Jozi Salzberg

99,9 %.


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der Öffentlichkeit gesetzgeberisch tätig zu werden. Das TPP-Abkommen bedroht unsere Demokratie, untergräbt nationale Souveränität, Arbeiterrechte, Umweltschutzmaßnahmen und die Freiheit des Internets. Wir rufen Sie auf, diese Machtübernahme durch Großkonzerne abzulehnen.“

      Doch neben Australien und Neuseeland sträubten sich zu wenige Länder, das Abkommen zu unterzeichnen. Sieben war verzweifelt, weil nicht einmal ein Netzwerk von Millionen Mitgliedern die Macht derjenigen beschränken konnte, die nicht genug bekommen konnten. Trotzdem tat Sieben nicht mehr als diese Petition zu unterschreiben und sie an FreundInnen weiterzuleiten. Was, so fragte sie sich deprimiert, was hätte sie schon „groß“ tun können?

      Erstens (sie weiß es natürlich) hätte sie persönlich politisch aktiv werden müssen, um eine winzige Chance zu erhalten, etwas zu verändern. Anprangern von Fehlern allein wäre dabei zu wenig, das tun nämlich sämtliche „Populisten“, ohne dass sich durch ihr „Tröten“ je etwas zum Besseren gewendet hätte, stets war das Gegenteil der Fall. Nein. Die Populisten bedienen nur wenige Anhänger und schädigen die anderen Menschen. So will ich es nicht! Man muss gute Angebote haben, alternative Angebote für die ganze Gesellschaft. Flugs wäre man zum Politiker oder zur Politikerin mutiert. Aber wegen der vielen Korruptionsaffären wurden PolitikerInnen zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts sowohl von ihren WählerInnen als auch von den Wahlverweigerern und -Innen verachtet und jede(r), der/die konnte, mied das politische Parkett.

      Zweitens hätte Sieben niemand geglaubt, niemand außer einer Handvoll von „WeltuntergangsspinnerInnen“ oder sogenannten „VerschwörungstheoretikerInnen“, die genauso belächelt worden wären wie sie selbst. Nun, Sieben hätte ihre Zukunftsausblicke selbst nicht geglaubt, es sei denn, ein erprobtes, anerkanntes technisches Gerät hätte sie auf die Kommastelle genau ausgerechnet und ausgespuckt.

      Abgesehen von der Unglaubwürdigkeit der Wahrsager-Methode hätte es eine weitere Hürde gegeben: Die Macht der Konzerne. Missliebiges wurde beispielsweise sofort von den Konzern-Anwälten beeinsprucht und von bezahlten „Fachleuten“ als Unsinn abgetan. Diese Dementis und Gegendarstellungen ließ man in den Medien als Wahrheit verbreiten.

      Ernstzunehmenden KritikerInnen verpasste man zweitens nach Möglichkeit „Maulkörbe“, was nichts anderes heißt, als dass die Anwälte des angegriffenen Konzerns bei Gericht ein Verbot erwirkten, wonach sich die KlägerInnen in der konkreten Sache nicht öffentlich äußern durften.

      Im schlimmsten Fall wurde ein Kritiker oder eine Kritikerin selbst mit Klagen eingedeckt – die Verfahren zogen sich über Jahre und kosteten einem „Normalverbraucher“ oder einer „Normalverbraucherin“ seine Existenz. Solcherart verunsichert, wolle sich niemand mit den Mächtigen anlegen, wollte zu Anfang des dritten Jahrtausends niemand sehen, was in der Welt schief lief.

      Niemand? Nicht ganz. Ausgenommen sind 'Attac', 'Transparency International', einige Nobel-PreisträgerInnen, Menschenrechts-, Tier- und Naturschutz-Organisationen und die 'Occupy-Bewegung'. Aber diese Leute waren eine Minderheit, ein „ kleines Dorf“ nur. Und ihnen hörte nur eine Minderheit zu. Obwohl das Grüppchen allmählich zu einer Bewegung anschwoll, so kann man getrost behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung (als Massenbewegung) weiterhin politisch inaktiv blieb, dass also aus der Sicht der Mächtigen den Warnern und Warnerinnen „kein Mensch“ richtig Gehör schenkte.

      Siebens Gehör funktioniert einwandfrei. Ein heller Klang dringt an ihr Ohr. Eine Kinderstimme?! Auf den Straßen Wiens?!

      Sieben traut ihren Augen nicht, womit sie ausdrücken möchte, dass sie entrüstet und entsetzt ist. Der Platz unter der Sonne ist todbringend für alle Mitglieder der 99,9%. Aber Kinder sind zudem eine begehrte Beute für die Zeros -diese verfluchten Nullen, vorausgesetzt, sie überleben den Aufenthalt in der verbotenen Zone lange genug. Sieben springt in Panik auf, denn sie weiß, dass niemals Zero-Kinder hier herumspazieren würden. Mit hundertprozentiger Sicherheit gehört dieses Kind zu Siebens Untergrund-Gemeinschaft.

      Die Späherin lässt sich wieder auf die Knie fallen und duckt sich tief. Sie ist zu weit weg, um verhindern zu können, dass das Kind weiterläuft oder um überhaupt irgendetwas bewirken zu können, dessen ist sie sich rechtzeitig bewusst geworden.

      Aus der 'Klährgasse' kommt das Kind, bleibt an der Mündung zur 'Längenfeldgasse' kurz stehen und blickt zurück, ruft offenbar jemandem etwas zu. Sieben hofft, dass es zurückgerufen wird oder dass es zur Einsicht kommt und dorthin zurückkehrt, woher es gekommen ist. „Sofort, wenn's geht!“, doch mit den telekinetischen Fähigkeiten Siebens ist es nicht weit her. Das Kind bewegt sich nach dem kurzen Zögern hüpfend zum 'Steinbauerpark' hinauf! Ist ihm denn die Gefahr nicht bewusst?! Nein, offensichtlich nicht. Um Himmels Willen! Jetzt folgt ihm ein zweites Kind.

      Sieben hält nichts mehr in ihrem Ausguck, bekräftigt sie ihre Entscheidung, zur Rettung der Kinder zu eilen, bei sich. Oh, jetzt nur nicht dumm werden, ermahnt sie sich, schüttelt unwillig den Kopf. Ihre altruistische Ader will mit ihr durchgehen.

      Es wäre nicht nur pflichtvergessen, sondern grob fahrlässig, würde sie die enorm wichtige Information, an die sie heute Morgen gelangt ist, mit ins Grab nehmen. Nur für den Fall, dass sie nicht mehr persönlich dazu in der Lage wäre, die Nachricht an die Untergrundbewegung weiterzugeben, kritzelt sie eiligst einige Zeilen in ihren Notizblock, reißt den Zettel heraus, legt ihn auf den Schutt und beschwert ihn mit einem Ziegel-Bruchstück. Ihre Familie und der engste Freundeskreis wissen, von wo aus sie am liebsten die Gegend beobachtet. Sollte sie nicht zurückkehren, so würde man hier zuerst nach ihr suchen und den Zettel finden – falls ihn nicht die Gegenseite zuerst fände. Letzteres wäre gar nicht gut. Leider ist es nicht so unwahrscheinlich, wie Sieben es sich wünschen würde, dass sich ein Söldner hierher verirrt. Aber die Gefahr, dass ihm gerade der Zettel ins Auge springt, ist relativ gering. Die Frau kann und will sich jetzt nicht den Zweifeln ergeben, lässt sich nicht von ihrer Rettungsmission abhalten – es überwiegt die Sorge um die Kinder. Sie runzelt sorgenvoll die Stirne, was unter ihrer „Maske“ ein Kunststück ist – jetzt verschwendet sie auch noch Zeit mit solch unnützen Gedanken, schnaubt sie ärgerlich.

      „Jetzt aber raschest hinterher!“, feuert sie sich selbst an, was gar nicht nötig wäre. Nur ist es so, dass sie es gewohnt ist, als 99,9%-Leiterin des 12. und 13. Wiener Gemeindebezirks den Aufbruch zu befehlen, sodass sie es auch dann tut, wenn gar keine(r) da ist, die/der es hören könnte. Ihr Vize Corax ist ihr darin sehr ähnlich, weswegen sie die Eigenheit nicht als persönliche Charakterschwäche (wie zum Beispiel Wichtigtuerei) klassifizieren mag - es könnte natürlich sein, dass er sich nur ein Beispiel an ihr nimmt, aber die Bedeutung eines solchen Verhaltens will sie jetzt erst recht nicht analysieren, es wäre auch unwichtig. Immer, wenn sie gestresst ist, fallen ihr die unnötigsten Dinge ein. Das wundert sie einigermaßen, ist aber ebenso unwichtig.

      Die kleine Frau keucht die vier Stockwerke die Treppen hinunter. Nicht, weil sie etwa schlecht trainiert wäre, keucht sie (ganz im Gegenteil), sondern weil die Angst um die Kinder ihr den Atem raubt. Ihr Puls rast, in ihren Ohren rauscht das Blut. Unten beziehungsweise an der Kreuzung angekommen, erkennt sie, dass sie zu lange gebraucht hat: von den Kindern keine Spur! Aber Sieben glaubt zu wissen, wohin sie sich wandten, nein, sie weiß es genau, denn es ist naheliegend, dass der verlassene Spielplatz die Kleinen lockt. Sie hetzt also die 'Längenfeldgasse' bis zur 'Klährgasse' hinauf. Die möglicherweise von den Zero-Söldnern angebrachten Bewegungsmelder sind ihr in diesem Moment egal.

      Von den Sensoren, welche der Feind in den verschiedenen Stockwerken der Ruinen genauso angebracht hat, wie in den Straßen unten, geht große Gefahr aus. Keine Frage. In „ihrem“ Haus sind keine, davon hat sie sich heute schon überzeugt. Aber falls im Stockwerk gegenüber welche sein sollten, dann hätte man sie ohnehin schon entdeckt, weil sie vorhin aufgesprungen ist. In diesem Fall hätte ein Sensor ihren Standort an die Zero-Zentrale gemeldet. Das alles ist jetzt uninteressant, fegt sie die sich ihr aufdrängenden Bedenken fort, denn sie bangt um das junge Leben mehr als um ihr eigenes. Dass sie ohne Tarnung ist, sobald sie aus dem Haus läuft, interessiert sie dementsprechend wenig. Die Tretminen fürchtet sie schon mehr. Im Lauf erreicht sie die 'Klährgasse', ohne auf eine getreten zu sein. Glücklicherweise die Kinder auch nicht. Das hätte sie gehört. Dass in den letzten Tagen ihr alter Kampfgefährte Toni