Jozi Salzberg

99,9 %.


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Mann“.

      Bei den Kindern des Untergrundes ist der verbreiterte unterirdische Teil des Wien-Flusses ein besonders beliebter Wasserweg. Nicht beliebt sind die Rohre, die früher von der Stadtverwaltung für die Gasleitungen, für die Stromkabel, für die Telefonleitungen, für die Glasfaserkabel und Ähnliches verlegt worden waren. Ihr Durchmesser beträgt einen halben Meter, kommt einem aber enger vor, unglaublich eng sogar – schaudert Sieben.

      Wo die Wasserschächte intakt sind, nutzt man auch die. Aber nur die Schwindelfreien nehmen die alten (römischen) Aquädukte. Die haben den Vorteil, dass sie von den Zero-Söldnern niemals leichtfertig beschädigt werden, weil die Zeros selbst auch das Wasser der Gebirgsquellen schätzen. Bei einer Entdeckung müsste man daher „nur“ die Scharfschützen fürchten. Wie gut, dass man die selten in der Nähe der Bauwerke antrifft.

      Überland nutzt die Bewegung gerne die vorhandenen Schienen. Man verlegte außerdem selbst Schmalspurschienen, die man bewusst mit Gras halb überwuchern lässt. Sie eignen sich hervorragend für die Schienenfahrräder und Loren (für den Personenverkehr) sowie für die Handhebel-Draisinen zum Lastentransport. Vorsorglich verkleidete man alle Fahrzeuge mit Tarnfolien, sodass sie in der warmen Jahreszeit einem dichtbelaubten Busch ähneln und im Winter einem Schneehaufen. Es stehen der Bewegung also viele Möglichkeiten zum Weiterkommen offen.

      Nur selten oder im „Notfall“ begibt man sich in die erwähnten, sehr engen Betonrohre der ehemaligen Wiener Stadtwerke und wenn, dann höchstens zur kurzen Unterquerung der jeweiligen Straße oder einer Kreuzung. Für den breitschultrigen Corax sind diese Schläuche sowieso tabu, denn er würde darin stecken bleiben. Vielleicht trieb er einst deshalb ganz freiwillig besonders geräumige Stollen durch das Erdreich Wiens, grinst Sieben. Sie radiert mit ihren Hüften zwar die Spinnweben von den Wänden, aber sie passt ohne Schwierigkeiten durch die alten, engen Beton-Schächte.

      Nachdem sich direkt vor ihr eine Öffnung befindet, beschließt sie wenig begeistert, durchzukriechen. Immerhin ist das Rohr der direkte Weg zu ihrem Ziel. Nur leider geht es nie ohne Ekel ab. Man hat es sich wegen der relativ kurzen Distanzen erspart, die Belüftungsstangen für die Frischluftzufuhr zur Oberfläche zu treiben, wie sonst überall entlang der Erdgänge. Was für eine dumme „Unterlassungssünde, ärgert sich Sieben, die gerade darunter leidet. Die Luft „steht“ hier. Diese engen Durchlässe hasst nicht nur Sieben, denn darin stinkt es, es ist feucht und stickig heiß. Man bekommt unweigerlich Platzangst, und obendrein muss man auch noch Ratten vor sich her treiben, die sich seit dem Chemie-Skandal unverdrossen vermehren, als wollten sie die ursprüngliche Population so schnell als möglich ersetzen.

      Es passiert immer wieder, dass die Biester einfach über Siebens Rücken spazieren und ihr dabei Unaussprechliches antun, während sie sie fluchend und fuchtelnd vor sich her zu treiben versucht.

      Nach dem Durchkriechen ist man jedes Mal schweißgebadet. Diesmal muss die Testerin des Tarn-Anzugs außerdem ganz besonders auf ihre neue, wertvolle Ausrüstung achten, kann daher nicht wild drauflos robben. Den Umhang, den sie (ebenso wie den Anzug) zu Testzwecken trägt, den hat sie sorgfältig gefaltet und im Rucksack verstaut. Immer schön sachte, damit nichts beschädigt wird, ermahnt sie sich. Lieber würde sie ja schneller tun, um es hinter sich zu bringen. Es dauert aber auch so nicht besonders lange, und sie ist auf ihren Posten zurückgekehrt.

      Die Neunundvierzigjährige hat die Stufen zum vierten Stock im Lauf genommen und ist im Unterschied zum „Abstieg“ nicht einmal außer Atem. Der Notiz-Zettel liegt noch da. Sieben will ihn schon zerfetzen, überlegt es sich aber anders. Ein alter Kochtopf mit Deckel ist ein gutes Versteck. Dort deponiert sie die Nachricht. Für alle Fälle. Vernichten wird sie ihn, bevor sie die Wohnung verlässt. Die Zero-Söldner sollen ihn besser nicht zu Gesicht bekommen. Sicherlich würde die Gegenseite anschließend ihre Pläne ändern.

      So, jetzt kann sie ein wenig „chillen“, wie es die Kinder auszudrücken pflegen, wenn sie von einer Pause sprechen. Bei welchem Gedanken hat sie sich vorhin unterbrochen? Ach ja. Die Leute wollten damals in der „guten alten Zeit“ nicht auf die Warnungen hören.

      Damals, das ist für Sieben die Zeitspanne zwischen dem Zweiten Weltkrieg, der im September 1945 endete und dem Jahre 2020, Maximal siebzig Jahre sind das – man staune! Es hat also seit dem letzten Weltkrieg nur ein Menschenleben gebraucht, um die Leute alle guten Vorsätze vergessen zu lassen. Was heißt siebzig Jahre?! Viel früher begann es. Dort, wo der Krieg nichts zerstört hatte (in den USA beispielsweise), da musste man keine Zeit mit dem Wiederaufbau vergeuden. Dort konnte man sich frühzeitig überlegen, wie man die neue Ordnung der Welt gestalten könnte – natürlich zum Nutzen aller Amerikaner. „Aller Amerikaner?“ oder waren eher alle Personen gemeint, die zum Kreise der sogenannten Geschäftsleute-Regierung des Präsidenten Dwight D. Eisenhower gehörten? Schließlich lässt ihr Abbau des „New Deal“ den Schluss zu („ND“ war eine Wirtschafts- und Sozialreform, die auch dem „gewöhnlichen“ Volk Wohlstand gebracht hat – das europäische Pendant war später der Wohlfahrtsstaat, der bis in die 1980er Jahre funktionierte).

      In den kriegszerstörten Regionen der Welt dauerte es zwanzig bis drießig Jahre länger, bis einige wenige Personen nach dem Vorbild der Eisenhowerschen Geschäftsleute-Regierung nach der Macht griffen und dem Wohlfahrtsstaat den Garaus machten. Sie sorgten dafür, dass der Niedergang des allgemeinen Wohlstands in Europa schleichend begann, verbrämt mit schönen Worten und Theorien, sodass es kaum jemandem außerhalb der Science Community als hinterfragungswürdig auffiel. Leider fasste niemand die aussagekräftigsten Erkenntnisse der WissenschaftlerInnen zusammen. Daher wirkten sie wie Flickwerk. Schlimmer noch: Weil sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und -Trägerinnen nie die Mühe machte, die Ausgangsdaten der Forschungsarbeiten anzuschauen, sprachen die PolitikerInnen sogar von widersprüchlichen Aussagen. Sieben denkt, es hätte einiger Universalgelehrter gebraucht für kluge Verknüpfungen der Erkenntnisse, aber kein Staat der Welt leistete sich solche.

      „Damals“ klingt so weit weg. Für die Menschen des Untergrunds ist es das auch, gefühlsmäßig zumindest, obwohl seit dem totalen Crash nur sieben Jahre vergangen sind. „Damals“ ist niemand ernsthaft gegen die Fehlentwicklungen vorgegangen.

      Die Politiker agierten nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst als vernünftige Verwalter, wohl deswegen, weil ihnen noch der Schreck des Krieges in den Gliedern steckte. Außerdem waren die Überlebenden sensibilisiert und achtsam. Aber schon in den 1980ern spielten sich die „Diener“ des Staates und seiner Menschen zunehmend als Herren auf, indem sie auf den Willen der breiten Massen „pfiffen“, vermutlich deshalb, weil sich die PolitikerInnen allmählich zu den Profiteuren des Systems entwickelten und dieses tatkräftig zu forcieren gedachten? Wer, wenn nicht Ex-PolitikerInnen konnten nach dem Ausscheiden aus der Politsphäre mit den lukrativsten Vorstandsjobs liebäugeln? Kein Wunder, dass sie denen zuarbeiteten, die sie später großzügig bedenken würden. Das allein war schon Anlass genug für sie, die Super-Reichen zu schonen.

      Heute würde kein Mensch des Untergrunds ernsthaft behaupten, dass beispielsweise den Millionären weniger weggenommen werden dürfe (in der Form einer Steuer), als deren Sekretärin - so geschehen in den Jahrzehnten vor 2012 und kritisiert durch niemand geringeren als US-Präsident Barack Obama und einem seiner Unterstützer, dem Milliardär Warren Buffet(nachlesen kann man alles unter den Links:http://www.handelsblatt.com/politik/international/rede-zur-lage-der-nation-buffetts-sekretaerin-zahlt-prozentual-mehr-steuern-als-ihr-chef/6109240-2.html sowie http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/keine-millionaerssteuer-fuer-obama-514470/index.do). Damals verhinderte die Reichen-Clique Amerikas ein gerechteres Steuersystem, weil sie weiterhin erstens begünstigt bleiben- und zweitens die Steuerschlüpflöcher für sich nutzen wollte. Die Macht dazu hatte sie, ihren Willen durchzusetzen, denn in den USA waren die Politiker nichts anderes als die „gekaufte Marionetten“ der Reichen – zumindest stellte sich das für die Europäerin Sieben so dar. Dies deswegen, weil die Konzerne die Wahlkämpfe der Abgeordneten finanzierten und danach Gegenleistungen