Günter Opitz-Ohlsen

In den Sand geschrieben


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wie die Ägypter mit ihrer eigenen Geschichte umgegangen sind. Ein guter Vorsatz zwar, aber eine denkbar schlechte Ausführung.

      Würde dasselbe Schicksal nicht genauso den Erkenntnissen eines zweiten Janke in etwa 400 Jahren widerfahren können? Verschollen in den Open-Access-Servern der Wissenschaftswelt. Herbert stellt sich den neuen Beruf des Wissenschafts-Archäologen vor. Fleißige Menschen, die das Datenmaterial der Vergangenheit durchforsten und bereinigen und so neue Ausgrabungsgebiete erschließen. Natürlich wird ihre Sisyphusarbeit von Computern unterstützt, ansonsten hätten sie kaum die Chance gehabt, den entsprechenden Artikel eines zweiten Janke entdecken zu können, den dieser bereits 300 Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Die Lorbeeren hingegen hätte ein anderer bekommen, der sich besser vermarkten konnte als dieser flinke, drahtige ca. 1,70 große Mitarbeiter, der vor seinen Kunden – oder sind es in seinem Fall die Hilfebedürftigen? – ins nächste Amtszimmer zu fliehen scheint.

      Das eindrucksvollstes Warteerlebnis in seinem bisherigen Leben hatte Herbert allerdings, als er vor Jahren mit einem Mietwagen an der Küste Portugals entlang fuhr: Steilküste, verträumte Buchten, romantisch bis in den letzten Quadratmeter. Abends, kurz vor Sonnenuntergang, sind die Parkplätze an den Steilküsten allerdings voller Autos: Richtung Meer ausgerichtet und die Türen weit geöffnet. Einheimische blicken auf die offene See und warten auf die Seefahrer, die schon vor langer Zeit hinausfuhren, um die Welt zu entdecken. Einige unter ihnen kehrten zurück, andere nicht. Und so wartet man immer noch auf die Rückkehr der verschollenen Helden wie der Christ auf das Reich Gottes. Eine schöne Wartevorstellung, die sicherlich in Herberts Vorträgen ihre Erwähnung finden sollte.

      Herbert bastelt in Gedanken weiter an seiner Vortragsreihe und ist, wie von unsichtbarer Hand geleitet, inzwischen im Warteraum des JobCenters angelangt. Ein weiß gestrichener Raum mit Krankenbetten in jeder Ecke und Stuhlreihen wie im Kino offenbart sich ihm. Sphärische Musik rieselt aus in der Decke eingelassenen Lautsprechern und die Jalousien sind zugezogen. Die Mittagshitze ist unerträglich geworden. Herbert ist nicht der einzige, der schwitzt.

      Jedes Ding hat seine Geschichte, geht es ihm weiter durch den Kopf. Die geschichtliche Dimension des Wartens muss er in jedem Fall in seinem Vortrag verwursten. Was würde sich besser dafür eignen als das Schicksal des Gotenkönigs Alarich? Eigentlich wollte er seinem Volk Siedlungsgebiete verschaffen, um in Frieden leben zu können. Nach Herberts Meinung waren dies eher bescheidene Wünsche, die Alarich hatte. Weil er aber nicht zerstören, sondern verhandeln wollte, belagerte er Rom und setzte damit in Ravenna den jugendlichen Kaiser Honorius unter Druck. Letztendlich wurde seine Taktik nicht von Erfolg gekrönt, denn die Gegenseite verfügte ihrerseits über Druckmittel. Sobald aber absehbar war, dass ein Patt im Warteduell entstehen würde, sah Alarich gute Chancen für Honorius‘ Bereitschaft, den Vertrag zu unterzeichnen. Manchmal ist ein Patt besser als ein vernichtender Sieg, denn ein mit einem gleichberechtigten Partner abgeschlossener Vertrag ist per se dauerhafter als einer, den man unter der Bedingung der verletzten Eitelkeit des Besiegten unterzeichnet.

      Ja, Warten ist eine aktive Handlung des Menschen, der dies bewusst tut, auf dass das, was er angestoßen hat, seine Früchte tragen möge. Dazu gehört der Mut zum Risiko ebenso wie die Geduld und der Eigensinn und, nicht zu vergessen, die richtige Verpackung. Bevor Herbert allerdings nach weiteren geschichtlichen Quellen suchen kann, blickt er in zwei dunkle Kinderaugen.

      Erst jetzt bemerkt er, dass er nicht allein im Wartezimmer des JobCenters ist. Im Raum ist eine Familie mit Baby, dazu mehrere junge Leute. Draußen, auf dem Flur, wartet eine Afrikanerin, zu der das Kind gehört, das Herbert gerade anlacht und ihm seine offene Hand entgegenstreckt. Es will nicht betteln, dies ist nicht die Szene für Brot für die Welt, nein, das Kind will Herbert begrüßen. „Na, bist du alter Sack auch hier? Na, klar ich kann dich doch nicht allein hier sitzen lassen!“ – Er zeigt dem Kind seine flache Hand: „Give me five!“. Der Kleine kennt das und schlägt ein. Schließlich lachen beide und das Kind geht zur nächsten Wartenden. Herbert versteht nicht, was die Frau sagt, sieht weiter in sich hinein, verliert den Kleinen aus den Augen.

      Benin, vor 500 Jahren, die Portugiesen sind unterwegs, um die Welt zu vermessen. Sie suchen neue Handelsverbindungen und der Handel mit Menschen ist sehr lukrativ zur damaligen Zeit. Doch woher soll die begehrte Ware kommen, wenn nicht aus dem Ursprungsland. Benin, ein aufstrebendes Volk, dessen Machthaber nicht davor zurückschrecken, Nachbarvölker zu überfallen und die Gefangenen auf dem Sklavenmarkt anzubieten. Begehrte Handelswährung ist die so genannte Manilla, schwere Reifen aus Bronze und viel zu groß, um den Arm oder den Hals einer Schönen zu schmücken. Davon haben die portugiesischen Handelsherren mehr als genug, und der Tauschhandel ist perfekt: Begegnung und Austausch zugleich, wie Herbert es in der Ausstellung in Dahlem einst lesen konnte. „Menschen gegen Messing“ dies wäre sicherlich zu plakativ gewesen, hätte man diese Formulierung auf den Schautafeln wiedergefunden. Das Messing wurde eingeschmolzen und zu Ehren des Königs von Benin zu besonders kunstvollen Gegenständen weiterverarbeitet, die man ebenfalls in der Ausstellung bewundern konnte.

      Welcher Tauschhandel wird sich hier im JobCenter abspielen, sobald er vor dem Fallmanager steht? Ein wenig zittern ihm die Beine, es ist schließlich das erste Mal. „Ene, mene, muh und arm bist du!“ Aber – wie geht es dann weiter? „Arm bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist? 54! 1,2,3,..., 52, 53, 54 – und raus bist du.“

      Herbert wird plötzlich klar, dass er sich diesmal auf eine sehr lange Wartezeit wird einstellen müssen. Eine Schwester betritt den Warteraum und ruft den nächsten Hilfebedürftigen für das RNA-Interferenz-Experiment auf. Ihr folgt ein Auszubildender, der alles protokolliert. Das Gespann verschwindet im Flur. Ein Kunde flucht so laut, dass Sicherheitskräfte ihn wegschaffen müssen. Ein Doktor erscheint im Wartezimmer und sucht den Raum nach einem vermissten Hilfebedürftigen ab.

      Wohin soll Herbert seinen Schritt in diesem Allerweltsbasar richten? Wie fremd ist ihm dies Bühnenbild mit der ausgeprägten Leidenschaft fürs Hintergrundgeschäft und die dazu notwendige Doppelmoral geworden, die vonnöten ist, um den Laden am Laufen zu halten. Die Schreckensnachrichten werden ebenso durch den Äther gedreht wie die Hoffnungsnachrichten heruntergeleiert. In all den Geschäften, vollgestopft mit Körben, Anzügen oder mit Salami, jeden Kubikmillimeter bis unter die Decke ausgenutzt oder sogar bis an die Eingangstür gestapelt, wird er seine Daseinsberechtigung niemals finden. Der Hund, der vor dem Salamigeschäft auf sein Herrchen wartet, hat einen sonderbaren gequälten Gesichtsausdruck. Nur eine Pfote trennt ihn vom Wurstparadies. Wie von einer unsichtbaren Energiewand zurückgehalten, regt er sich nicht, lässt sich nur im Vorübergehen ankläffen, um sich zu versichern, das sich das Leben durch alle Zwiebelschichten zu ihm durchbohren kann.

      Antworten auf Fragen wird Herbert hier nicht finden. Möglicherweise Jahre später, aber wird er solange durchhalten können? SSRI-Pillen hat er schon verschrieben bekommen. Aber eine dauerhafte Erleichterung würde seiner Meinung nach nur dann eintreten, wenn er endlich der Gruppe der Oxytocin-Patienten zugeordnet würde, schließlich hat er keine CCR5-Delta32 ähnliche Genmutation, die ihn schützen könnte. Nein, Arbeit muss er sich selber suchen, die ist hier nicht im Angebot. Eine plakative Aktion muss her, um sich Gehör zu verschaffen. In der Öffentlichkeit auftreten, selbstbewusst, fordernd. Wenn er jünger gewesen wäre, dann hätte er zu solchen Mitteln gegriffen. Jetzt muss er den Sündenbock spielen, für ein Bild, das in den Rahmen passt.

      Galois war 18 Jahre, als er über seinen Freitod nachdachte. Schon damals hatte er die moderne Mathematik im Kopf, die später, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, Grothendieck weiter entwickeln sollte. Aber erst 60 Jahre nach Galois' Tod wurden seine Aufzeichnungen gefunden, wurde er verstanden, wurde er gewürdigt. Zu spät für ihn, denn er hatte sich für den inszenierten revolutionären Heldentod entschieden. Aber in seinem letzten „Mémoire“, in dem er seine Theorie zusammenfasste und durch weitere Theoreme ergänzte, schloss er mit folgender Bemerkung: „Fragt Jacobi und Gauß nach ihrer Meinung in der Öffentlichkeit – nicht über die Wahrheit dieser Theoreme, sondern über ihre Bedeutung.“.

      Die milchigen Fenster machen den Staub sichtbar, der in der Luft liegt. Ein Staub, der sich in der Kleidung festsetzt, der, eingeatmet, sich auf die Lungenbläschen legt und ganz langsam die Luft zum Atmen nimmt. Dieser Staub, der mit jedem gesprochenen Wort wieder in die Atemluft zurückgeworfen wird, setzt sich