I. Tame

Bestiarium


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einen Ratschlag parat zu haben. Immer wenn Mika meint nicht mehr weiter zu wissen, grinst ihn John an und holt ihn mit einer lässigen Bemerkung auf den Boden der Tatsachen zurück. Mika würde es niemals laut zugeben, doch ganz tief in ihm, da … ja, da scheint sich etwas zu verankern. Es beißt sich fest und will nicht mehr loslassen. Bei diesem Etwas handelt es sich um Mikas wachsende Ahnung, dass John … vielleicht … eines Tages … für ihn wichtiger werden könnte als Keno. Aber nein. NEIN! Mika schnalzt unwillig mit der Zunge und buddelt sich murrend noch tiefer in die Kissen. Keno wird immer seine Nummer Eins bleiben. Auch wenn er sich momentan aufführt, als hätten sie nicht diesen ganzen Scheiß mit Edward überstanden; als hätten sie nicht endlich alle Hindernisse für ein sorgloses Leben zu zweit … zu dritt … überwunden. Mika fährt sich mit der Hand über die schmerzende Stirn.

      Er benimmt sich so, als hätten wir niemals eine Therapie gemacht. So viele Dinge haben wir besprochen und doch auch verarbeitet … oder? Ich zumindest fand‘ die Gesprächsrunden unheimlich befreiend. Natürlich hab‘ ich geheult wie ein Schlosshund. Ich musste schließlich alles nochmal durchleben. Und Keno … Mika schießen die Tränen in die Augen, als er unwillkürlich an die letzte gemeinsame Sitzung denkt, in der sein Geliebter vor Schmerz zusammenbrach. So verletzlich, so zerstört stammelte er zu Beginn der Stunde seine Erlebnisse hervor. Er schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, während er beide Arme um seine Körpermitte schlang. Sein Blick verlor sich im Nichts. Je länger er sprach, umso lauter und eindringlicher klangen seine gejammerten Worte.

      „Sie haben mich gezwungen …“

      „Sie haben verlangt …“

      „Sie wollten, dass ich …“

      „Ich musste …“

      So begannen seine Sätze. Und die unbeschreiblichen Dinge, die von ihm verlangt wurden, ließen Keno mehr als einmal innehalten und würgend um Fassung ringen.

      In einem Moment klagte er lautstark an, nur um anschließend die nächste Grausamkeit mit hoher erstickter Stimme hervorzupressen. Er hatte nichts mehr von einem Erwachsenen. Da saß ein misshandeltes Geschöpf – hilflos wie ein Kind und ebenso unschuldig. Ein menschliches Wesen – zerstört von Unmenschen, die keine Rücksicht auf die Gefühle anderer nahmen. Monster, die sich ganz nebenbei sein Leben packten; nur so – weil ihnen danach war. Sie haben auf diesem jungen Mann herumgetrampelt, seine Seele zerfetzt. Und als nichts mehr zu zerstören war, machten sie ihn zu ihrem Sklaven.

      Mittlerweile laufen Mikas Tränen unaufhörlich. Sein Kopf glüht und pocht im Rhythmus des rasenden Pulses. Er setzt sich auf und greift nach einer Packung Taschentücher neben seinem Bett. Nach dem Naseputzen schluckt er eine weitere Schmerztablette. Ich muss mich beruhigen, ermahnt er sich. So werd‘ ich nie gesund.

      Doch das ist leichter gesagt als getan. So oft schon hat Mika ihre Gespräche Revue passieren lassen. Und jedes Mal kommen ihm die Tränen. Leise und unauffällig, denn mit der Zeit verkraftet er diese Gedanken immer besser. Doch emotionslos daran zu denken … das kann er einfach nicht.

      Nach dieser Therapiestunde sprach Keno zwei Tage lang kein einziges Wort. In sich versunken saß er in irgendeiner Ecke ihres wunderschönen frisch renovierten Bungalows. Nichts war von seiner aufsässigen, impulsiven Art geblieben. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein toter atmender Schatten.

      Einige Tage später beschloss John mit ihm zu reden. Allein. Zwei Stunden verschwanden die beiden in Kenos Zimmer. Mika traute sich nicht zu lauschen. Das war noch nie seine Art. Stattdessen simste und telefonierte er mit David – seinem ewigen Halt. Dessen ruhige und liebevolle Art hielt Mika davon ab, während seiner Wartezeit vollends auszurasten.

      Schließlich öffnete sich Kenos Zimmertüre und er verließ blass und verheult vor John den Raum. Als er Mika wie ein Häuflein Elend am Ende des langen Flurs auf dem Boden kauern sah, die Arme um die herangezogenen Beine geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt … wie ein kleiner struppiger Hund, der auf seinen Herrn wartet … da legte sich ein mitfühlendes Lächeln auf Kenos Lippen. Er ging vor Mika in die Hocke und wischte ihm die Tränen von den Wangen.

      „Alles okay, Kleiner“, flüsterte er tröstend. „Die Therapie hat mich ein bisschen aus der Bahn geworfen, aber jetzt ist alles wieder gut.“

      Ungläubig starrte Mika zu ihm empor. „Wenn du nicht mehr mit mir redest, kannst du mir genauso gut eine Knarre an den Kopf halten. Ich flipp‘ aus, wenn ich nicht weiß, was in dir vorgeht.“

      „Ich weiß“, hauchte sein Gegenüber entschuldigend. „Und genau deswegen mach‘ ich ab sofort mit Einzelstunden weiter, Mika. Es fällt mir alles doppelt so schwer, wenn du dabei bist. Ich schaff‘ es so schon kaum, darüber zu reden. Verstehst du das?“

      Mika wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. „Ja“, flüsterte er und nickte leicht. „Das versteh‘ ich. Tut mir leid.“

      Eine Viertelstunde hockten sie gemeinsam auf dem Boden und umarmten sich. Sie trösteten sich gegenseitig, küssten die schlimmsten Gedanken weg und schworen sich ewige Liebe.

      „Ewig“, murmelt Mika kaum hörbar, als seine Kopfschmerzen endlich abklingen und sein Bewusstsein in wohltuend friedlichen Schlaf übergeht.

      Kapitel 2

      Zwei Wochen später ist Mika wieder gesund. Das ist auch gut so, denn er hat eine Feier geplant. Mit glänzenden Augen schweift sein Blick über den festlich geschmückten Gastraum des Café Bohne. Alle Tische wurden umgestellt, um Platz für ein großes Buffet zu schaffen. Uschi hat sich in den vergangenen Tagen mal wieder selbst übertroffen und viele kleine Leckereien vorbereitet, die nun auf silbernen Platten präsentiert werden. Schwere champagnerfarbene Tischdecken aus Damast – mit Ton in Ton bestickten Rändern – verleihen den einfachen Bistrotischen einen edlen Touch. Schlanke silberne Kerzenhalter mit schokobraunen Kerzen setzen festliche Akzente. Hier und da wurden – wie versehentlich – einige Kaffeebohnen verstreut. Mika seufzt zufrieden. Ja, die Gäste können kommen.

      Seit einem Jahr führt er ‚sein Café Bohne‘. Durch Mikas freundliche und offenherzige Art hat sich die Zahl der Kundschaft fast verdoppelt. Das ist ein riesiger Erfolg, den Ralf – Eigentümer des Cafés – mit einer fetten Gehaltserhöhung für ihn und Uschi anerkannt hat. Heute wird gefeiert. Die treuesten Stammkunden und viele Freunde feiern mit ihm.

      Mütterlich legt Uschi ihren Arm um Mikas Taille und drückt ihn an sich. Doch gleich danach geht sie in Grundstellung. Sie stemmt die Hände wie ein General in die Hüften und lässt ihren prüfenden Blick über die Tische schweifen. Nicht lange und ein zufriedenes Grinsen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Sie nickt, was als abschließende Genehmigung interpretiert werden kann. Wie von Geisterhand erscheint eine Sektflöte mit perlendem Inhalt vor ihrem leicht verschwitzten Gesicht.

      „Glaub‘ bloß nicht, mir wäre nicht klar, dass mindestens die Hälfte des Erfolgs auf dein Konto geht!“ raunt Mika ihr zu, während er nach einem zweiten Glas greift.

      Verlegen setzt seine Köchin zu einer abwehrenden Geste an.

      „Na!!!“ ermahnt Mika sie ernst. „Nicht jetzt, Uschi!“

      Gerührt blickt die mollige Endvierzigerin zu Mika empor als dieser prostend sein Glas erhebt. Seine blauen Augen versinken in Uschis feuchtem Blick, während er ihr zuflüstert.

      „Du bist die Beste! Danke dir!“

      Klangvoll stoßen ihre Gläser in festlicher Umgebung an.

      „Nichts zu danken, Mika!“, antwortet Uschi nach dem ersten Schluck. „Du weißt wie gerne ich mit dir zusammen arbeite.“

      „Und ich mit dir!“ Eine angedeutete höfliche Verbeugung bringt Uschi zum Lachen.

      „Lausebengel!“ lautet ihr abschließender Kommentar, bevor auch sie leicht den Kopf senkt und sich mit ihrem Sekt in die Küche verkrümelt. Wie immer hat sie noch unendlich viel zu tun.

      Er hat sich toll gemacht und er ist MEIN Junge, denkt sie stolz, während die Küchentüre