Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt


Скачать книгу

       Kapitel 8 : Von der Vergangenheit eingeholt

      Der nächste Sonntagmorgen kam schon bald. Ben überlegte, was er anziehen sollte. Er hatte nur bequeme und sportliche Kleidung nach Neuseeland mitgebracht, überhaupt nichts Elegantes oder auch nur annähernd Passendes für die Kirche.

      Es war bereits Zeit zum Gehen, Stella würde ihn jeden Moment abholen und er wollte nicht zu spät sein. Er schlüpfte in seine Lieblingsjeans, die war einigermaßen ansehnlich.

      Da klopfte es an der Tür und Stella kam herein. «Bist du bereit, Ben?»

      Er hüpfte ihr entgegen, er war noch dabei, die Hose vollständig hochzuziehen.

      Stella musste lachen. «Was machst du für einen Tanz?» Sie starrte auf seinen nackten Oberkörper, Ben war wirklich gut gebaut.

      «Hast du noch nie einen halbnackten Mann gesehen?» Ben stemmte die angewinkelten Arme nach oben und ließ seine Oberarmmuskeln spielen.

      «Du bist unmöglich, Ben. Zieh dich an, wir sind spät dran.»

      Sie wählte ein T-Shirt aus seinem unordentlichen Stapel und zog es ihm über den Kopf. Als seine beiden Arme im Shirt steckten und er einen Moment wehrlos war, nutzte Stella die Gelegenheit und kitzelte ihn am Bauch. Ben krümmte sich und verlor fast das Gleichgewicht.

      «Beeil dich jetzt!», schimpfte Stella und unterdrückte ein Lachen. Doch nun war Ben nicht mehr wehrlos. Er packte Stella kurzerhand und schleppte sie zu seinem Bett. Er ließ sie darauf fallen, um sie ebenfalls auszukitzeln. Sie kicherte und japste nach Luft. Als er endlich aufhörte, glich ihre Frisur einem Wischmop.

      «Ben!», schrie sie und lachte, «hast du mir eine Haarbüste, bitte?»

      Ben schaute hilflos umher, nein, er besaß, um ehrlich zu sein, keine Bürste. Stella musste ihre Haare mit den Fingern einigermaßen in Ordnung bringen.

      Sie schüttelte den Kopf. «Kein Wunder ist dein Haar immer so wild. Ich werde dir morgen eine Haarbürste kaufen.»

      Wieder schämte sich Ben, aber er war einfach ein Mann und hatte andere Prioritäten.

      Nun mussten sie sich richtig beeilen. Als sie atemlos vor dem Kirchlein ankamen, hörten sie bereits Musik und Gesang aus dem Inneren.

      «Die haben schon begonnen, komm, wir schleichen uns leise hinein und setzen uns in die letzte Reihe», flüsterte Stella, öffnete vorsichtig die Tür, packte Ben sanft am Arm und zog ihn hinein.

      Ein plötzlicher kräftiger Windstoß schlug die Tür geräuschvoll hinter ihnen zu. Alle, wirklich alle, schauten nach hinten zu Ben und Stella. Sie hatten mit Singen aufgehört, die Band hatte aufgehört zu spielen und alle brachen in schallendes Gelächter aus. War das peinlich! Beide wären am liebsten im Erdboden versunken. Doch dann merkten sie, dass es ein herzliches neuseeländisches Lachen war.

      Taonga stand auf, klatschte in die Hände und rief laut: «Welcome, Stella und Ben!»

      Alle klatschten und johlten. Stella und Ben schauten sich einen Moment verdutzt an, um dann ebenfalls in erleichtertes Lachen auszubrechen.

      Nun wurde der Gottesdienst mit eingängigem Worship fortgesetzt. Die meisten standen auf, einige bewegten sich im Takt, es wurde spontan gebetet und es gab laute Zwischenrufe wie «Halleluja» oder «Praise the Lord». Das war eine Stimmung in dieser kleinen schlichten

      Kirche!

      Ben kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Stella nahm seine Hand und streichelte sie. Er schaute sich unsicher um. Durfte sie das? Sie waren doch in einem Gottesdienst. Er war an eher steife und ernste Gottesdienste gewöhnt. Doch ihr Händchenhalten schien niemanden zu stören. Er rückte etwas näher zu ihr und drückte ihre Hand ganz fest.

      Taonga begann zu predigen, es war eine einfache, gut verständliche Predigt. Er gebrauchte viele persönliche und praktische Beispiele, um die Geschichte vom verlorenen Sohn mit dem heutigen Leben in Verbindung zu bringen, ja, er brachte auch viel Humor ein. Immer wieder lachte die ganze Gemeinde über seine lustigen Sprüche.

      Ben hatte noch nie eine derart lebendige Predigt gehört, aber er fragte sich, ob es passte, die Bibel zu zitieren und gleichzeitig die Leute mit Sprüchen zum Lachen zu bringen. Er hörte kritisch, aber gespannt zu.

      «Hast du Probleme mit deinem Vater?»

      Ben zuckte zusammen. Redete Taonga mit ihm?

      «Gott ist ein liebender Vater! Er ist anders als dein menschlicher Vater, der fehlerhaft ist und dir seine Liebe nicht so gut zeigen kann. Gott wartet mit offenen Armen, bis du zu ihm zurückkehrst!»

      Plötzlich kämpfte Ben mit den Tränen. Stella bemerkte es und strich ihm beruhigend über den Rücken. Doch einen Moment später stand Ben abrupt auf und stürzte zum Ausgang. Stella rannte ihm hinterher. Draußen lief Ben wie ein Gejagter zu seiner Cabin. Stella konnte ihm kaum folgen.

      Als sie in sein Häuschen trat, lag er auf dem Bett. Sein ganzer Körper bebte. Sie setzte sich zu ihm und streichelte ihn eine ganze Weile einfach nur. Er schien sich etwas zu beruhigen, doch noch immer wurde sein Körper von Zeit zu Zeit von tiefen Schluchzern erschüttert.

      «Oh Ben, es tut mir so leid!», flüsterte Stella verzweifelt und hörte nicht auf, ihn zu streicheln.

      Irgendwann drehte sich Ben um. Stella sah sein tränennasses Gesicht und die vom Weinen geröteten Augen. Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Er schämte sich.

      «Weine nur, Ben.»

      Er schüttelte den Kopf. Es war ihm peinlich, dass er vor ihr so einen Weinkrampf hatte. Was war bloß los mit ihm? Er war doch ein Mann und keine Memme! Er hatte schon als Kind nahe am Wasser gebaut und sein Vater hatte ihn immer für seine Art, schnell in Tränen auszubrechen, geschimpft.

      «Auch Männer dürfen weinen, Ben, es ist okay.»

      Ben vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Er konnte sich nicht beherrschen, wieder begann er zu weinen, heiße Tränen sickerten auf Stellas Kleid.

      «Hat dich die Predigt so aufgewühlt?» Ben nickte.

      «Ist es wegen deines Vaters?», fragte sie vorsichtig. Er schniefte und nickte.

      «Möchtest du darüber sprechen, Ben?»

      Ben schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht.»

      Stella zog sein Gesicht zu sich und küsste ihn. Sie schaute ihn traurig an. «Ist es so schlimm?»

      Ben rappelte sich auf und schaute sie an. Sein Kinn zitterte, er riss sich zusammen, um nicht erneut zu weinen. «Jetzt nicht, Stella, ich kann einfach nicht, okay?»

      Sie küsste ihn sanft aufs Kinn. «Es ist okay, Ben.» Sie streichelte ihn weiter und er wurde innerlich ganz still. «Aber du erzählst es mir ein anderes Mal?»

      Ben nickte und sie wollte ihn nicht länger bedrängen.

      «Kannst du mich jetzt allein lassen, Stella? Bitte versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich. Aber ich brauche etwas Zeit für mich.»

      Seine Frage machte sie sehr traurig. Sie wäre gern bei ihm geblieben und hätte ihn getröstet, aber sie musste seinen Wunsch akzeptieren. «Habe ich irgendetwas falsch gemacht?», fragte sie ängstlich.

      «Nein, Stella, es hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich liebe dich!» Ben stand auf und ging zur Tür. Stella folgte ihm und verließ schweigend die Cabin.

      Am Montag hielt Ben Stella auf Abstand. Er arbeitete von früh bis spät und ging nach dem gemeinsamen Essen im Haus der Familie Harris sofort in sein Häuschen. Er schaute Stella kaum an und suchte nie ihre Nähe, er ging ihr regelrecht aus dem Weg. Auch am Dienstag verhielt er sich so komisch.

      Stella war todunglücklich. Was war mit ihm los? Hätte sie ihn bloß nicht zu diesem Gottesdienst überredet! Ob er Schluss machen würde mit ihr? Dieser Gedanke zerriss ihr fast das Herz. Am Abend weinte sie sich in den Schlaf.

      Am