Günter Opitz-Ohlsen

In den Sand geschrieben


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ja noch den Flur. Der war ideal als Flugplatz geeignet. Hier konnte das Flugzeug auch einen Abstecher ins Badezimmer oder ins Schlafzimmer unternehmen. Dort lag der Vater krank im Bett. Er hatte nichts gegen die Fliegerei. Und das Spiel wurde immer wilder, immer schneller, immer besser. Zielfliegen war angesagt. Wie muss das Flugzeug abgeworfen werden, damit es weich in der Badewanne oder direkt neben dem Badeofen landet? Doch dann flog das Balsaholz doch irgendwo anders hin und er versuchte es noch einmal. Hartnäckigkeit zeichnet den Gewinner aus.

      Doch am Ende hat er es doch verloren, das geliebte Flugobjekt. Es entschwand aus dem offenen Flurfenster mitten auf das Vordach. Dort lag es, unerreichbar, es sei denn … Dem Vater konnte er nichts erzählen, der hätte sich nur aufgeregt, und er war krank. Kranke benötigen Bettruhe, das hatte der Arzt verschrieben. Und Mutter? Sie war nicht da. Bestimmt einkaufen. Sonst hatte sie ihn immer zum Einkaufen geschickt. Er war allein. Allein auf sich gestellt. Also, warum nicht aus dem Fenster klettern, auf das Vordach und sich dann das Flugzeug einfach holen? Er war schon groß genug, um aus dem Fenster zu steigen. Auf dem Vordach fand er zunächst keinen richtigen Halt. Es war mit Moos bedeckt. Glitschig – wie eine Eisbahn im Winter. Da sind sie immer geschlittert. So nannten sie es, wenn sie mit den Schuhen auf der Eisbahn rutschten. Das Vordach war ein wenig geneigt. Zuerst fand er noch Halt am Fenster. Dann bückte er sich und hielt sich am Dach fest. Dort gab es Haken, an denen er sich festhalten konnte. Er lag auf dem Bauch, seine linke Hand hielt den Dachhaken und die andere streckte sich nach dem Flugzeug. Er war noch zu weit weg. Ein paar Zentimeter nur. Er rutschte etwas nach rechts. Jetzt war er fast dran am Flugzeug. Mit dem Mittelfinger konnte er es schon greifen, aber der rostige Rettungsanker gab nach. Langsam zuerst nur – und er schaute auf seine linke Hand. Hochziehen konnte er sich nicht, dann würde das gebogene Eisen herausgerissen werden. Doch so auf dem Bauch liegenbleiben konnte er auch nicht. Ein Dilemma, wie so oft in seinem Leben. Noch hielt der Haken, wurde aber immer länger. Das Kind sah, wie sich der Dachhaken Millimeter für Millimeter aus seiner Verankerung löste, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er endgültig nachgab. Der Blick des Jungen war jetzt starr auf den Haken gerichtet. Das Flugzeug existierte nicht mehr, nur noch seine Hand und das Eisen. Und an der Hand war sein Rest, der drohte hinab zu rutschen vom bemoosten Vordach. Warum war er nur auf das Dach geklettert?

      Er rutschte. Zuerst nur langsam, dann konnte er sehen, wie das Fenster, als sei es auf eine Gummileinwand gemalt, immer weiter weg rutschte. Jetzt hatten seine Beine auch schon die Dachrinne erreicht. Da konnte er sich festhalten. Noch versuchte er, sich mit seinen Fingern im bemoosten Dach zu fest zu krallen, aber er fand keinen Halt mehr. So glitt er dem freien Fall entgegen, und als er schließlich die Dachrinne in den Händen hielt, war er längst zu schwach, sich zu halten. Zu schwach, sich daran festzuhalten. Zu schwach, um sich selbst Halt zu geben. Zu schwach, um den Fall zu verhindern.

      Der Rest war eine Sache von Sekunden. Er fiel vom Dach. Unten befand sich der mit Basaltsteinen gepflasterte Vorhof. Er schlug hart auf. Auf sein Kinn schlug er auf. Der Schlag raubte ihm das Bewusstsein. Er musste sich wie eine Katze im Fall noch gedreht haben, sonst wäre er mit dem Hinterkopf auf das Pflaster geknallt. Das wäre es dann gewesen. Es herrschte Totenstille. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden Stille. Eine sehr lange Zeit für den Vater, der seinen Sohn nicht mehr im Flur spielen hörte. Vier Sekunden. Es war immer noch still. Der Vater stand auf. Er schaute aus dem Schlafzimmerfenster, auf den Vorhof. Dort sah er ihn auf dem Pflaster liegen. Fünf Sekunden. Und er starrte ihn an. Jetzt war es doch geschehen. Der unvorsichtige Junge war gefallen. Er riss das Fenster auf. Sechs Sekunden. Er schrie und starrte auf den regungslosen Körper. Sieben Sekunden. Da war das erlösende Geräusch. Das, was er herbeigesehnt hatte. Die Stille hatte ein Ende. Der Junge schrie. Er spürte seinen Schmerz. Er kam wieder zu Bewusstsein. Das Leben hatte ihn wieder. Zwei blutenden Knie, keine Knochenbrüche, nur das Kinn aufgeschlagen. Eine Narbe wird bleiben, aber sonst war er wohlauf. Er wurde neben seinen Vater ins Bett gelegt. Zwei Kranke hatte die Mutter nun zu versorgen.

      Die Erinnerung verschwindet im Herbstgrau. Er hat den Fall überlebt und ist sich heute gewiss, dass er ohne Schmerzen ist. Der Fall ist nichts und der Aufprall auch nichts, wenn du bewusstlos oder aber tot liegen bleibst. Er sieht sich auf einem Dach. Viel höher als das Vordach, und er könnte springen, ja, weil er keine Schmerzen empfinden würde, weil alles sehr schnell ginge, weil alles sehr leicht wäre, weil alles eben genauso unspektakulär wäre wie das Hinfallen. Mehrmals ist er in seinem Leben gefallen, aber nie konnte er den freien Fall bewusst erleben. Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, nur für wenige Sekunden. Was würde er dafür geben?

      Er verlässt den Ort. Er steigt in sein Auto. Fährt zur nächsten Tankstelle. Ein Plakat fällt ihm auf. Es gibt einen Flugplatz am Ort. Segel- und Motorflug, Fallschirmspringen, alles, was der fallsüchtige Urlauber braucht, um sich wieder zu spüren. Alles, was das Dorf als einen Urlaubsort erhält. Die Hotelzimmer sind belegt mit Fallsüchtigen. Hier haben sie ihr Paradies gefunden. Überlegen muss er nicht. Er wird nicht wieder zurück in die Großstadt fahren. Er wird hier bleiben, an dem Ort seiner Kindheit wird er bleiben, und den Fall vielleicht hundertmal wiederholen, damit er endlich weiß, wie es ist, wenn man fällt.

      Der Wartekünstler

      Vor ihm liegt ein langer, von Sonnenlicht durchfluteter, das Haupt- mit dem Nebengebäude des JobCenters verbindender Gang. Sternchen in Herberts Augen versetzen ihn für einen kleinen Moment lang auf eine paradiesische Südsee-Insel. Energiequantenspeicherung, denkt er, weniger Probleme.

      Was aus all den Patenten geworden ist, die dieser Karl Hans Janke damals angemeldet hatte, als er im Irrenhaus saß? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich darunter ebenfalls das Patent für die Energiequantenspeicherung befand, das jetzt, begraben unter Folianten in der einst hierfür zuständigen Abteilung des Patentamts, längst verschimmelt oder von der Treuhand ordnungsgemäß in den Papierkorb abgewickelt worden ist. Maschinen, angetrieben durch eine nie versiegende Energiequelle, hätten für die Menschheit arbeiten können. Der Himmel auf Erden! Es kommt ihm vor, als sei dies die einzige vernünftige Möglichkeit, den Mythos der Babylonier in eine Wirklichkeit zu transponieren. Dass ein Janke zu seiner Zeit für verrückt erklärt wurde, stellt sich in diesem Zusammenhang als Normalzustand heraus. Heute hätte er bessere Chancen. Bleibt: auf einen zweiten Janke zu hoffen.

      Herbert malt sich aus, wie er als Warteberater durch das Land zieht und Politiker, Manager oder andere zahlungskräftige Kunden in seine Philosophie einweiht. Von den exponentiell steigenden Wartezeiten würde er berichten, die nun in Kauf zu nehmen seien, weil die Gelegenheit verpasst wurde. Warteformel, Wartebuch, Warte-DVD, Wartespielzeug, Warte-T-Shirt: der Zweck des Wartens liegt schließlich in seiner Auflösung – insofern gibt es immer eine zweite Chance. Herberts Kalkulation zufolge müsste die Weltbevölkerung immerhin 400 Jahre auf den nächsten Janke warten, der dann wiederum seinen Energiequantenspeicher der Öffentlichkeit präsentierte.

      Herbert liebt es, über Möglichkeiten in ferner Zukunft zu spekulieren. Wie werden wissenschaftliche Erkenntnisse in 400 Jahren vorliegen? In Buchform sicherlich nicht! Seiner Meinung nach können hier nur Quantencomputer zum Einsatz kommen, die Daten auf atomarer Ebene speichern, verarbeiten und über ein mit dem menschlichen Körper verbundenes Interface, direkt ins Gehirn injizieren. Die Datenspeicherung und Datenübertragung wird somit kein Problem darstellen. Aber wie werden Daten erhoben, wie werden sie verarbeitet?

      Im Keller des Ägyptischen Museums in Kairo gibt es immerhin 150.000 Ausstellungsstücke aus über 4500 Jahren ägyptischer Geschichte, wovon nur ein kleiner Teil dem Besucher überhaupt zugänglich ist. Weil verhindert werden konnte, dass die kulturellen Schätze des Landes ins Ausland geschafft wurden, hat man große Teile des Bestandes in Ermangelung ausreichender Ausstellungsfläche kurzerhand in den Keller verbannt. Also türmen sich die Funde im Keller des Museums. Heute weiß niemand mehr, wem und welchem Fundort die zahlreichen Schätze der ägyptischen Geschichte zuzuordnen sind.

      So schaffte man sich eine zweite Ausgrabungsstätte und beschäftigt derzeit etliche Praktikanten, die die unterlassene Buchführung nachholen sollen. Herbert ist immer wieder aufs Neue amüsiert, wenn er im Internet über das Ägyptische Museum in Kairo liest. Dort findet er zum Beispiel Sätze wie: „Zwar ist nur ein kleiner Teil dem Besucher zugänglich ...“, oder „Die zur Verfügung stehende Zeit während