Jozi Salzberg

99,9 %.


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weil er sich ihr nicht direkt offenbarte. Vorsichtig – wie es Siebens Art ist - hielt sie lieber an der Vorstellung fest, er und sie könnten gute Kampfgefährten sein. Solche Leute sind überlebenswichtig. Wie auch immer, sagte sie sich, eines Tages käme schon noch alles ans Licht.

      In dieser Phase war es ohnehin nicht so sehr der Inhalt seiner Worte, der ihr den Atem raubte, sondern die Art, wie er sich ihr zuwandte: stets sprach er sie mit einer Stimme an, die einer leisen, leichten Liebkosung glich - ein warmer Atemhauch auf ihrer Haut - wenn sie nur daran denkt, richten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Sie kann es nicht verhindern. Seine Wirkung ist belebend und benebelnd zugleich. Ein Schauer jagt ihren Rücken hinab, sammelt sich irgendwo, sie will nicht so genau wissen, wo. Sie fühlt sich seltsam leicht, als hätte sie zuviel Champagner getrunken, der anschließend unkontrolliert durch ihre Adern perlt. Es prickelt, wenn er sich an sie lehnt, wenn er ihr kleine Komplimente zuraunt, ein jedes verblüffend originell, auf sie allein zugeschnitten. Mit den anderen Leuten spricht er auch leise, aber die „Schokoladenstimme“ bewahrt er für sie allein.

      Die Morgenröte, von der Sieben spricht, ist eine Zeit der schläfrigen Trägheit, der lustvollen Erwartung. Manches liegt noch im Dunkeln, geheimnisvoll in den letzten Schatten der Nacht.

      Nur langsam steigerte er in „ihrer“ ersten Phase die „Dosis“, bis sie sich für ihn als Mann zu interessieren begann. Dabei wusste sie sehr gut, dass sie Verbotenes dachte. Aber sie hatte die Macht über sich verloren. Vor dieser magischen Zeitspanne hätte sich Sieben unter dem Begriff „bezwingende Zärtlichkeit“ absolut nichts vorstellen können. Sie schmolz wie Eis an seinen Lippen. Und sie tut es noch. Verdammt. Sie versenkt frustriert die Zähne in ihrer Unterlippe.

      Hm, heute ist es sehr wohl der Inhalt seiner Worte, der sie um den Verstand bringt. Er beherrscht die Kunst, sich präzise genug auszudrücken, um Siebens erotische Fantasien anzufachen. Oh ja. Sieben fühlt, wie Hitze in ihre Wangen steigt. Wie gut, dass niemand sie erröten sieht. Seine Zweideutigkeiten sind gerade eindeutig genug. Aus Siebens Perspektive lässt er keinen Zweifel über seine Wünsche offen. Ihr wird ungemütlich heiß bei dem Gedanken. Wie könnte sie sich ablenken? Besser nicht an ihn denken, ermahnt sie sich.

      Um auf die Zähne zurück zu kommen – seine sind einladend weiß, waren es schon vor sieben Jahren. Ihr fällt die Zahnpasta-Werbung von früher ein. Sieben seufzt voller Wehmut, denn diese alten Tage sind 2020 abrupt zu Ende gegangen. Die Untergrundleute führen heute ein vollkommen anderes Leben. „Er“ löst heute Fälle, die früher in die Agenden der Polizei gefallen wären. Sieben kämpft tagein, tagaus für das Überleben der Untergrundbewegung, anfangs ohne konfessionelle Waffen, praktisch nur mit ihrem Mut und Einfallsreichtum. Beide kämpfen sie auf lange Sicht für den Sieg der 99,9 %.

      1 eh noch gut

      Sieben, die altgediente Guerilla, Silberlöwin, gewählte Anführerin und heute in ihrer Eigenschaft als Späherin und Wächterin im Dienst, hat seit den frühen Morgenstunden keine Verdächtigen Feindbewegungen beobachtet. Daher droht ihrer Gemeinschaft im Moment erfreulicherweise keine unmittelbare Gefahr. Sieben nutzt die Gelegenheit, um weiter in ihrem alten Tagebuch zu schmökern. Es kommt ihr vor, als lese sie in einem Science-Fiction-Roman.

      Wie anders doch 2012 aus der Sicht der Tagebuchschreiberin alles gewesen ist, so frei und unbeschwert war sie damals! Und das, obwohl es manchmal schien, als brächen sämtliche Geschwüre der Welt nach der Reihe auf. Aus heutiger Sicht war es ein „Tanz auf dem Vulkan“. Die TänzerInnen spürten die Hitze, rochen den Schwefel, sahen den Rauch, verbrannten sich mitunter an der Lava. Trotzdem schien es, als erschöpfte sich für den „modernen Menschen“ die größte Qual in der Sorge, ob die Tiefkühltruhe das Lieblingsmenü beherbergte, oder welche Einkaufsstraße sich für die nächste Shopping-Tour besser eignete.

      Grob Negatives schob man weit von sich. Teilweise finden sich zwar im Tagebuch Seiten voll „Geraunze“ (so nennen ÖsterreicherInnen Genörgel, Jammerei und Geschimpfe), aber nur, weil es so Sitte war in Wien. „Sich Gedanken machen“ nannte Sieben das lieber. Wie immer man es nennen mochte, die Raunzer und die Raunzerinnen verschlossen zumindest nicht die Augen vor den Missständen, während andere das Hinterfragen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen von vorne herein ablehnten, weil sie meinten, zum „Herum-Philosophieren und Politisieren“ keinen „Geist“ und keine Zeit zu haben. Außerdem blicke man „in dem Ganzen“ eh nicht durch und könne nichts dran ändern, behaupteten sie kopfschüttelnd in Richtung der „Gschaftlhuber“ (wie man auf Österreichisch die Wichtigtuer nannte). Unter diesem Begriff subsumierte man tadelnd alle „Besserwisser“ und auch die AktionistInnen. Dabei lagen die Verweigerer mit ihrer Einstellung ganz im Trend der aufkommenden „neo-biedermeierlichen Idylle“. Eine heile Welt ersehnten sie fürwahr, doch keine gute Fee schwang den Zauberstab für sie und machte „alles wieder gut“. Im Gegenteil, die Arglosen hatten eigenhändig die „Dschinn“ (die Besessenen und Wahnsinnigen)losgelassen, denn immerhin wählten sie regelmäßig jene Leute, die anschließend den Stöpsel aus der Dschinn-Flasche zogen. Nun wurden sie sie nicht mehr los.

      Sieben selbst sah oft ohnmächtig dem wahnsinnigen Treiben auf der Welt zu, schüttelte den Kopf und murmelte höchstens: „Das gibt es doch nicht!“ oder: „Wo soll das noch hinführen, wenn rund 700 LobbyistInnen nur allein des Finanz- und Bankensektors in Brüssel die Abgeordneten derart bedrängen, dass die nicht mehr normal arbeiten können?!“ Und dabei kamen noch Tausende von anderen LobbyistInnen aus anderen Bereichen dazu.

      Meistens war die Tagebuchschreiberin zu bequem, um den Versuch zu wagen, „die bösen Geister in die Flasche zu bannen“ - und zu mehr Aktion als Sieben, der eifrigen Unterschreiberin von Petitionen, war 2012 selten jemand zu bewegen, insbesondere dann nicht, wenn es derjenigen oder demjenigen „noch“ gut ging.

      Das unbewusst verwendete „Noch“ stützt einmal mehr Siebens Vermutung: Es scheint so, als hätten Viele das kommende Unheil erahnt, ohne es wahrhaben zu wollen. Dieses „Noch“ war das einzige Zugeständnis der breiten Masse, ihr Unbehagen und ihre Unzufriedenheit über den dräuenden Verfall ihrer heilen und gut funktionierenden Automaten-Welt in Wort(e) zu kleiden. Wenn etwas falsch lief, erwartete man von den offiziell zuständigen Stellen, dass die sich darum kümmerten, was sie jedoch meistens nicht zufriedenstellend taten. Dann hatte man wenigstens wieder etwas zu meckern. Dabei hätte man nicht den Hilflosen oder die Hilflose mimen müssen, hätte „den Kopf nicht in den Sand stecken“ müssen. Man hatte doch genug Möglichkeiten (Zeitungen, Internet, Fernsehen, Radio, Bibliotheken), um sich über (fast) alles ein Bild zu machen. Was also hatte 2012 Sieben an einem „gewöhnlichen“ Tag in ihr Tagebuch geschrieben?

      „15.3.2012: Eigentlich fällt mir nichts Notierenswertes, weil Weltbewegendes ein, an dem ich beteiligt gewesen wäre. Habe heute nicht die Welt gerettet, hatte es auch gar nicht vor. Im Status der Untätigkeit kann ich wenigstens nichts verbrochen haben. Oder? Gewissen, gib Ruhe! Mir ist nur fad'.

      Ich warte auf meine Familie, die sich wieder einmal verspätet – ein Blick auf die Armbanduhr bestätigt das. Auf die Pizza muss ich auch warten, weil sie noch im Backrohr bruzelt. Ihr Duft lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. In der Mikrowelle dreht sich eine Schüssel mit Gemüse. Die Teekanne hat erst begonnen, das heiße Wasser auf den Brombeer-Teebeutel zu spucken. Noch sieben Minuten, bis die Küchenuhr klingelt. Diese Warterei nervt!

      Die Zwischenzeit werde ich nutzen, um die Online- und die Tele-Nachrichten zu durchforsten, um zu sehen, was andere Leute heute so getrieben haben, oder von wem oder was sie getrieben worden sind. Schließlich ist nichts leichter als das in unserer „hippen“ Gesellschaft, das behaupten viele Leute. Obwohl, um getrieben zu werden muss man sich treiben lassen. Und ich? Zu welcher Gruppe gehöre ich, wenn ich zu den Informierten gehöre? Und überhaupt: Hängt es von der Daten-Menge ab, ob ich ausreichend informiert bin? Oder vom Wahrheitsgehalt? Von manipulativen Absichten der InformantInnen? Wovon? Und wenn ich nichts lese? Was dann? Macht es überhaupt einen Unterschied? Wie verzwickt, wenn ich bedenke, dass das Kennzeichen des „Informationszeitalters“ die Überflutung mit allerlei Unwichtigem ist. Dabei behaupten manche, Information sei der neue Gott, weil der Informierte Macht erlange. Zuerst könne er die Information „versilbern“ und dann käme er weiter, denn wo der Reichtum sei, dort wäre