdest mich malen?»

      Sie schaute zu ihm hoch und lächelte. «Du hast mich davon abgehalten!»

      Zögernd lösten sie sich voneinander, hielten sich noch einen Moment an den Händen, dann stand Stella auf, um zu ihren Malutensilien zurückzugehen.

      Ben rückte sich auf dem Stein in Position, stützte seinen Kopf auf sein angehobenes Knie und schaute zu Stella. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen und sie sah ihn immer wieder lange an, lächelte ihr bezauberndes Lächeln und widmete sich wieder ihrer Leinwand. Zuerst skizzierte sie mit Bleistift, als Nächstes holte sie einen Malkasten dazu. Mit geübten Bewegungen, aber zitternden Händen, führte sie den Pinsel über die Leinwand.

      Zwischendurch betrachtete sie Ben immer wieder intensiv. Sie studierte sein hübsches Gesicht und seinen muskulösen Oberkörper, der sich unter dem T-Shirt klar abzeichnete. All das versuchte sie so getreu wie möglich auf der Leinwand umzusetzen.

      Ben war froh, sitzen zu können. Jedes Mal, wenn Stella ihn so durchdringend musterte, geriet sein Herz vor Aufregung einen Moment aus dem Takt.

      Schließlich, nach längerer Zeit, war das Bild fertig. «Möchtest du es dir anschauen?», fragte Stella.

      Und ob er wollte! Er war so gespannt auf dieses Bild. Es verschlug ihm fast den Atem, als er es sah. Sie hatte hier am Strand ein Kunstwerk auf die Leinwand gezaubert.

      «Es ist nicht ganz perfekt, meine Hände haben so gezittert.»

      Ben schaute sie fassungslos an: «Nicht ganz perfekt? Es ist sensationell!»

      Er umarmte sie, hob sie einige Zentimeter in die Luft und drehte sich mit ihr um sich selbst. «Du bist großartig! Du bist die beste Künstlerin, die ich kenne!» Er setzte sie vorsichtig wieder ab und strich ihr durch das lange Haar.

      «Danke!», flüsterte sie.

      «Du