Grund dafür. Eigentlich dachte ich, es hätte sich um eine einfache Übertragung der Erinnerungen gehandelt. Aber es ist dann doch ganz anders. Ich erkläre es mir immer wie folgt: die Konservendose der traumatisierten Menschen ist löchrig. Durch diese Löcher können dann die grausamen Erinnerungen entweichen. Aber der traumatisierte Mensch versucht immer mit allen Kräften die Löcher zu stopfen. Komme ich dann, so entweicht die Erinnerung vollständig und wird in meiner Konservendose aufbewahrt. Aber die hat keine Löcher, nein, die ist absolut dicht. Nichts kann aus ihr entweichen und ich kenne die Erinnerungen, die ich aufbewahre, auch gar nicht. Ich weiß nur, dass sie eben in Schach gehalten werden und ihrer furchtbare Wirkung nicht mehr entfalten können.
Natürlich habe ich aus meiner Fähigkeit ordentlich Kapital geschlagen. Schließlich gibt es immer mehr traumatisierte Menschen: Vergewaltigungsopfer, traumatisierte Soldaten, traumatisierte Politiker uns so weiter. Meine Praxis ist schnell bekannt geworden. Inzwischen hatte ich die Buchungen komplett automatisiert. Sie konnten sich über meine Internetseite direkt anmelden. Eine Behandlung kostete 1000 € und dauerte ca. 15 Minuten oder vielleicht auch etwas länger, je nachdem wie lange sie mir ihr Trauma erzählten. Inzwischen bin ich sehr reich geworden und habe auch eine Frau kennengelernt, die ich auch von ihren traumatischen Erinnerungen befreit habe. Aber eines Tages wurde ich dann doch nachdenklich. Die Dokumetarfilmerin hatte einen Bericht über traumatisierte amerikanische Soldaten gemacht. Das sind waren damals meine besten Kunden. Und da sah ich ihn auf dem Bildschirm. Er war vor sieben Jahren bei mir gewesen und ich hatte seine Erinnerung an ein Bombenattentat in Bagdad gelöscht. Seit dem konnte er wieder einer geregelten Arbeit nachgehen. Er ist ein sehr erfolgreicher Immobilienhändler geworden. Doch eines Tages fand man ihn erhängt. Neben ihm war eine rote Schachtel, auf der der Namen Kate geschrieben stand. Das war meine Schachtel. Ich gab jedem Geheilten eine rote Schachtel mit. Darauf schrieb ich oft einen Namen, der mit der traumatischen Erinnerung zusammenhing. Ich sagte dann meinen Patienten, dass sie diese Schachtel immer gut aufbewahren sollten. Wenn ihnen zu dem Namen nämlich nichts einfiele, dann könnten sie auch sicher sein, dass ihre Erinnerung den Namen und den damit verbundenen Erlebnissen auch nicht mehr vorhanden sei.
Ich habe lange überlegt wie dies möglich war. Ich forschte nach und fand heraus, dass all die Suizide, die ehemalige Patienten begannen hatten, mehr als sieben Jahre zurück lagen. Ich konnte mir das nur so erklären, dass meine Konservendose irgendwann einmal voll ist und dann die Erinnerungen wieder freisetzt, die am längsten dort aufbewahrt wurden. Wenn ich also so weiter machen würde, so würde auch meine Frau an ihren wiederkehrenden Erinnerung sterben. Eigentlich bin ich zum Massenmörder geworden, aber ohne es zu wissen. Damals, als mir klar geworden ist, dass ich auch nur eine endliche Größe besitze, auch wenn meine Gabe schon außergewöhnlich ist, habe ich meine Praxis für immer geschlossen. Außerdem ist meine Erinnerungsdose inzwischen prall gefüllt. Ich merke das manchmal, wenn mein Bauch am Nabel sich wellt. Das dauert immer zehn Minuten lang, danach ist wieder Ruhe.
Heute frage ich mich, was mit all den Erinnerungen der Menschen passiert, wenn sie sterben. Ich habe inzwischen etliche Bücher darüber geschrieben. Meine Theorie ist sehr einfach: es gibt eine globale Erinnerungsdose, die viel größer ist als meine, aber auch nur endlich. Dort sind all die Erinnerungen der Toten aufbewahrt. Was allerdings geschieht, wenn auch diese Dose voll ist, wage ich mir nicht vorzustellen.
Nebel
Alles ist anders. Die Kugel muss in einem Winkel von 12 Grad und 23 Minuten in seinen Brustkorb eingeschlagen sein. Die Entfernung betrug bei diesem Kaliber ca. 13 Meter. Der Standpunkt des Schützen ist etwa die Hausecke, die du gerade noch erkennen kannst. Ja, genau die da. Da hat er oder sie gestanden, obwohl er wahrscheinlicher ist, denn sie bevorzugt Gift. Wenn dieser Nebel nicht wäre. Der macht mich noch krank. Andauernd dieses Grau, hellgrau, dunkelgrau den ganzen Tag über. Wie geht es dir damit? Freust du dich nicht auf den Frühling. Der müsste bald kommen. Ich werde zurück in mein Büro gehen. Irgendwie kommt es mir vor, als sei das Alles ein Endbild, das letzte Bild einer Bilderserie, die nun zu Ende geht. Auch die breiten Straßen und die hellbraunen unverputzten Gebäude links und rechts am Straßenrand passen in dieses Bild. Aber was wird zu Ende gehen? Ich weiß es nicht und ich will es nicht wissen. Die Traurigkeit ist grau, das ist mir jetzt klar geworden. Ich gehe jetzt, wenn du nicht noch weiter Fragen hast.
Der Mann ist circa drei Stunden tot. Genaueres kann ich dann sagen, wenn er bei mir auf dem Tisch liegt. Findest du auch, dass ich Urlaub brauche? Weg von diesem Grau, weg von diesen Endbildern. Eine neue Bilderserie entwickeln und dann kann alles wieder von vorne anfangen. Heute hatte ich einen Traum. Ich bin stundenlang eine breite Straße entlang gelaufen. Rechts und links nur graue Häuser. Alte Häuser aber auch die ganz neu gebauten waren grau. Dann sah ich eine lang gezogene Rechtskurve. Perspektivisch hätte sich das Bild verjüngen müssen aber es war genau umgekehrt. Ich wollte unbedingt wissen, was hinter der Kurve lag. Also bin ich schneller gegangen, immer schneller auf die Kurve zu. Dann konnte ich endlich sehen, was nach der Kurve kam. Die Bebauung hörte auf, und eine breite Allee machte Platz für dieses Grau. Sie wurde von der Sonne hell erleuchtet. Alles war vergoldet, auch die grauen Häuser links und rechts der Straße. Eigentlich war es nur diese neue Beleuchtung, die das Bild komplett verändert hat. Alles andere war gleich. Was soll ich nun mit diesem Traum anfangen? Ihn deuten lassen oder ihn auf sich beruhen lassen? Aber ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten. Hast selber genug davon. Musst den neuen Fall lösen. Es ist doch schon der dritte Mord in einer Serie. Habt ihr schon die Verbindung der Mordopfer? Bestimmt nicht leicht, das Leben der anderen zu beleuchten, wenn diese kein richtiges Leben gehabt haben.
Was ist schon ein richtiges Leben. Ich habe bestimmt keins. Eigentlich will ich den Job nicht mehr länger machen. Aber was soll ich sonst tun? Immer habe ich davon geträumt, auf dem Land in einem verlassenen Bauernhof zu wohnen. Dann hätte ich genug damit zu tun, die Gebäude nach meinen Vorstellungen umzubauen. Früher hätte ich die Kraft dazu gehabt. Alles stehen und liegen lassen und dem Ruf zu folgen, der mein Inneres ´beherrscht. Aber heute ist es zu spät dafür. Der Zug ist abgefahren und wird nie mehr dort halten, wo ich hätte umsteigen können. Nun fahre ich einfach weiter. Lasse die Städte links liegen und irgendwie hält dieser Zug auch nicht mehr an. Endlose Weiten liegen vor mir und alles ist in dieses trostlose Grau gehüllt. Als wäre ich auf einem anderen Planeten, als hätte man mich seit der letzten Nacht Lichtjahre entfernt auf einen anderen Ort verpflanzt.Alles ist gleich, nur die Farbe grau hat hier die Oberhand. Schon bin ich ein anderer Mensch, und schon ist die Welt draußen. Dies Gefühl begleitet mich. Ich kann es nicht los werden. Immer wieder kommt diese Traurigkeit, die keinen Inhalt hat, die sich nicht bestimmen lässt, die eine Leere mit Leere ausfüllt. Wozu soll das alles gut sein? Hat es eine bestimmte Bedeutung? Früher hat mich die Arbeit immer in Trance versetzt. Da war ich bei der Sache, konnte mich auf etwas konzentrieren, hatte eine Aufgabe. Jetzt, wo die Aufgabe zu Routine geworden ist, hätte ich Zeit, mich umzusehen. Neue Aufgaben warten auf dich! Aber welche? Jetzt kommt auch noch dieser Nebel hinzu. Er zieht alles zu. Schemenhaftes Anderssein etwa? Doch, der Nebel war mir immer ein treuer Begleiter. Er erinnert mich an meine Kinderkrankheiten. Wie ich im Bett lag, wohl versorgt durch die Mutter und durch das breite Wohnzimmerfenster nach draußen sah in dieses Nebelgrau, das die Bäume verschwinden ließ, aber den Fensterrahmen um so deutlicher hervorhob. Ja, genauso war es, und ich habe mich gut dabei gefühlt. Manchmal wünsche ich mir dieses Grau herbei, und dann wähne ich mich im Bett, so, wie es damals war, und fühle mich gut gedeckt, durch das undurchdringliche Grau, das mir den nötigen Schutz gibt. Das ist die andere Seite des Grauhaften. Es schützt mich, einfach so, ohne dass ich etwas dafür tun muss. Es gibt mir das Gefühl der Sicherheit. Nichts kann dieses Grau durchdringen, selbst mein Blick nicht, und dann kann auch niemand mich sehen, denn ich will nicht auffallen, will nicht in die Öffentlichkeit gezogen werden, will lieber im Geheimen operieren und die Strippen ziehen, so wie jetzt eben.
Warum ich das getan habe, weiß ich nicht. Ich kannte den Mann kaum. Aber halt, einmal habe ich ihn gesehen. Zufällig stand er vor mir. Dieses graue Haar und, ach ja, eben alles war grau. Dann bin ich ihm gefolgt, und mir ist klar geworden, dass ich mich nur befreien kann, wenn ich mich von diesem Menschen befreie. Er hätte mich mein Leben lang mit seiner Grauheit verfolgt, er hätte mir zugesetzt, das konnte ich nicht zulassen. So habe ich es eben getan. Aber besser ist es dadurch auch nicht geworden.