Jozi Salzberg

99,9 %.


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vor sich hin ätzte:

      „Viele Menschen „schmieren“ widerwillig, aber sie tun es, weil sie sich vor den willkürlichen Zurücksetzungen durch die Machtträger (PolitikerInnen, BeamtInnen) fürchten. Es fiele ihnen jedenfalls nie ein, gegen die „Obrigkeit“ vorzugehen. Als Konsequenz verarmt die arbeitende Bevölkerung mehr und mehr. Die Verarmungstendenz wird noch durch die Politik massiv verstärkt, denn die von ihnen beschlossenen Gesetze begünstigen nur die Reichen alias die Unternehmen – was die Arbeiterkammer Österreichs vergeblich kritisiert. Für die PolitikerInnen scheint es sich nicht auszuzahlen, Arbeitnehmer-freundliche Gesetze vorzulegen, durch die der Wert der Arbeit gerecht entgolten werden soll.

      Es ist müßig zu fragen, warum gerade die ohnehin schon mächtigen Konzerne beziehungsweise die Super-Reichen noch vorteilhaftere Gesetze anstreben. Trotzdem beantworte ich mir die Frage, damit ich es Schwarz auf Weiß vor mir sehe: Sie wollen noch mehr Geld und noch mehr Macht. Sie haben nie genug. Ihr Begehr hat einen schlichten Namen: Gier.

      Dieselbe Gier treibt ihnen viele PolitikerInnen in die Hände. Schließlich kommen manche LobbyistInnen nicht mit leeren solchen (wie könnte es anders sein: es gilt die Unschuldsvermutung). Und schließlich weiß doch jedes Kind, dass sich die Gier nach Reichtum und Macht nicht mit redlichen Mitteln befriedigen lässt. Sonst wären Milliarden von redlich und fleißig arbeitenden Menschen allesamt reich und mächtig. Was tun denn die anderen, damit sie zu dem Super-Reichtum gelangen? Den Gierigen bleibt keine andere Wahl, als sich der Korruption zu bedienen, wenn sie mit der anständigen Überzeugungsarbeit nicht weiterkommen. Heutzutage sind die Ressourcen knapp, da „müssen“ sie erst recht nach jedem „Strohhalm“ greifen. Mit Geld geht alles, so scheinen die Finanzstarken zu glauben. So oder so, sie kaufen sich den Weg frei.

      Die zweite Option auf dem Weg zu Reichtum und Macht sind die gewinkelten Verträge, an deren Erstellung ausgefuchste, bestens bezahlte Anwälte beteiligt sind. Konzerne lieben und nutzen sie schon lange.“

      Sieben liebt auch, jedoch nicht Verträge. Ihre Familienmitglieder und Verwandten liebt sie zum Beispiel einfach deswegen, weil sie ein Teil von ihr sind. Sie liebt die Kinder und Jugendlichen der Untergrund-Gemeinschaft, weil sie in ihnen die Zukunft sieht. Die Freunde und Freundinnen liebt Sieben, weil sie allmählich zusammengewachsen sind. Die verlorenen Haustiere liebt sie und trauert um sie. Sie liebt das üppige Grün ihrer Heimat, die schönen Seen und Flüsse, und viele andere Dinge.

      Ganz anders liebt sie - ja, mittlerweile gesteht sie es sich selbst ein – sie liebt und begehrt den Mann, der ihr unverdrossen nachstellt, obwohl sie seine Werbung in den ersten Jahren mehrmals ausgeschlagen hat. Sieben nennt ihn bei sich nur „Er“, weil sie fürchtet, im Schlaf womöglich seinen Namen zu seufzen. Sie ist frustriert, leidet, sehnt sich seit Jahren immerzu nach seiner Nähe. Das war nicht immer so. In den ersten Monaten im Untergrund nicht. Auch konnte sie da noch nicht ahnen, welche Bedeutung er für sie noch bekommen würde.

      2020 war „seine“ Gefährtin im Kampf gefallen. Seitdem sucht er Siebens Nähe, hat ihr sogar mehrmals das Leben gerettet. Sein Durchhaltevermögen imponiert ihr ohne Frage. Dahinter erkennt sie heute seine beständige Liebe, obwohl er nie „die drei Worte“ dezidiert ausgesprochen hat – aber viele Worte macht dieser Mann ohnehin nicht. Seine Rolle als „Lonesome Fighter“ spielt er gut. Das macht ihn für manche undurchschaubar und interessant. Zwei von Siebens Freundinnen waren an ihm interessiert und fragten Sieben rundheraus, ob sie wirklich keine Absichten in „seiner“ Richtung hege, denn in diesem Falle würden sie sich um ihn bemühen. Sieben schüttelte unwillig den Kopf und meinte bissig, sie mögen tun, was sie nicht lassen könnten. Einige Wochen danach unterstellte „er“ Sieben mit einem Glucksen in der Stimme, sie hätte ihn durch ihre Freundinnen auf die Probe stellen wollen. Tatsächlich fände er das erfreulich. Der Versuch, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, verlief im Sande. Ach, zum Kuckuck! Sollte er doch denken, was er wollte, dachte sie konsterniert und um Worte verlegen. Er machte sie immerzu verlegen, ärgerte sie sich damals. Nun, wenn sie ehrlich ist, so muss sie nachträgliche zugeben, dass sie die Entrüstung nur spielte – und zwar sich selbst vorspielte.

      Wenigstens gestand sie sich ein, dass sie an dem Mann etwas ungeheuer faszinierte, sie konnte nur nicht sagen, was. Sieben selbst ist wortkarg, daher ist seine Schweigsamkeit keine Besonderheit für sie. Es muss neben seiner ruhigen und bestimmten Art noch etwas anderes an ihm geben, was sie anziehend findet. Aber was? Darüber grübelt sie seit geraumer Zeit. Die graumelierten Schläfen vielleicht? Nein, das kann's nicht sein, weil Sieben sie kaum zu Gesicht bekommt. Er ist selten ohne Kopfbedeckung anzutreffen. Wenn doch, dann würde Sieben „seine“ beginnende „Skalplosigkeit“ sexy finden. Zum Glück wäre genug Schwarzhaar da, in dem sie bei Gelegenheit ihre Finger vergraben könnte. Sie zieht die Luft durch die Zähne – verlockende Szenen spielen sich in ihren Gedanken ab. Ob er sich auch solche Vorstellungen über sie macht? O ja. Ganz sicher tut er das. Sieben steckt ihre Zungenspitze zwischen die Zähne und beißt darauf in der vagen Hoffnung, ein Schmerz lasse sich mit einem anderen überdecken.

      Als „er“ ihr zum ersten Mal das Leben rettete, dachte Sieben noch an einen glücklichen Zufall. Aber an so eine Häufung von Zufällen glaubte sie irgendwann nicht mehr. Vielmehr hat sie heute den Verdacht (oder hegt die Hoffnung), er verbringe heimlich seine Freizeit nah bei ihr - manchmal ist ihr so, als fühle sie seinen Blick auf sich ruhen. Er behält sie sozusagen im Auge, während er ein Auge auf sie geworfen hat – wie gut, dass er zwei besitzt, hebt Sieben belustigt die Augenbrauen, blinzelt beglückt der Sonne zu, weil sonst niemand da ist, den sie anstrahlen könnte. Ihr gegenüber verhielt er sich stets als „Gentleman der alten Schule“. Wenn auch klar ist, dass Sieben hier ein männliches Stereotyp beschreibt, so hat es doch den Vorteil, dass er bisher nie zudringlich geworden ist in seiner Werbung. Ein wenig hartnäckiger ist er schon geworden, seit er sich über Siebens Lebenssituation Klarheit verschafft hat, was ihm als dem Privatdetektiv des Untergrundes nicht schwer gefallen sein dürfte. Seitdem umgarnt er sie frontal. Ihre Ausflüchte, sie sei schon seit „Ewigkeiten“ verheiratet, lässt er nicht gelten. Gerade das lässt ihn, den langjährigen Einzelgänger nachsichtig schmunzeln. Spätestens nach dreißig Ehejahren hätte man zwar nach wie vor Verantwortung und müsse Rücksicht nehmen, aber man bliebe seiner Auffassung nach nur noch aus „lieber Gewohnheit“ in der Ehe, zwinkert er Sieben zu. Er würde nicht aufgeben, verkündete er mehrmals. Nicht, nachdem er sie endlich gefunden hätte. Also wo sei das Problem, will er wissen. Sieben weiß es nicht, weiß gar nichts, wenn er ihren Blick gefangen hält. Deshalb reißt sie sich spätestens bei dieser Frage von seinen Augen. Manchmal wirken sie dunkel, hypnotisch, gefährlich. Ein nüchterner Mensch würde sagen, der Mann sei schlicht kurzsichtig, und es sei normal, dass sich die Pupillen bei schlechtem Licht weiten. Aus Siebens Sicht hingegen haben diese Augen etwas Faszinierendes an sich. Sie verfolgen sie bis in den Schlaf.

      Da liegt sie nun auf dem staubigen Boden und träumt mit offenen Augen von einem seiner zahlreichen Besuche. Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken. „Zwingt sich“? Wie? Sie zwingt sich, in seiner berückenden Gegenwart, ihre Hand nicht an die typische Rundung der stoppeligen Wange zu legen. Er tut es bei ihr ohne Scheu, umfasst die linke Seite ihres Halses - sie schließt die Augen, sobald sie seine Berührung, seine Wärme spürt, neigt sich ein wenig dieser Hand zu. Er streicht mit dem Daumen sanft über ihr Kinn, zieht die Kontur ihrer Unterlippe sehr langsam und federzart nach. Das aufkeimende „Was auch immer“ velangt, dieser Spur zu folgen. Sie wendet ihm ihre Lippen willig zu. Als hielte er einen Sekt-Kelch, so hebt er ihr Gesicht ein wenig an, mit sanftem Druck presst er seine Lippen auf ihre, verharrt in dieser Position ein gefühltes halbes Jahr – all ihr Blut scheint an diesen Ort zu strömen, pulsierend und erhitzt vom Verlangen nach ihm. Sieben hält still, wartet womöglich auf mehr davon, weiß aber nicht, woher sie das Recht zu solchen Wünschen nimmt. Er scheint Siebens Zwiespalt zu spüren, oder warum sonst springt er wie von einer Tarantel gestochen auf?

      Sieben ist eine erfahrene Frau, aber bei ihm wird sie vollkommen stumm und dumm. Und schwach. Eigentlich würde sie gerne mit ihm eine ganz normale Unterhaltung führen – so wie in den ersten Jahren im Untergrund, bringt aber nur ein Krächzen heraus. Sie erkennt plötzlich, dass er sie durchschaut. Das lässt sie, die harte Kriegerin, peinlicherweise erröten. Er entfernt sich eilig, ohne ein weiteres Wort – und weil sie ahnt, warum