Günter Opitz-Ohlsen

In den Sand geschrieben


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Da muss ich etwas tun. Ich muss mich wehren. Eigentlich ist es Notwehr, aber dies kann keiner verstehen. So wäre es vielleicht besser, wenn ich in einer grauen Zelle durch das vergitterte Fenster in den Nebel schaue. Da wäre ich sicher – und die anderen auch.

      Der Rattenfänger

      Sie sehen süß aus und gehören der Gattung der Langschwanzmäuse an. Ihre kleinen Knopfaugen und ihre spitz zulaufende Schnauze hätten sie zu einem Verkaufsschlager der Stofftierindustrie machen können, wäre nicht ihr Ruf dermaßen schlecht gewesen. Schon manch einer hat seine persönliche Situation in folgende Worte gekleidet: Er könne gar nicht soviel fressen, wie er kotzen wolle. Wäre er allerdings eine dieser Langschwanzmäuse, hätte er damit seine Schwierigkeiten, denn eine Schleimhautfalte macht das Kotzen für diese Tiere fast unmöglich, obwohl sie in Verhältnissen überleben müssen, in denen das Kotzen als ein angemessener Ausdruck ihrer Lebensbedingungen gelten könnte. Dafür hat Mutter Natur diesen putzigen Tierchen einen Vorteil verschafft, um den sie einige Menschen in dieser Welt beneiden würden: sie besitzen keinerlei Schweißdrüsen und benötigen somit auch keine Duftwässerchen, um den unangenehmen Eigengeruch vor anderen zu verdecken.

      Tage träumten in Herbert, und er wusste immer noch nicht, ob er sie würde hinweg träumen können. Er hatte in der Zeitung darüber gelesen: Ein Euro pro getöteter Ratte, so lautete der Vorschlag eines FDP-Politikers. Gewundert hatte sich Herbert dennoch, weil er Angehörige dieser Partei stets als Lobbyisten für den Mittelstand verstanden hatte und deshalb anfangs diesen Vorschlag nicht einordnen konnte. Die Rattenjagd wäre eher etwas für professionelle Kammerjäger gewesen und weniger für Hartz-IV- Empfänger, wie von jenem Politiker ins Gespräch gebracht. Die angesprochene Personengruppe jedoch hätte mit ein paar getöteten Ratten ihren Mehraufwand nicht einmal decken können. Insofern handelte es sich um ein gehöriges Zuschussgeschäft, während das Sammeln von Flaschen aus Mülleimern sicherlich eine lukrativere Einkommensquelle gewesen wäre, die keinerlei Kenntnisse in Biologie oder Chemie erforderte, geschweige denn der Gesetzeslage, die es nicht zuließ, dass Krethi und Plethi sich auf Rattenfang begaben. Darüber hinaus konnte man nicht einfach Ratten mit einem Knüppel erschlagen – schließlich gab es ethische Grundsätze, die auch beim Töten von Ratten ihre Gültigkeit nicht verlieren durften. Eine fürwahr recht abenteuerliche Vorstellung eines Politikers, dachte Herbert, die sehr viel über den Bewusstseinsstand eines Erwachsenen verriet, der mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität zu stehen vorgab.

      Ratten sind flinke Tiere und lassen sich nicht durch Lärm erschrecken oder aus ihren Löchern vertreiben. Erst eine direkte Berührung würde den erwünschten Effekt erzielen. Eine sehr uneffektive Methode wäre dies, um Ratten zu jagen. Herbert machte sich so seine Gedanken, auf welche Weise er Ratten massenweise zusammentreiben könnte. Nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es nach der Hamelnschen Methode gewiss nicht funktionieren könne, schließlich seien diese Tierchen bekanntermaßen jeglichen Geräuschen gegenüber indifferent. Sex hingegen hatten sie recht häufig. Eine Rättin bringt es im Laufe ihres Lebens immerhin auf eine Deckungsrate von 200 bis an die 500 Malen. Ratten vermehren sich, wie man sieht, recht schnell und sind schon nach wenigen Wochen geschlechtsreif, hatte Herbert über das Internet in Erfahrung bringen können. Hier also müsste er den Hebel ansetzen. Ebenso, wie es beim Menschen sexuelle Schlüsselreize gibt, gab es diese nach Herberts Überzeugung auch bei Ratten. Wie gesagt, Kenntnisse in Biologie waren unvermeidlich, um das Problem zu lösen. Die Ratten mit einem Rattenbordell anzulocken und dann die Falle zuschnappen zu lassen: Klappe zu, Ratte tot – so einfach konnte das in Herberts Vorstellung sein. Er träumte von einer unerschöpflichen Geldquelle, die in Berlin-Mitte sprudeln müsste, wo sich angeblich vier Millionen der niedlichen Nagetiere von Imbissresten und anderen Abfällen ernährten.

      Herbert googelte weiter, um mehr über das Sexualverhalten der Ratten zu erfahren und wurde auch recht bald fündig: Aspirin sei bestens geeignet, das Sexualverhalten bei Ratten zu verändern, allerdings eher in eine Richtung, die Herbert nicht beabsichtigte. Was konnte Ratten nun so aufgeilen, dass sie freiwillig in Herberts Rattenbordell eilen würden? Ein paar Links später entdeckte er weitere, nicht weniger hilfreiche Hinweise: „Moderate doses of caffeine affect sexual behavior in female rats“. Das Experiment, das einst Guarraci und Co. an den possierlichen Nagern durchgeführt hatten, zeitigte eindeutige Ergebnisse: 15 bis 30 mg Koffein pro kg Ratte versprachen, die weiblichen Tiere rattenscharf zu machen.

      Nun war es an der Zeit, ein Geschäftsmodell zu entwickeln: Herbert träumte. Für jede tote Ratte einen Euro, das macht bei einhundertausend Ratten einen stattlichen Betrag, von dem es sich sicherlich einige Zeit über die Runden kommen ließ. Auf der anderen Seite waren die Investitionskosten zu bedenken: Die Rattenfarm, die für eine derart große Anzahl von Tieren notwendig sein würde, bräuchte nicht unbedingt etwas zu kosten: eine leer stehende Ruine – davon gab es genug in seiner unmittelbaren Umgebung – würde den Zweck erfüllen. Dennoch müssten die Tierchen für eine gewisse Zeit am Leben erhalten werden, was wiederum Zusatzausgaben für Nahrung und letztendlich auch für Koffein und Aspirin bedeutete, um die Zucht entsprechend steuern zu können. Da Rattennahrung, wie Herbert ebenfalls über das Internet in Erfahrung gebracht hatte, nur zu 10% aus tierischen Eiweißstoffen besteht, fühlten sich die Ratten bei einer vegetarischen Kost am wohlsten. Dies wiederum würde unmittelbar die Kosten senken. Probleme bereiteten Herbert eher die benötigten Mengen an den besagten Aufputschmitteln. Sie waren nicht so billig zu bekommen. Beim Koffein sah die Bilanz etwas erfreulicher aus, weil man bei einer durchschnittlich großen Tasse Instant-Kaffee von einer Koffeinmenge von 60mg ausgehen konnte. Dies würde für zwei bis vier zu dopende Weibchen reichen. Würde er anfangs auf das Aspirin verzichten, so könnte er die Kosten besser unter Kontrolle halten.

      Nicht nur in Zeiten einer Finanzkrise hätte Herbert für seine Rattenzucht keinen Heller von irgendeiner Bank bekommen, und ohne entsprechende Werbemaßnahmen ist bekanntermaßen kein Geschäftsmodell tragfähig. Es fehlt ihm sozusagen die Statik, die es krisensicher macht. Allerdings war es Herberts Träumereien zufolge sehr einfach, zum Ankurbeln seiner Geschäfte die Öffentlichkeit für seine Zwecke einzuspannen. Zunächst würden ein paar Ratten reichen, die er heimlich an markanten Punkten in Berlin-Mitte aussetzte. So zum Beispiel im Roten Rathaus, dem Fernsehturm, dem Einkaufszentrum Alexa oder in der „Galeria Kaufhof“ am Alexanderplatz, und schon hätte er seine Hausaufgaben gemacht und brauchte nur auf den nächsten Tag zu warten. „Rattenplage am Alexanderplatz“, „Berlin erstickt in Ratten“ hätten die Schlagzeilen lauten können und die Exklusivfotos, um die sich voraussichtlich jede Boulevardzeitung gerissen hätte, wären von ihm gekommen: Erschreckte Kunden, vom Ekel getrieben, suchen fluchtartig das Weite und finden es nicht, weil draußen, auf dem Platz, erneut von Herbert großgezogene Ratten ihre Wege kreuzen. Diese Geschäftsidee wiederum hätte ihm das fehlende Anfangskapital für seine geplante Rattenzucht eingespielt.

      Alles andere wäre wie von selbst gelaufen. Die Politik wäre erneut mit dem Vorschlag bezüglich des Rattenkopfgeldes an die Öffentlichkeit getreten und hätte die Kammerjäger, die einst behauptet hatten, die Rattenpopulation in Mitte sei seit Jahren konstant geblieben, eines vermeintlich Besseren belehrt. Die Fangprämie pro erlegter Ratte wäre erst einmal von einem auf sage und schreibe zwei Euro gestiegen, die Rahmenbedingungen für die Rattenjagd – insbesondere die Abschaffung lästiger ethischer Vorgaben durch das Gesetz – wären prompt umgesetzt worden und Herbert wäre endlich das gewesen, was er schon immer sein wollte: Regisseur seiner selbst inszenierten Uraufführung. Eventuell hätte man sogar auf Leihkapital aus der freien Marktwirtschaft hoffen können, die wiederum die Rattenjagd in der zweiten heißen Phase über eine Rattenbörse in Schwung gebracht hätte. Angebot und Nachfrage hätten somit die Fangprämie bestimmt, während die Politik, hiervon war Herbert überzeugt, bereitwillig die deregulierenden Voraussetzungen für die Ponzi-Finanzierung, Naked Short Selling, Forwards bzw. Futures und Put- bzw. Call-Optionen an dieser sonderbare Börse geschaffen hätte, um auch der internationalen Finanzwirtschaft den Braten schmackhaft zu machen. Endlich hätte man ein wirksames Segment für Zockerkapital in der Hand gehabt, dem ein gewisser Unterhaltungswert nicht abging. Der ein oder andere Banker der Stadt hätte nach Herberts Vorstellung gewisse Teile von Geldströmen genutzt, um die Preise an der Rattenbörse nach unten oder oben zu treiben. Herbert spürte, wie die Freiheit in seinen Adern