Jozi Salzberg

99,9 %.


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Nie wird sie den verfluchten mediengeilen Zero Rodney (jüngster Spross des amerikanischen Kensey-Clans) vergessen, der im selben Jahr, als sich der Widerstand der 99,9% zu formieren begann, zwei Kleinkinder „mitzunehmen“ versuchte, nachdem er deren Mutter vor den Augen der Kleinen abgeknallt hatte. Mit der Waffe fuchtelnd, kreischte er, es sei sein Recht, die „kleinen Kröten“ zu Geld zu machen. Die Pistole in der einen Hand, packte er mit der freien Faust das feine Blondhaar und riss sinnlos daran, bis die Köpfchen aneinanderschlugen. Die Eltern der Beiden würden ihm Geld schulden, also werde er sich sein Recht nehmen, spie und spuckte der Mann rechthaberisch, steigerte sich in eine Raserei hinein, deren Grundlage wohl sein Größenwahn gepaart mit Selbstgerechtigkeit war. Schließlich war der „Kinder-Pfand“ Dank Mun-Dog seit ungefähr 2016 üblich in solchen Fällen, wo es sonst nichts zu holen gibt.

      Ja, grinste der Zero zufrieden, Mun-Dog hat einiges „auf dem Kasten“ - wer wüsste das besser als er, der er seit dem Tode seines Vaters (genannt „Cowboy II.“) ein Mitglied des geheimen Zirkels ist. Den „Kreis“ hatten seit 1954 sein Großvater („Cowboy I.“) und danach Vater geleitet – sehr zum Nutzen der oberen Kreise - ohne die Schläue seines Vaters hätte Rodney heute nicht überall auf der Welt Besitztümer.

      Heute ist der umtriebige Mun-Dog die ideale Besetzung für den Posten, da ist sich Rodney sicher. Dessen kultivierte Niedertracht ist legendär. Nun, was der kann, dass kann ein Kensey schon viel länger. Nur blöd, dass er fast sein ganzes Bar-Vermögen letzte Woche beim Pokern verloren hat. Er kann nicht einmal mehr seine Handlanger bezahlen. OK, Cowboy III., selbst ist der Mann. Es ist Zeit, die Außenstände einzutreiben, nicht wahr. Nur mit Härte und Rücksichtslosigkeit kommt man weiter. Das war schon seines Vaters Leitspruch. Keine Schonung. Das lästige Dreckstück vorhin wagte es, an seine Güte zu appellieren. Sie hätte das Geld für eine Operation benötigt. Frechheit. Kann er sich etwa operieren lassen, wenn er sich den Eingriff nicht leisten kann!? Außerdem sagte schon sein Vater: „Reichst Du denen den kleinen Finger, wollen sie gleich die ganze Hand.“ Nein, er kennt keine Gnade, schon gar nicht gegenüber dem armseligen Pack da – alles Abschaum. Wer sein Geld wolle, der müsse es sich vorher überlegen, ob er sich die Zinsen leisten könne. Schließlich kann sich jeder Prozento selbst erkundigen, wie die Raten gerade stehen. Er, Rodney, zwingt wirklich niemanden zur Kreditaufnahme, steigert er sich in Rage. Er schleift also in seinem Zorn diese Kröten wie leblose Säcke hinter sich her. Der Mann blickt auf die schmerzverzerrten Gesichtchen in der Erwartung von Geplärre. „Maul halten!“, war sein letzter blasierter Befehl, und den blaffte er heraus, obwohl ihn die Kleinen mit stummem Entsetzen anstarrten. Man musste kein Hellseher sein, um erkennen zu können, dass sie unter Schock standen.

      Zu diesem Zeitpunkt war die Gasse wie leer gefegt. Die Anrainer hatten sich längst in Sicherheit gebracht. Eigentlich war es ursprünglich auch Siebens Absicht, die Situation nur zu beobachten – aus sicherem Abstand. Sie erlebte aber das Flehen der Mutter und die kalte Brutalität des Zero so hautnah mit, dass es ihr schien, es geschehe ihr selbst. Noch dazu kannte sie die Familie oberflächlich. Plötzlich wurde es ihr unerträglich. Den Tod der Mutter konnte sie nicht mehr rückgängig machen, aber das schlimme Schicksal der dreijährigen Zwillinge musste sie um jeden Preis verhindern. Sie verließ ihr Versteck am Balkon im ersten Stock wie in Trance und sprang den Unmenschen an wie ein Tier seine Beute anspringt.

      Siebens einzige Waffe waren zu diesem Zeitpunkt ihre Zähne, von denen ihr mindestens zwei fehlten. Den viel größeren Mann fiel sie an wie eine Löwin ihre Beute anfällt und tötete ihn auf die gleiche Weise, wie es eine Raubkatze tun würde. Ihr Hunger war jedoch ein anderer. Hasserfüllt schlug sie ihre Zähne tief in die Haut des Monsters, der er aus ihrer Sicht war, riss an diesem ekligen Fleisch.

      Sieben ist sich heute sicher, sie muss dem Zero die Halsschlagader durchgebissen haben, und das ganz ohne Reißzähne. Noch heute graust es ihr bei der Erinnerung an den metallischen Geschmack des Zero-Blutes in ihrem Mund. Sie unterdrückt den Drang, zu erbrechen, der ihr jedes Mal kommt, wenn sie an diesen ihren ersten grauslichen Tötungsakt denkt. Dabei war der Tod ihres Opfers reiner Zufall, denn Sieben kannte sich in der menschlichen Anatomie nur rudimentär aus. Während sie ihre Zähne mit Verzweiflung in diesen parfumierten Hals grub, leerte der Mann das Magazin seiner Faustfeuerwaffe und verletzte Sieben am Arm. Den Durchschuss nahm sie zuerst gar nicht wahr. Erst, als sie ihr blutbesudeltes Gesicht mit ihrem Ärmel abwischte, da erst registrierte sie, dass der Stoff von ihrem eigenen Blut rot war. Was macht das schon!

      Die Kinder konnte sie ihrem Vater übergeben. Noch wichtiger erscheint es Sieben, dass die Geschwister mittlerweile ihr Trauma verarbeitet haben dürften. Sieben ist das nicht gelungen, seufzt sie, obwohl sie eigentlich keinen Laut von sich geben sollte, denn schließlich war sie auf Wache. Also ermahnt sie sich, vorsichtiger zu sein und spinnt ihren Gedanken weiter.

      Ihr damaliger Blutrausch belastet ihr Gewissen. Heute noch hat sie Albträume – da können ihre MitkämpferInnen noch so viele Argumente liefern, die den Tod des Zero rechtfertigen. Leben zu nehmen ist aus der Sicht von Sieben nicht richtig. Nicht, wenn es ebensogut möglich wäre, den Gegner oder die Gegnerin bloß kampfunfähig zu machen.

      Bedauerlicherweise befinden sich die 99,9% im Krieg, da ist das Töten das Gebot der Stunde, behaupten Siebens MitstreiterInnen unisono. In den ersten zwei Monaten des Zero-Prozento-Krieges ging Sieben durch eine harte Schule. Sie, die sie „nah am Wasser gebaut“ ist und den Schmerz eines anderen Wesens körperlich fühlt, sie musste plötzlich anderen Schmerzen zufügen, um zu überleben. Also beschloss sie, sie würde töten, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Mittlerweile lässt es sich aus ihrer Sicht nicht vermeiden, sobald die Bosheit und die Niedertracht in der Gestalt eines Zero vor Siebens Gewehrlauf auftaucht. Die letzten Jahre haben die kleingewachsene, zierliche Person hart gemacht, hart gegenüber dem Todfeind. Zwar versuchten alle, ein „normales“ Leben zu führen. Die Menschen hatten möglichst geregelte Tagesabläufe, betrieben Kochdienste, Wäschereien, gaben Unterricht, verbanden und trennten sich, bekamen Kinder. Aber vor einigen Wochen fiel es Sieben wie Schuppen von den Augen. Die „Befragung“ eines gefangenen Söldners eröffnete sie mit der filmreifen Ankündigung: „Leider muss ich Dir jetzt sehr weh tun.“ Nur, dass es ihr nicht leid tat. In diesem Moment packte sie das Entsetzen wegen ihrer Abgestumpftheit. Sie schwor sich, der „alten“ Sieben eine Chance zu geben. Wenn sich jedoch ein Söldner oder ein Zero wie der „selige Rodney“ gebärden sollte, würde sie nach wie vor keine Gnade kennen. Keine Frage. Die Schwächeren würde sie unter Einsatz ihres eigenen und Lebens schützen und das Leben des Angreifers nicht schonen.

      1 Er

      Siebens blutrünstiges Zähnefletschen verwandelt sich abrupt in ein weiches „Strahlegrinsen“, wie „er“ es gerne an ihr sieht, und das nur, weil er ihr unverhofft in den Sinn kommt. Während einer gemeinsamen Spähtour platzte er kurz nach dem Vorfall mit dem totgebissenen Zero damit heraus, er liebe ihre ebenmäßigen, kleinen weißen Zähne. Ihr klappte die Kinnlade herunter. Grauste ihm denn vor gar nichts? Sieben nämlich grauste es so sehr vor ihren eigenen „Mörder“-Zähnen, dass sie sofort nach der Tat von einer Zahnärztin des Untergrunds eine professionelle Zahnreinigung durchführen ließ, in der Hoffnung, sich dann endlich sauber fühlen zu können.

      Der zweite Grund für ihr Staunen war, dass sie als langjährige Ehefrau nicht gerade mit Komplimenten überschüttet wurde und daher diese Art der Kommunikation zwischen den Pärchen längst verlernt hatte – naja, und schließlich drittens: Liebe in Zeiten wie diesen?

      Sie fragte sich immer öfter, was er mit seinen Freundlichkeiten bezweckte. Monate- ja jahrelang dauerte diese „Zeit der Morgenröte“, analog zur atemberaubenden Schönheit des Naturereignisses gleichen Namens und nicht zuletzt wegen der diffusen Lichtverhältnisse darin, die sich mit der unklaren Lebenssituation von Sieben absolut deckten. Sie beide hatten immerhin Aufgaben fern voneinander zu erfüllen, sodass sie sich in den härtesten, den chaotischsten ersten Jahren des Untergrundkampfes selten sahen.

      Nachdem er wissen musste, dass sie verheiratet war, vermutete außerdem Sieben offiziell vor ihren sie ständig mit „ihm“ hänselnden scharfäugigen Freundinnen, dass er bloß freundschaftliche Bande knüpfte und steckte ihn kurzerhand in die Schublade namens „Kameradschaft“.

      Allerdings irritierte