Agnes M. Holdborg

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4


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aus­rei­chend Platz. Den­noch nah­men sie bei­de meist nur einen Bruch­teil da­von ein, da Vik­tor sei­ne Ar­me und Bei­ne um An­na ge­schlun­gen hielt, als wä­re er ein Ok­to­pus und nicht nur vier, son­dern acht Glied­ma­ße wür­den sich um sie win­den.

      Dem­nach war sei­ne Re­ak­ti­on auf ih­re Bit­te, sie auf­ste­hen zu las­sen, ei­gent­lich vor­her­seh­bar, denn er zog sie, wie je­des Mal, noch fes­ter an sich. »Nein, mei­ne Sü­ße, du bleibst fein bei mir. Viel­leicht kommst du sonst nicht zu­rück«, knurr­te er im Halb­schlaf. »Wer weiß, viel­leicht wirst du ent­führt und dann ste­he ich da – al­lein – oh­ne … Oh – ooh, schei­ße!«

      Wie vom Blitz ge­trof­fen ließ er An­na los und sprang aus dem Bett. Nun hat­te er doch da­von an­ge­fan­gen: von Ent­füh­rung! Und der Ge­dan­ke dar­an führ­te sie zwangs­läu­fig und ge­ra­de­wegs zu dem heu­te statt­fin­den­den Straf­pro­zess.

      »Ent­schul­di­ge, An­na, das war echt blöd von mir!«, rief er aus und rauf­te sich die vom Schlaf zer­zaus­ten Haa­re. Dann schüt­tel­te er ve­he­ment den schö­nen Kopf. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid! Ich bin ein Voll­trot­tel! Ich …«

      »Hey, mach mal halb­lang, Vik­tor. Al­les ist gut. Ich wer­de die­se doofe Ver­hand­lung über­ste­hen, echt. Mach dir al­so kei­nen Kopf.« Mitt­ler­wei­le war auch sie auf­ge­stan­den, schlüpf­te ge­schmei­dig an ihm vor­bei und war ein­fach nur froh, end­lich zur Toi­let­te ge­hen zu kön­nen.

      Als sie zu­rück­kam, lag er wie­der im Bett und blick­te ihr ernst ent­ge­gen. »So woll­te ich den heu­ti­gen Tag nun wirk­lich nicht be­gin­nen, Klei­nes.«

      Nach­dem sich An­na zu ihm un­ter die De­cke ge­ku­schelt hat­te, gab sie ihm einen sü­ßen Kuss. »Der Mist­kerl macht mir kei­ne Angst mehr, das weißt du doch. Ich ha­be nur nicht mehr da­von ge­spro­chen, weil ich uns die Stim­mung nicht ver­der­ben woll­te. Die Zeit ist viel zu kost­bar, um sie auch nur mit ei­nem Ge­dan­ken an die­sen fie­sen Ty­pen zu ver­schwen­den.« Sie streck­te sich genüss­lich aus, be­vor sie nach ih­rer Bril­le griff. »Wie spät ist es denn?«

      »Wir ha­ben noch mas­sig Zeit. Es ist halb sie­ben. Die Ver­hand­lung be­ginnt ja erst nach dem Mit­tag. Vor ein Uhr brau­chen wir nicht dort zu sein. Ein Glück, dass wir für die glei­che Zeit als Zeu­gen ge­la­den wur­den. So bist du al­so nicht all­zu lan­ge al­lein.«

      »Da­bei hast du wohl ver­ges­sen, dass wir ge­dank­lich so gut wie im­mer zu­sam­men sein kön­nen, mein hal­bel­fi­scher Su­per­prinz. Manch­mal glau­be ich, du bist we­gen der gan­zen Sa­che ner­vö­ser als ich.«

      Er­neut blick­te Vik­tor ernst drein und zog sei­ne ge­ra­den Brau­en zu­sam­men, so­dass sich ei­ne stei­le Stirn­fal­te bil­de­te. »Das wa­ren die schlimms­ten Mo­men­te mei­nes Le­bens, An­na. Du, in den Hän­den die­ses Trieb­tä­ters. Nicht zu wis­sen, wo du bist, und dich nicht zu spü­ren. Als wir dich end­lich ge­fun­den hat­ten, da dach­te ich, du seist …« Mit ei­nem Mal strahl­te er nicht nur sei­ne Son­ne, son­dern ei­ne im­men­se Hit­ze aus. So­gar ein paar klei­ne Blit­ze zuck­ten durchs Zim­mer. »Him­mel noch eins, An­na! Ich weiß nicht, ob ich mich zu­sam­men­rei­ßen kann, wenn ich ihn se­he. Am liebs­ten wür­de ich ihn …«

      … Nun sah An­na sich end­gül­tig da­zu ge­zwun­gen, an die­se fürch­ter­li­che Sa­che zu den­ken. Wo­bei sie bis heu­te nicht wuss­te, was ei­gent­lich schlim­mer für sie war:

      Der Streit mit Vik­tor, nach wel­chem sie ihn ein paar Ta­ge – für sie ei­ne Ewig­keit – nicht ge­se­hen hat­te, ja, nicht ein­mal füh­len konn­te, zu­dem nicht wuss­te, ob er sie über­haupt noch lieb­te und woll­te. Oder die sich dar­an an­schlie­ßen­de Ent­füh­rung durch ih­ren Bio­lo­gie­leh­rer. Der hat­te sie in sei­ne Woh­nung ver­schleppt, um sie zu ver­ge­wal­ti­gen und an­schlie­ßend zu tö­ten. …

      Bei der Er­in­ne­rung über­fiel sie für einen win­zi­gen Au­gen­blick die glei­che ohn­mäch­ti­ge Lee­re und über­wäl­ti­gen­de Pa­nik wie da­mals, als Vik­tor schein­bar nicht mehr mit ihr zu­sam­men sein woll­te. In die­ser Se­kun­de wur­de ihr deut­lich, wie sehr ihr die Tren­nung sei­ner­zeit zu schaf­fen ge­macht hat­te. Mehr als die Angst, in der Ge­walt ei­nes Wahn­sin­ni­gen zu sein.

      »Der Mann kommt nicht mehr frei, Vik­tor. Er ist ver­rückt. Der ist im­mer­hin schon jetzt in der Klap­se. Au­ßer­dem ha­be ich noch Glück ge­habt. An­de­re Mäd­chen hat er schließ­lich tat­säch­lich miss­braucht.« Dass der Mann al­ler­dings, im Ge­gen­satz zu sei­nen an­de­ren Op­fern, An­na hat­te tö­ten wol­len, ließ sie lie­ber au­ßer Acht. »Ihr habt mich da­vor be­wahrt.« Sie strich ihm zärt­lich über die Wan­ge. »Es war für uns bei­de ei­ne schlim­me Zeit. Lass uns ein­fach die Ver­hand­lung hin­ter uns brin­gen und da­nach nicht mehr drü­ber nach­den­ken.«

      Sie gab ihm einen klei­nen Kuss. »Du wirst dich wäh­rend dei­ner Aus­sa­ge im Griff ha­ben, das weiß ich. Das weiß ich, weil du mich liebst. Mach dir des­halb kei­ne Sor­gen.« Sie leg­te sich zu­rück in sei­ne Ar­me.

      Er strei­chel­te ver­son­nen ih­re Schul­ter. »Es tut mir leid, dass ich da­mals so mies re­a­giert und dir der­art weh­ge­tan ha­be.«

      »Nicht, Vik­tor! Wir ha­ben bei­de dum­me Feh­ler ge­macht. Aber das ist vor­bei. Lass es uns end­lich ab­ha­ken. Bit­te!«

      Vik­tor seufz­te schwer. »Ich kann das nicht ein­fach ab­ha­ken. Mir ist doch klar, wie sehr dich die Sa­che nach wie vor mit­nimmt, auch wenn du es an­dau­ernd ab­strei­test. Ist dir mal auf­ge­fal­len, dass du das meis­tens rein ge­dank­lich tust und sel­ten laut aus­sprichst?« Er rich­te­te sich auf, um ihr bes­ser in die Au­gen schau­en zu kön­nen. »Du hast so­gar die Schu­le ge­wech­selt, weil dich die Er­in­ne­run­gen nicht los­ge­las­sen ha­ben. Nicht nur, weil du dort oben­drein ge­mobbt wor­den bist.«

      »An der neu­en Schu­le füh­le ich mich er­heb­lich woh­ler. Das weißt du. Mir geht‘s gut.«

      ***

      … Al­ler­dings er­kann­te An­na nicht, dass Vik­tor sehr wohl ge­wahr wur­de, wie sich ihr Herz bei dem Ge­dan­ken an die Zeit an ih­rem al­ten Gym­na­si­um schmerz­lich zu­sam­men­zog. Of­fen­bar konn­te sie sich nie an die Alb­träu­me er­in­nern, die sie re­gel­mä­ßig heim­such­ten und aus de­nen er sie äu­ßerst be­hut­sam zu be­frei­en ver­such­te. Das zeig­te ihm, wie sehr sie das Gan­ze be­drück­te. Dass die­se schlim­men Er­in­ne­run­gen und Träu­me zum Groß­teil auf sein ei­gen­wil­li­ges Ver­hal­ten von da­mals zu­rück­zu­füh­ren wa­ren, be­las­te­te ihn schwer.

      El­fen ver­moch­ten Vie­les zu voll­brin­gen. Selbst als »nur« halb­mensch­li­cher El­fe konn­te Vik­tor Ge­dan­ken er­spü­ren und be­ein­flus­sen. Über­haupt wa­ren ihm, auf­grund des Er­bes sei­nes macht­vol­len Va­ters, in­zwi­schen vie­le Din­ge mög­lich: die ei­ge­ne in­ne­re Son­nen­wär­me spen­den; dem Feu­er per Geis­tes­kraft zün­den­de Nah­rung ge­ben; dem Him­mel Blit­ze steh­len und dem Wet­ter ei­ne an­de­re Rich­tung ge­ben. Das wa­ren nur ei­ni­ge der Ta­len­te der El­fen. Sei­ne Schwes­ter Vik­to­ria nahm so­gar manch­mal Vi­si­o­nen aus der Zu­kunft wahr. – Aber die Zeit zu­rück­dre­hen, das ging nun mal nicht. Das konn­te nicht ein­mal sein über­aus mäch­ti­ger Va­ter. …

      Trotz die­ser kur­z­en ver­schlos­se­nen Grü­belei­en leg­te Vik­tor sich wie­der hin, ließ wäh­rend­des­sen sei­ne Hand un­ter An­nas Ach­sel hin­durch­krab­beln