Uwe Berlin

Saisonvorbereitung mit Seitensprung


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Vater weg. „Papa aua!“, beschwerte sich Luise und Theodor versuchte ihr schnell noch einmal über den Körper zu streicheln, aber ihre Mutter hatte sie schon an sich gezogen. „Du darfst nicht schlagen!“, sagte er stattdessen und ließ seinen Kopf wieder tief ins Kissen fallen. Doch die Ruhe des Morgens wollte sich nicht mehr einstellen. Er wartete unter Luises Gebrabbel noch ab, bis der Wecker klingelte und hob sich dann schwerfällig aus dem Bett. Wenn dieser Körper heute noch Tennis spielen konnte, dann grenzte das an ein Wunder. `Und nicht nur heute´, stöhnte Theodor auf dem Weg ins Badezimmer, `auch morgen und übermorgen.´ Er ließ sich auf die Klobrille fallen und verweilte dort mit vors Gesicht geschlagenen Händen. `Ich nehme mir einfach zu viel vor.´ Draußen vor dem Badezimmer näherten sich Schritte. Seine Frau war mit der Kleinen im Anmarsch. Mit einer Hand hielt er die Klinke der Badezimmertür fest. Jemand zog daran. „Noch nicht.“ Jeden Morgen das Gleiche. Was wäre, wenn er es an der Prostata hätte? Wie viel Zeit wollten sie ihm dann geben? `Was heißt schon zu viel vornehmen? Seit fünf Jahren war ich nicht mehr weg.´ Es war ihm noch nicht einmal aufgefallen - bis heute. `Dann habe ich wohl auch nichts vermisst´, dachte Theodor und warf einen Blick in den Spiegel. Eigentlich war er nicht der Typ, der sich selbst etwas vorspielte. Er verhielt sich lieber schonungslos zu sich selbst und übertrieb eher ins Negative. `Sich zu verändern ist nicht das Problem. Bin ich eben ein Familienmensch. Sollen DJ und Karsten ihre Sprüche ruhig klopfen. Die wissen auch nicht alles. Das Problem ist: Wenn man sich verändert und es selbst nicht mitbekommt. Schwups sind fünf Jahre vergangen und man ist ein anderer Mensch geworden. Wenn die Anderen ihre Sprüche über einen klopften, weiß man gar nicht, wen sie meinen. Also gut, ich habs erkannt: Seit fünf Jahren bin ich nicht mehr von zu Hause fort gewesen. Ich bin ein Stubenhocker, eine Glucke.´ Die Erkenntnis traf Theodor härter als erwartet. Er dachte an seine Reisen mit und ohne Frauke zu den kulturellen Hochstädten dieser Welt: Akropolis, Herkaklion, Kolosseum, Stone Hedge, Chinesische Mauer und Hampi, Mark Brandenburg und der Ganges. Auf den Spuren Siddartas. „Sollen sie ihre Sprüche machen. Die haben doch immer nur in ihren Hotelburgen rumgehangen“, schimpfte Theodor halblaut gegen den Spiegel. `DJ mit seinen Witzen gegen mich. Ob ich meinen Kindern deshalb so viel Zeit widme, damit SIE etwas Ordentliches werden. Pah, der Autohändler. Sie wissen eben nichts über mich!´ Theodor kam ein Satz von Oscar Wilde in den Sinn, den er in den letzten Wochen öfters gedacht hatte: „Erlebe nie etwas, was du am Abend beim Dinner nicht Preis geben darfst. Es lohnt nicht.“ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und blickte tief in den Spiegel. Er war Mitte 40, hatte einen Haarkranz, der grau zu werden begann und sah laut Frauke trotzdem noch immer aus wie ein Schuljunge. „Ein Schuljunge, der es zum Leiter der Lübecker Stadtbücherei gebracht hat mit Schlüsselgewalt über alle Lübecker Kulturstätten.´ Theodor lächelte und der freundliche Ausdruck seines Spiegelbildes überraschte ihn. `Besser Schuljunge als ein Greis.´ Er hatte mal wieder etwas über sich erfahren. Sein Selbst wahrgenommen: Er war zu einem Stubenhocker geworden. Die Erkenntnis würde ihm ermöglichen es zu ändern. Wenn er es denn ändern wollte. `Nichts anderes mach ich gerade´, lobte er sich zufrieden. Er war im Begriff seine Sachen zu packen und die Familie nach fünf Jahren mal wieder zu verlassen. Mehr als das. Er wollte richtig auf die kacke hauen. Der Plan stand bereits. `Mir sollten die Dinge Sorgen bereiten, die ich nicht erkenne.´ Mit hängendem Kopf ging er zur Badezimmertür. Was lag da noch alles im Verborgenen? Er hob den Kopf wieder und öffnete. Vor ihm standen Luise und ihre Schwerster Katharina. Frauke stand dahinter. „Bist du jetzt fertig, Papa?“, maulte Katharina und drängelte sich an ihm vorbei.

      Theodor

      Der achtjährige Lasse rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der blasse Junge mit dem blonden Seitenscheitel wartete schon begierig bis er an der Reihe war, in den Korb mit den Aufbackbrötchen zu greifen. Theodor beobachtete ihn scharf. Hier hatte ihre Erziehung also bereits gefruchtet. Schluss mit den Zeiten, als der Junge sich halb über den Tisch geworfen hatte oder den Korb einer seiner Schwestern aus der Hand riss. Donnerwetter hatte es zu genüge gegeben. Nach oben in sein Zimmer hatten sie ihn geschickt. Geschrien und geheult hatte er, als die Konsequenz Brot statt Brötchen gelautet hatte. Nun beobachtete Theodor einen Achtjährigen, der sich mit ganzer innerer Kraft zu kontrollieren versuchte und dessen Körper dabei unruhig hin und hersprang. Theodor bekam den Korb von Frauke gereicht. Er nahm sich daraus ein Brötchen, ohne lang zu überlegen. Es gab zwei Sorten: mit oder ohne Körnern, aber sie schmeckten beide gleich. Dann reichte er den Korb an Katharina, die neben ihm saß. Er hätte ihn auch dem schräg gegenübersitzenden Lasse geben können. Sie hatten da keine feste Reihenfolge, bis auf das Mutter und Vater sich zuerst nahmen. Aber der Junge sollte ruhig noch warten. Die Erziehung hatte gefruchtet, und wenn er den Bogen jetzt überspannte, dann gab es eben noch ein Donnerwetter und Lasse würde weiter lernen müssen, sich zu beherrschen. `Fünf Jahre´, dachte Theodor, `fünf Jahre lang habe ich mich beherrscht. Ach was fünf.´ Verheiratet waren sie nun schon fast fünfzehn Jahre. Er verdrängte den Gedanken schnell wieder. Die vierjährige Katharina wiegte den Korb in der Hand und meckerte: „Da sind fünf Brötchen drin. Ich will zwei.“ „Ich möchte zwei“, schaltete sich Frauke ein. „Ich will auch zwei“, plärrte Luise ihrer Schwester nach. „Ich möchte“, ermahnte Frauke erneut. „Ich will!“, beharrte Luise. Wie auf Knopfdruck kullerten Tränen aus ihren Augen. „Ich habe es zuerst gesagt!“, schrie Katharina und versuchte sich zwei Brötchen auf einmal zu angeln. Bevor Theodor eingreifen konnte, platzte Lasse der Kragen. „Geb endlich den Korb her! Ich habe noch überhaupt kein Brötchen!“, schrie er quer über den Tisch. „Gib, heißt das!“, fauchte Theodor und entriss seiner Tochter den Korb. Sie wehrte sich und nach einem kleinen Gerangel fiel eines der Brötchen zu Boden. „Da siehst du, was du angerichtet hast!“, platzte es aus Theodor heraus, „heb es auf!“ Sofort entglitten auch Katharinas Gesichtszüge. Alles Glatte und Pausbäckige an ihr verwandelte sich in eine faltige Heulgrimasse. „Nein, mach ich nicht“, rief sie durch die Heulgrimasse hindurch. Es klang aber eher nach Feuerwehrsirene. „Und ob du das machst!“ Theodors Stimmlage wurde bedrohlicher. Plötzlich erschien Lasses Kopf neben ihm. Aber nur kurz, denn der Junge bückte sich sofort und tauchte nach dem Brötchen. Theodor hielt ihn am Pullover fest. „Du nicht! Deine Schwester hebt das auf!“ „Aber Theo!“, beschwerte sich Frauke. Fragend sah Theodor sie an. Was hatte er nun wieder falsch gemacht? Seine Frau, die Erzieherin mit Diplom, hatte so etwas wie die Erziehungshoheit in der Familie, auch wenn sich Theodor immer wieder dagegen sträubte. „Was?!“, er blinzelte sie an und hielt dabei mit der einen Hand den verzweifelten Lasse am Pullover gepackt und mit der anderen den Brötchenkorb mit den übriggebliebenen vier Brötchen in die Höhe. „Wenn er seiner Schwester doch helfen will.“ „Er will ihr nicht helfen, er will das Brötchen. Sogar vom Boden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann lass es ihn halt vom Boden nehmen. Ich will es nicht mehr.“ Mit einem Ruck zog Theodor Lasse endgültig vom Brötchen fort. „Nein, du setzt dich hin. Und du“, er zeigte auf Katharina, „hebst es sofort auf oder du isst Brot.“ Katharina sah ihre Mutter an und heulte noch lauter. Auch Luise weinte jetzt mit ihrer Schwester, dabei schrie sie immer wieder: „Brötchen, Brötchen!“ Lasse trollte sich wie ein verwunderter Hund zurück auf seinen Platz. Mit böser Kleinjungenmine starrte er von dort aus seinen Vater an. Frauke seufzte. „Nun heb es bitte auf, Katharina! Wir wollten Papa doch ein schönes Abschiedsfrühstück bereiten.“ „Schon geschehen“, brummte Theodor und in diesem Augenblick sehnte er sich nach nichts mehr als nach einem Wochenende außerhalb der Familie. „Ihr habt doch noch etwas für euren Vater“, fuhr Frauke fort. Katharina rutschte von ihrem Stuhl, hob das Brötchen auf und versuchte, es in den Korb zu werfen. Sie warf aber daneben und das Rundstück landete scheppernd auf Theodors Teller. „Pass doch auf!“, zischte er, nahm es auf und legte es in den Korb. „Ich hab nix für Papa“, bellte Lasse und versuchte seinen ausgebeulten Pullover gerade zu ziehen. Schmollend fügte er hinzu: „Ich will ein Brötchen!“ „Ich möchte heißt das, verdammt, wie oft sollen wir euch das noch sagen“, bellte Theodor zurück. „Theodor!“, rief Frauke entsetzt und setzte dann ruhiger hinzu: „Die Kinder wollen ein Lied für dich singen.“ `Auch das noch´, dachte Theodor. Laut konnte er gar nichts mehr sagen. Er wollte nun auch endlich ein Brötchen essen und am liebsten wollte er, dass jeder am Tisch Brötchen aß und keiner mehr redete, geschweige denn sang. „Ich will nicht singen!“, rief Katharina wütend und Luise äffte sofort ihre Schwester nach: „Ich auch