Jozi Salzberg

99,9 %.


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      Was sie hört, ist ein Keuchen, das nicht von ihr selbst stammt. Wird sie verfolgt? Sie drückt sich sofort an die Mauer, geht in die Hocke und greift nach ihrer Waffe. Aber die steckt sie gleich wieder weg, nachdem sie die Läufer als Angehörige der Widerstandsbewegung identifiziert. Etwas oberhalb der Kreuzung 'Klährgasse/ Längenfeldgasse' trifft sie nämlich mit zwei Kämpfern zusammen, die ebenfalls den Kindern auf der Spur sind. Beide sind sie relativ junge Großväter. Sieben kennt sie persönlich, weil sie alle derselben Kampf-Einheit angehören. Keiner unterbricht seinen Lauf. „Unsere Enkel!“, keucht Lumbricus (der Regenwurm) erklärend. Der Achtundvierzigjährige war alles andere als begeistert, als seine Tochter mit Siebzehn ihr erstes Baby bekam, aber heute ist dieses Kind sein ein und alles. Der andere bestätigt „Wir machen das schon.“, und nickt dankend in Siebens Richtung. Der zweite, um wenige Jahre ältere Kämpfer, der sich Corax (Kolkrabe) nennt, hat reichlich Kampferfahrung, wie es bei einem Vize zu erwarten ist. Im Moment ist er Siebens Stellvertreter für den zwölften und den dreizehnten Wiener Gemeindebezirk inklusive Schönbrunns. Eine Gefahr hat der Mann noch nie gescheut. Von seinem Wagemut zeugt sein narbenübersätes Gesicht. Die Kinder sind also in guten Händen. Trotzdem kehrt Sieben nicht gleich um. Vielleicht brauchen die Männer doch noch ihre Unterstützung.

      Siebens Vorausschau und Vorsicht hat der Gemeinschaft oft gute Dienste geleistet. Sie weiß, genau dies schätzt man an ihr, hat sie vermutlich gerade deswegen immer wieder zur Leiterin „ihrer“ Bezirke gewählt – ohne Unterlass hat sie (ungewollt) sieben Jahre hindurch in den halbjährlichen Urnengängen die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint, was alljährlich zu Wahlwiederholungen geführt hat. Die Regeln besagen nämlich, dass dieselbe Person nur einmal pro Jahr die Funktion ausüben darf – für die Dauer von sechs Monaten. Im zweiten Halbjahr darf man Vize sein, was Sieben leider nie erspart blieb. Ist sie mal Vize gewesen, so wandten sich die Leute trotzdem stur an sie, wenn sie ein Anliegen hatten. Manchmal fragt sie sich, ob sie zu gutmütig ist. Sieben selbst hat irgendwann den Antrag eingebracht, dass nach dem Befreiungsschlag dereinst die Regel gelten sollte, wonach so lange niemand in der Kleingemeinde nochmals für eine Funktion gewählt wird, bis nicht alle erwachsenen Gruppenmitglieder an die Reihe gekommen wären, ihren Beitrag für die Gemeinschaft abzuleisten (wer nicht kann, der/die muss eine Befreiungssteuer an die Kleingemeinde abliefern, die individuell nach dem Besitz des/der Beroffenen errechnet wird oder in Arbeitszeit berechnet wird, die wahlweise abgeleistet werden soll). Die Weltgemeinschaft stellte diesen Vorschlag zur Online-Abstimmung – er wurde mehrheitlich angenommen, denn schließlich wird auf diese Weise der Gerechtigkeit genüge getan und zweitens wird Korruption unmöglich gemacht. Außerdem müssen sämtliche Anliegen schriftlich an eine „Sammelstelle“ ergehen, die nach Themen und Dringlichkeit die erste Sortierung vornimmt. LobbyistInnen dürfen sich den FunktionärInnen nicht nähern – damit wird ein zweiter Riegel der Korruption vorgeschoben. Wie froh macht das Sieben. Sie ist aus persönlichen Gründen froh über diese Regeln, insbesondere über die Wahlregel. Später will sie ihre Ruhe haben, nach Möglichkeit für den Rest ihres Lebens. Die Verantwortung für so viele Menschen übernehmen zu müssen, setzt ihr zu. Gerne delegiert sie, gerne lässt sie den Freiwilligen den Vortritt. Daher reagiert sie auch jetzt sofort auf den Wink der beiden Männer und bleibt stehen, respektiert den Wunsch der Kollegen, die „Sache“ selbst zu erledigen.

      Sieben versteht sehr genau, worum es geht. Die Familien haben ihre Aufsichtspflicht verletzt und damit die Kinder der Gefahr ausgesetzt. Hoffentlich geschieht nicht Schlimmeres als das, betet Sieben stumm. Ein Knall! Sieben verkrampft sich, bis sie verinnerlicht, dass da etwas in ihrem Rücken, im 'Lorenshof' explodiert ist, nicht schräg voraus am Spielplatz. Für Unwichtigkeiten riskiert sie natürlich nicht ihr Leben, geht daher nicht nachsehen. Sie weiß ja, dass sie heute niemanden in das Gebäude geschickt hat. Sie tippt daher auf eine Ratte weniger. Die Bedauernswerte.

      Bewegungslos und gut getarnt lehnt die Kämpferin an der Hausmauer hinter einem Strauch, ist sozusagen auf Abruf bereit, noch voller Angst um die Kinder, denn sie nimmt nicht an, dass ihr Kampfgefährte „Toni“ den „ewig“ nicht genutzten und daher vom meterhohen Unkraut überwucherten Spielplatz entmint hat. Der Mann interessiert sich in erster Linie für die Verminung der Straßen, die von den Zeros frequentiert werden, wie sie wohl weiß. Da kann man nur hoffen, dass das Unkraut die Kinder nicht zum Versteckenspielen animiert.

      Jetzt hört man Jahrmarktmusik erschallen. Eine clowneske Stimme aus dem Lautsprecher heißt jovial die „Lieben Kinder“ willkommen und wünscht ihnen viel Vergnügen. Aha, die Zeros haben die sieben Jahre alte Anlage nicht abmontiert. 2020 luden sie hier die SchülerInnen von der nahegelegenen Volksschule in die Busse, um sie zu größeren Sammelstellen und anschließend in staatliche Anstalten zu transportieren. Man schob als Begründung vor, dass die Eltern ihre Sprösslinge nicht ernähren könnten, daher sei es besser, wenn sie von öffentlichen Organisationen betreut würden. Was dem Sturm der Entrüstung folgte, ist Legende.

      Ja. Man wird noch in hundert Jahren von dem Kindesraub berichten, der in einem Meer von Blut geendet war. Das war der Funke, der die Welt endgültig in Brand gesetzt hatte. Die Zeros hatten mit Sicherheit das Gegenteil beabsichtigt, wollten die Zivilbevölkerung in den Griff bekommen. Nachdem es immer wieder bei der brutalen Ausbeutung der ArbeiterInnen zu Aufständen gekommen war, sollten die Kinder der Prozentos ein Druckmittel darstellen. Auf diese Idee war man verfallen, nachdem die Erschießung von protestierenden Arbeitern (die um eine gerechtere Entlohnung kämpften) nicht die beabsichtigte Abschreckung nach sich gezogen hatte (die ersten dreißig getöteten Arbeiter waren jene einer Platinmine in Südafrika am 17. August 2012 gewesen). Wäre die Rechnung der Zeros aufgegangen, so hätte jeglicher Widerstand der Prozentos schlagartig erlöschen müssen. Zugleich sollten die Prozento-Kinder ein Schutzschild für die Enklaven der Reichen sein.

      Bei aller Raffinesse des Zero-Lagers hat sich ein entscheidender Fehler in ihr Denken eingeschlichen: die Negierung der Blutsbande. Das haben die „verfluchten Nullen“ den verarmten Bevölkerungsschichten vollkommen abgesprochen. Darin zeigt sich einmal mehr die Abgehobenheit der Zeros vom Rest der Menschheit. Aus der Sicht der 99,9% sind unumstößlich ihre entführten Kinder der wahre Anlass für den Beginn des Widerstandskampfes der 99,9% gegen die „verfluchten Nullen“, die all das getan haben, weil sie ihre Gier nach noch größerem Reichtum uns seiner Absicherung – vor allem das - befriedigen wollten. Nein, aus der Sicht der Untergrundbewegung und aus der Sicht von Sieben stehen die Kinder und Jugendlichen nicht zur Disposition. Es hat zwar Leute gegeben, die meinten, man sollte stillhalten, damit den Kindern nichts geschehe. Aber der bekannte Professor an der Universität Wien und Autor zahlreicher Bücher über den Nationalsozialismus überzeugte die Menschen, dass die Täter jener Zeit mit solch einer Taktik (der Ungewissheit über das, was einem selbst und seinen Angehörigen bevorstünde) erreicht hatten, dass die Menschen sogar in den Konzentrationslagern stillhielten und reihenweise ohne Gegenwehr ermordet wurden.

      Eine knappe Minute ist vergangen, da hört Sieben das Klatschen der Sohlen auf dem heißen Asphalt und das bekannte Keuchen (von Lumbricus, der an Asthma leidet). Die Männer sind heute nicht in ihrer Eigenschaft als Kämpfer unterwegs, sondern ganz privat als Großväter. Sie bringen ihre Enkelkinder in Sicherheit, jeder hat sich ein Kleines auf die Hüfte gesetzt. Mit der freien Hand umklammern sie ihre Waffen, visieren die ehemalige Volkshochschule gegenüber der 'Klährgasse' an und laufen hinein. Sicherlich werden sie schon sehnsüchtig von den Kindeseltern erwartet, die wegen der Pflichten gegenüber den anderen minderjährigen Kindern nicht zu Einsätzen an der Oberfläche zugelassen sind – Waisenkinder gibt es schon genug.

      Für Sieben ist die Sache erledigt. Sie ahnt, dass die kleine Gruppe über die Kellerräume und unterirdischen Gänge in ihr Quartier zurückkehrt. So ist es sicherer. Der Untergrund ist ihr Revier. Die Untergrund-Frau beschließt, es ebenso zu halten. Also ab mit ihr in den nächstgelegenen Keller. Hier kennt sie jeden Meter, schließlich hat sie seinerzeit in „ihrem“ Bezirk fleißig die Erdgänge mitgegraben, welche die Keller miteinander verbinden.

      Die Widerstandsbewegung nutzt für ihre Zwecke die Kellerräume und die eigenhändig gebauten Schächte, von denen manche so geräumig sind, dass man darin mit dem Fahrrad oder einem Tretroller fahren kann. Es steht außerdem die alte Kanalisation zur Verfügung, die von allen nur „Der dritte Mann“ genannt wird (nach dem 1949 gedrehten Spionagethriller „The