J. U. Gowski

Whisky Blues


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seinen dementen Vater. Was war es dann? Die Unwägbarkeiten, die es mit sich brachte, wenn ein Berliner Clanoberhaupt das Zeitliche segnete? Vermutlich würde es einen Bandenkrieg auslösen. Neu aufflammende Gebietsstreitigkeiten. Revier- und Verteilerkämpfe. Die Führungsstärke von Nassers Sohn Karim würde auf die Probe gestellt werden. Es würde vermutlich ein paar Tote geben und wahrscheinlich würde es auch Unschuldige treffen. War es das, was ihn zögern ließ?

      Er öffnete die Augen und nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas. Er ließ den Wein in seinem Mund kurz hin und her rollen, bevor er ihn hinunterschluckte. Zufrieden stellte er das Glas wieder auf den Tisch. Seine Gedanken fingen wieder an, um Nasser Al-Sharif zu kreisen. Er hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, wie der ihn in letzter Zeit musterte und dabei immer freundlich blieb. Doch seine Augen konnten nicht lügen. Steine blieben Steine, auch wenn sein Mund freundlich lächelte. Nasser überspielte etwas. Und dann hatte R.R. gehört, dass Nasser sich einen Neuen in die Stadt geholt hatte, einen Ausputzer aus Bremen. Die Empfehlung eines befreundeten Araberclans. R.R. hatte sich vorsorglich die Adresse des Bremers besorgt und sich dort umgesehen. Reine Routine. Man konnte nie wissen. Die Wohnung befand sich in der Nähe vom S-Bahnhof Tiergarten. Wie er dann feststellte, stand die Wohnung darüber leer. Er hatte sie sich angesehen. Wenn es hart auf hart kam, würde der Bremer sicher nicht damit rechnen, wie dicht R.R. an ihm dran war. Der Bremer dürfte noch etwas Zeit brauchen, um Berlin besser zu verstehen, um sich einzugewöhnen. Den Atem dieser Stadt einzufangen, das andere Ticken, das Tempo und die merkwürdigen Eigenheiten, die keine andere Stadt besaß. R.R. musste kurz auflachen, als ihm dabei die unfreundlichen Berliner Busfahrer einfielen. Aber R.R. wusste auch, es war nur eine Frage der Zeit, bis für ihn die Luft dünner und Nasser seine Dienste nicht mehr benötigen würde. Jetzt wo er diese Überlegungen sortierte, stellte er fest, es gab keinen Grund, es weiter hinauszuzögern.

      Das Klingeln des Handys riss ihn aus den Gedanken. Er sah auf das Display. Lächelnd ging er ran: »Hi Sal, altes Haus, was macht die Mörderjagd?«

      »Alles ruhig«, kam es lachend vom anderen Ende. »Die Jungs von der Vierten und Sechsten haben mehr zu tun.«

      »Und was?« Es interessierte ihn nur höflichkeitshalber.

      »Die Vierte untersucht seit einem Monat den Tod einer Anwaltsassistentin«, antwortete Koslowski bereitwillig. »Ihre Leiche ist in einer ausgebrannten Kanzlei gefunden worden. Wenig später wurde die Anwältin, ihre Chefin, tot in einem Zugabteil aufgefunden. Kopfschuss. Sie war der Rechtsbeistand von Nasser Al-Sharif und unterwegs nach Paris. Und als Krönung hat die rechte Hand von Nasser einen Tag später Selbstmord verübt. Den Tod der Anwältin untersucht die Sechste zusammen mit den Franzosen.« Koslowski legte eine kurze Pause ein und schob dann in einem sarkastischen Tonfall hinterher: »Alles natürlich reiner Zufall und hat nichts miteinander zu tun.« Koslowski lachte leise. R.R. war still geworden und ordnete seine Gedanken.

      »Und du siehst das anders?«, fragte er.

      »Ja, ich kann bis drei zählen, aber mich hat keiner um meine Meinung gebeten. Warum fragst du?«

      »Ach, nur so.«

      »Haben deine kriminellen und halbkriminellen Freunde dir was erzählt?«, bohrte Koslowski nach.

      »Was sollen sie mir erzählt haben?«

      »Na über die Todesfälle. Ich denke, die Straße achtet sehr genau darauf, was passiert. Und wenn es drei Tote gibt, die mit dem Clan von Nasser in Verbindung stehen, machen sie sich Gedanken. So wie ich mir einen Reim darauf mache. Sind ja nicht alles Idioten. Mein Gefühl sagt mir, es werden noch ein paar Tote folgen. Du wirst es mir doch mitteilen, wenn da was im Busch ist, oder?«

      »Dafür bist du aber gut gelaunt«, erwiderte R.R., ohne auf Koslowskis Frage einzugehen. Koslowski registrierte es, fragte aber nicht weiter nach. Er wusste, dass R.R. sich seit Jahren in einem grauen Umfeld bewegte, nachdem er aus der Fremdenlegion desertiert war. Koslowski wollte nicht wissen, welcher Art R.R.s Geschäfte waren. R.R. war sein Freund. Darum sagte er nur: »Warum auch nicht. Ein paar Gangster dezimieren sich gegenseitig. Das verschafft der Stadt etwas Luft und mir Arbeit.«

      »Wo bleibt deine moralische Messlatte?« R.R. hatte misstrauisch die Augenbrauen hochgezogen.

      »Die hab ich tiefer gelegt. Die hat seit den letzten beiden Fällen einen Knacks bekommen.«

      »Wie das?«

      »Vielleicht waren mir die Mörder zu sympathisch.«

      »Es kann nicht nur unsympathische Mörder geben«, stellte R.R. sachlich fest, um dann die Frage hinterherzuschieben: »Aber deswegen hast du nicht angerufen, oder?«

      »Nein, ich wollte dich zu einem Whiskyabend im Union Jack einladen.«

      »Zu deiner 7th Sense Runde? Das ist doch ein geschlossener Kreis, wie du mir erzählt hast.«

      »Ja, ist so und bleibt auch so. Aber es gibt da einen Stammtisch, an dem jeder teilnehmen kann, der Lust darauf hat. Er findet jeden dritten Mittwoch des Monats im Pub statt. Ich dachte, ich revanchier mich für das Weihnachtsgeschenk und lade dich ein. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles bei dir verloren und du kommst auf den Geschmack. Hast du Lust?«

      R.R. überlegte und sah auf das Glas Wein, das vor ihm stand. Dann sagte er sich, warum nicht. Mit Sal wird es bestimmt spaßig und zur Not kann er immer noch Guinness trinken.

      »Okay, wann wollen wir uns treffen?«

      »Gegen 19.00 Uhr im Pub«, antwortete Koslowski erfreut.

      »Bis dann, Sal.«

      Er legte auf. Nachdenklich sah er zum hochgefahrenen Laptop und ließ seine letzten Gedanken noch einmal Revue passieren. Wenn Nasser ihn nicht mehr brauchte, was dann? Der Gedanke kreiste schon länger durch seinen Kopf, wohl wissend, dass sich daraus nur eine Konsequenz ergab. Es gab keine andere Möglichkeit. Nasser musste ihn loswerden. Zeugen waren unerwünscht. Unbewusst strich er sich über die kleine rote Narbe am Kinn. Sein Freund Koslowski hatte recht. Es würde noch ein paar Tote geben. Keiner der rivalisierenden Gangs glaubte, dass Nasser seinen besten Mann selber in den Tod geschickt hatte. Sie waren nervös, verdächtigten sich gegenseitig. Neue Allianzen wurden geschmiedet. Eine falsche Aktion konnte eine Lawine auslösen. Er dachte wieder an den Bremer. Als Fremder kannte er sich noch nicht so gut aus in der Stadt, wusste auch nicht, wo R.R. wohnte. Genauso wenig wie Nasser Al-Sharif oder sein Freund Koslowski. Nasser musste ihn also zu sich ins Bistro bestellen, wie immer, wenn er R.R. einen Auftrag geben wollte. Nasser würde ihm freundlich lächelnd einen Stuhl anbieten, mit dem Rücken zur Tür. Seine Augen verfinsterten sich bei dem Gedanken. Doch noch war es nicht soweit und das gab ihm die Zeit, die er brauchte, um den offenen Auftrag auszuführen. Gute Vorbereitung war alles.

      Er beugte sich vor, griff nach der Zeitung und schlug die für ihn wichtige Seite auf. Die Todesanzeigen. Routinemäßig überflog er sie und dann blieben seine Augen an der Anzeige hängen, die nur für ihn bestimmt war: ›Robert Richter - Du fehlst uns. Deine Kinder. Die Beisetzung findet heute um 11.30 Uhr im engsten Kreise statt.‹ Robert Richter für R.R.. Darunter stand eine bekannte Telefonnummer. Es war Nassers Nummer. Er sah auf die Uhr. 11.15 Uhr. Sollte er gleich anrufen? Das Zeitfenster war bis 11.30 Uhr angegeben.

      Er stand auf, holte ein anderes Handy aus der Schreibtischschublade und wählte die Nummer. Als nach zweimaligem Klingeln abgehoben wurde, fragte er spöttisch: »Was verschafft mir die Ehre?«

      Am anderen Ende wurde gelacht. Es hörte sich an wie ein heiseres Bellen. Nasser Al-Sharif sagte: »Ich will etwas mit dir besprechen.«

      R.R. schwieg.

      »Hast du heute Abend Zeit? Kannst du in meinem Bistro vorbeikommen? Am besten, kurz nachdem wir geschlossen haben. Gegen 23.15 Uhr. Klopf einfach an die Scheibe. Karim lässt dich dann rein.«

      R.R. überlegte. Ihm musste etwas einfallen, was Nasser nicht vor den Kopf stoßen würde, womit er aber Zeit gewann. Er überlegte, wann das Bistro am besten frequentiert war. Vermutlich zwischen 18.00 und 19.00 Uhr.

      »Was ist?«, klang es vom anderen Ende.

      »Ich