J. U. Gowski

Die Harry Brown Liste


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aus. Koslowski fluchte vor sich hin. Er hatte es vergessen. Schon vor Monaten wollte er wegen dieses immer wiederkehrenden Mysterium zu einer Werkstatt fahren. Grabowski saß angeschnallt und leicht verkrampft mit angewinkelten Beinen auf dem Beifahrersitz. Koslowski hatte vor dem Einsteigen die CD’s, die auf dem Sitz lagen, auf die Hinterbank geworfen und die Papier- und Essenskrümel auf den Boden gewischt.

      Sie fuhren an einem dieser neu errichteten Einkaufscenter vorbei, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Für Koslowski sahen sie alle gleich aus, architektonisch so reizvoll wie eine Müllverbrennungsanlage. Eine gemischte Seniorengang, bewaffnet mit Rollatoren, schrammelte zielsicher den Fußweg entlang. Zwei Passanten wichen entnervt auf die Straße aus. Muss ja ein tolles Angebot im Center geben, dass die Rentner mit so einem Tempo durch Gegend wackeln, dachte Koslowski. Und da sah er auch schon das Werbeschild: Saturn - nur heute: Kaffeemaschine für neun Euro. Kein Wunder, dass sich Rentner auf einmal zu aggressiven Sprintduellen herausforderten. Er schüttelte den Kopf. Grabowski bemerkte es und lachte leise: »Schon erstaunlich. Sonst können die sich kaum fortbewegen, aber bei einem Angebot für eine Neun Euro Kaffeemaschine werden scheinbar heilende Kräfte freigesetzt, die sogar Jesus neidisch werden lassen. Vielleicht sollten die Krankenkassen einen Deal mit Saturn machen.« Koslowski musste bei der Vorstellung kurz auflachen.

      Wenig später bogen sie von der Landsberger Allee in die Oderbergerstraße, um von dort einen Weg zu den Eingängen der Plattenbauten, die sich auf der Rückseite der Landsberger Allee befanden, zu finden. Koslowski verpasste die Zufahrt. Er seufzte genervt und fuhr weiter, die nächste Querstraße suchend. Linker Hand reckte sich die Oderbruchkippe in den grauen Himmel. Grabowski bekam einen verklärten Blick und sagte: »Hier auf dem Mont Klamott war im Winter die beste Rodelstrecke in Berlin. Davor ist die Maiglöckchenstraße. Mit einer Bande von dort hatten wir uns öfter mal einen Kampf geliefert.«

      Koslowski sah Grabowski erstaunt mit hochgezogener Augenbraue an. Der nahm es nicht wahr und fuhr fort: »Einmal hatten die gemeint, einer von uns hätte den Seitenspiegel eines ihrer Mofas beschädigt. War natürlich gelogen.«

      Seine Stimme ließ in ihrer Bestimmtheit keinen Zweifel zu. »Na wie das damals dann so war, wurde ein Treffpunkt ausgemacht, um die Sache endgültig zu klären. Gegen Abend sind dann so dreißig bis vierzig Jugendliche aufeinander losgegangen. Ich mittendrin. Es dauerte wahrscheinlich keine halbe Stunde, dann waren die Mannschaftswagen der Volkspolizei da.«

      Koslowski hatte da so seine sichtbaren Zweifel, zumindest was das mittendrin betraf. Grabowski bemerkte Koslowskis Blick nicht. Er war in einer anderen Zeit.

      »Mich musste dann mein Vater um 2:30 Uhr von der Polizeiwache abholen. Er war nicht sehr begeistert. Ich war so ungefähr 13 Jahre alt.«

      Grabowski lächelte bei der Erinnerung still vor sich hin. Koslowski fragte sich gerade, was das für ein Vater war, der erst um 2.30 Uhr morgens seinen jugendlichen Sprössling von der Polizeiwache holte, als er rechts vor dem Seniorenheim in die Judith-Auer-Sraße einbog. Dann fiel ihm wieder ein, wie schleppend die Kommunikationswege im Osten oft gewesen waren, vor allem wenn man, wie 75% der Bevölkerung kein Telefon besaß. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Wenn er an Grabowskis Ostberliner Kinder- und Jugendzeit gedacht hätte, wäre ihm mehr der strebsame Jungpionier mit Halstuch und einem ordentlich geknüpften Pionierknoten in den Sinn gekommen. Später sicher mit einem ordentlich gebügelten FDJ Hemd. Koslowski blickte kurz zu ihm hinüber und sah, wie sich Grabowski die Bügelfalte seiner Hose zurechtzupfte. Er nahm es erleichtert zur Kenntnis. Ganz musste er sein Bild von Grabowski nicht korrigieren. Er bog in die Landsberger und hielt vor dem 2. Hauseingang. Nummer 167. Den Wagen parkte er halb auf dem Bürgersteig sehr zum Missfallen von Grabowski, der gezwungen war, die Tür beim Aussteigen festzuhalten, damit sie nicht auf den Asphalt schabte. Er schaffte es. Koslowski verzog anerkennend lächelnd den Mund. Grabowski sah erleichtert aus. Nur, um sich gleich zu fragen: Ging ihm das bei Koslowski immer so, dass er sich wie ein kleiner Schuljunge fühlte, der die Prüfung bestanden hatte?

      Das Zuknallen von Koslowskis Fahrertür, riss ihn aus den Gedanken.

      Koslowski schloß den Wagen nicht ab. Gemeinsam liefen sie zu dem Haus. Auf dem Klingelbrett am Hauseingang fanden sie den Namen Blaschek. Koslowski klingelte. Der Türsummer ertönte und gleichzeitig sagte eine klare Frauenstimme: »2. Stock.«

      Sie nahmen die Treppe. Als sie im 2. Stock ankamen, öffnete sich die rechte Wohnungstür. Eine kleine stämmige Frau, mit rundem Pagenkopf sah ihnen neugierig entgegen.

      Sie gingen ins Wohnzimmer. Koslowski sah sich kurz um. Die braune Schrankwand, ein Relikt aus DDR Zeiten und vermutlich genauso so alt wie ihre Kinder, die erwachsen von einem aufgestellten Foto lächelten, nahm fast die ganze Wand ein. Die Couch, die beiden Sessel und der Couchtisch waren etwas neueren Datums. Koslowski schätzte so um die 20 Jahre. Insgesamt machte die Wohnung einen weniger plüschigen Eindruck, als es Koslowski erwartet hatte. Er wusste auch nicht, warum er ältere Menschen meist mit Plüschsofas und Nippesfiguren in Verbindung brachte. Auf dem Tisch standen eine Porzellankanne und drei dazugehörigen Tassen auf Untertassen. Aber keine Platzdeckchen, bemerkte Koslowski erleichtert. Das Zuckerdöschen und ein kleines Kännchen mit Kaffeesahne standen auf einem ovalen Silbertablett daneben.

      »Ich hab uns frischen Kaffee gemacht. Ich hoffe, Sie trinken welchen. Bitte nehmen Sie Platz«, sprudelte es aus ihrem kleinen Mund. Koslowski nickte, lächelte freundlich. Er spürte ihre Aufgeregtheit und ließ sich in den einen Sessel fallen. Grabowski setzte sich aufrecht in den anderen. Sie ging zum Tisch, goss vorsichtig die Tassen voll und sah die beiden Polizisten an. »Sahne und Zucker nehmen Sie sich bitte selbst.«

      Dann setzte sie sich auf den vorderen Rand der Couch und strich dabei ihren gemusterten Rock glatt.

      Koslowski schüttelte den Kopf und sagte: »Danke, ich trinke ihn schwarz.«

      Während Grabowski zum Milchkännchen griff und sich etwas in seine Tasse goss.

      »Sie wissen, warum wir hier sind?«, hub Koslowski an und sah sie dabei an. Sie nickte erst stumm, um dann zu sagen: »Es geht um den Richter.«

      Sie seufzte und fuhr dann ohne Nachfrage fort: »Wissen Sie, nachdem ich meine Arbeit kurz nach der Wende bei Narva verlor, suchte ich vergeblich zwei Jahre lang nach einer neuen Arbeit.« Koslowski registrierte, dass sie Arbeit sagte und nicht Job. »Ich bekam immer wieder dieselben Absagen: Zu unqualifiziert, zu alt, waren die weniger freundlichen Aussagen. Mein Mann war ein Jahr früher verstorben. Motorradunfall. Wir waren nicht verheiratet. Damit bekam ich auch keine Witwenrente. In der DDR war das ja kein Problem. Ich hatte ja Arbeit. Aber als wir dann Westen wurden und ich arbeitslos, hätte ich die Witwenrente gut gebrauchen können.«

      Koslowski hörte keine Bitterkeit in ihrer Stimme. Es war einfach nur eine sachliche Feststellung.

      »Meine Kinder sind dann nach Westdeutschland, da gab es Arbeit für sie. Sie haben mich unterstützt. Sind gute Kinder.« Sie deutete mit einer kurzen Bewegung ihres runden Kinns zu dem aufgestellten Foto in der Schrankwand, das Koslowski schon bemerkt hatte.

      »Hab auch schon Enkelkinder. Ich seh sie und meine Kinder leider nur viel zu selten«, sagte sie. Wieder seufzte sie, sah gedankenverloren in ihre Kaffeetasse, die noch unberührt auf dem Tisch stand.

      Koslowski schüttelte leicht den Kopf, als Grabowski ansetzte, das Schweigen zu unterbrechen. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann fuhr sie fort: »Meine Bewerbung bei dem Richter war eine reine Verzweiflungstat. Ich hab mich damals auf alles beworben. Ich fühlte mich irgendwie nutzlos. Ich wollte auch meinen Kindern nicht auf der Tasche liegen. Ich bekam dann tatsächlich einen Termin zu einem Vorstellungsgespräch.« Sie sah Koslowski an, lächelte. »Ich machte mir aber nicht allzu viel Hoffnungen. Na ja was soll ich sagen: Das Gespräch fand eigentlich nicht statt. Der Richter führte mich stattdessen in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. Machen sie mir etwas zu essen, mit dem was sie hier finden sagte er. Wenn es gut wird, haben sie den Job, Er war irgendwie ein mürrischer Einsiedler, der mit Menschen nicht gut konnte. Was soll ich sagen, zu meiner Überraschung bekam ich den Job. Ich kochte, wusch, putzte und reparierte. Eine in der DDR lebende alleinerziehende Mutter, die im Schichtbetrieb arbeitete, musste so etwas einfach können.«

      Koslowski