Günter Opitz-Ohlsen

In den Sand geschrieben


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      So spiegelt sich derjenige, der an den Strippen zieht, sich in demjenigen wider, der an den Strippen hängt. Minimale Muskelzuckungen können große Ausschläge bewirken, wie das Heben eines Armes oder das nach vorne Stellen eines Beines. Auch für ein weit aufgerissenes Maul reicht eine kleine Handbewegung aus. Die Marionette ist gleichsam wie ein Verstärker, der den gewollten Bewegungen einen derartigen Schwung verleiht, dass die Umstehenden etwas Eigenständiges, durch unsichtbare Hand Gelenktes, wahrnehmen.

      All dies basiert auf dem Hebelgesetz, das die Arbeit als ein Produkt aus Kraft und Weg beschreibt und somit auch erklären kann, warum nur geringe Kräfte nötig sind, um Großes zu bewegen. Gerade in diesem Augenblick scheint ihm dies nicht nur logisch, sondern auch durch das Experiment verifiziert. Was aber würde geschehen, wenn die Raumzeit in dem Maße gekrümmt wäre, dass sich in noch so kleinen Umgebungen keine lokalen kartesischen Koordinaten, die aus Sicht des Beobachters Vergleichbares, Intersubjektives lieferten, für die Marionette mehr fänden, sondern alles der Radikalität des Subjekts überlassen wäre?

      Herbert ist allein im Wartezimmer. Bald müsste auch er aufgerufen werden. Oder war schon jemand da? Er wird nervös, steht auf, geht zum Fenster, dreht sich um, geht zur offenen Tür und schaut in den leeren Gang. „Bitte folgen Sie mir. Sie sind heute der Letzte!“, steht auf einem DINA 4 Blatt geschrieben, das mitten auf dem blankgeputzten JobCenter-Boden liegt. Er hebt es auf, geht zurück in den leeren Warteraum und setzt sich auf einen der freien Sitzplätze am Fenster.

      Ausgezeichnet

      Herbert schaut durchs Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, zu Lidl, und denkt an Möhren, Kartoffeln und Kohl. Die Haustür fällt hinter ihm ins Schloss und er huscht an den Schritt fahrenden Autos vorbei. Da ist das Ei – so nennt er bei sich den Wohnwagen, den ein Unbekannter hier abgestellt hat und vor dem er nun steht. Er liest auf dem am hinteren Ei-Fenster angebrachten Pappschild: 10 Euro pro Tag; eine Woche: VB. Darunter die Telefonnummer, die Herbert umgehend anruft. Die Stimme am anderen Ende der Leitung versichert ihm, alles sei ernst gemeint und kein Joke. Warum auch nicht, denkt Herbert, geht diesmal nicht in den Supermarkt und macht auf dem Absatz kehrt.

      Irgendwo hat er noch Karteikarten, die er jetzt gut gebrauchen kann. Auf ein noch unbeschriftetes Blatt Papier im DIN A3-Format schreibt er: 1 x Waschraum benutzen: 2 Euro, 1 x Betreten der Terrasse: 1 Euro, 1 x Übernachtung im Hochbett pro Person, Frühstück incl. 12 Euro, Waschen und Toilette gratis dazu. Er platziert das Schild in das Wohnzimmerfenster, das zur Straßen hin liegt. Was hat er noch zu vermieten? Die Bücher in seinem Bücherregal – für nur einen Euro oder vielleicht kiloweise? Die Kleidung, die er jeden Tag trägt, versieht er ebenfalls mit Preisschildern. Die Lederjacke für nur 15 Euro, die Schuhe, nagelneu für 10 Euro und selbst das Hemd ist für 2 Euro zu haben. So ausgezeichnet macht er sich auf seinen täglichen Weg in die Stadt.

      In der Straßenbahn sieht er einen älteren Mann. Ein Preisschild mit der Aufschrift „5 Euro“ klebt an seinem Hut. Ein Jugendlicher klappert mit einer Geldbüchse: eine kleine Spende für meine Abifeier! Der 5-Euro-Hut neben ihm will wissen, ob der Abiturient überhaupt einen Spendensammelausweis habe, denn nicht jeder x-Beliebige könne in Deutschland Geld sammeln. Die Fenster der Straßenbahn sind mit Zetteln verklebt. Herbert sieht auf seine „15“ und denkt, dass man in diesen Zeiten nur noch als Papierverkäufer Geld verdienen könne. Fast wäre er gegen ein 4.500 Euro-VB- Auto gerannt, als er die Straßenbahn verlässt.

      Auf dem Bürgersteig bietet ein arbeitsloser Mann seine Dienste als Vorleser und Schreiber für 50 Cent pro Seite an. Eine Frau fragt Herbert, ob er nicht für 7 Euro 50 pro Stunde durch die Stadt geführt werden wolle? Ein fliegender Händler mit Zigaretten und Schnaps im Bauchladen kreuzt seinen Weg. Ein paar Schritte weiter sitzt ein Maler, der für 20 Euro Porträts anfertigt. Musik ist heute auch im Angebot: eine regungslose menschliche Musikmaschine, die gegen einen kleinen Obulus von 1 Euro angeworfen werden kann, hat sich kurz vor einer großen Straßenkreuzung aufgestellt.

      An der Ampel stehen Kinder mit Eimern. Sobald ein Auto anhält, stürzen sie sich nach vorn und putzen die Windschutzscheibe für einen Euro Minimum. Daneben wartet der fliegende Zeitungsverkäufer, der den Autofahrern mehrere Tageszeitungen mit gleichlautenden Schlagzeilen anbietet. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung hat sich ein Getränkeverkäufer postiert. Hart umkämpftes Terrain, denkt Herbert und wartet auf Grün, um endlich zur S-Bahn-Station zu kommen. Auf dem Bahnsteig wird er von einem Würstchenverkäufer empfangen, der die Wartenden mit Bockwurst und Bratwurst versorgt. Diesmal für nur 80 Cent. Sehr preiswert, denkt Herbert, aber er hat jetzt keinen Hunger.

      Sein Handy hat sich noch nicht gemeldet. Er denkt an den mit dem Ei. Ob der schon einen 10-Euro-Schläfer gefunden hat? Da ist sein Angebot mit dem Hochbett und dem Frühstück für 12 Euro doch wesentlich besser. Also, warum rufen die Touristen nicht massenweise an?

      Ein Baby lacht ihn aus einem Kinderwagen an. Seine Mütze ziert ein 2-Euro-Preisschild. Die Jacke ist für 4 Euro und der Kinderwagen für 100 Euro zu haben. Die S-Bahn fährt ein, Herbert rechnet mit ein paar Millionen, aber er ist enttäuscht, als er kein Preisschild erkennen kann.

      Der Sammler

      Das Sammeln ist dem Menschen in die Wiege gelegt, genetisch kodiert so wie das Jagen. Seiner Notwendigkeit beraubt treten beide Tätigkeiten im hochtechnisierten Zeitalter in entfremdeten Formen auf. Macht gewinnt man, wenn man Daten sammelt, sie auswertet und dann eventuell manipuliert, damit die Person in der Öffentlichkeit bloß gestellt wird und endlich in den wohlverdienten Ruhestand geschickt werden kann. Gemeiner wird es, wenn Geheimdienste und Polizei auf Datensammlungen zurück greifen. Hier kann der Person ein mächtiger Schaden entstehen. Die Person wird unter Druck gesetzt etwas zu behaupten, was aus ihrer Sicht einfach nicht wahr ist. Die Inquisition hat in der Demokratie sehr viele Gesichter aber eins davon ist das grausigste: wenn ein Rechtsstaat zu seinem eigenen Schutz das Recht bricht und später den Rechtsbruch nicht mehr aufklären kann, weil Behörden, Geheimdienste und andere verdeckt, gelogen und gemauert haben.

      Besser sind die Menschen dran, die etwas Kurioses sammeln. Parkuhren oder Knöllchen. Um die Sammlung interessant zu gestalten, muss sie inzwischen den Globalisierungsfaktor aufweisen. Ein Knöllchen aus Hiddensee reicht nicht mehr, obwohl es sich hier um eine Kuriosität handeln würde. Nein, das Knöllchen muss schon aus einem anderen Land sein. So kämen die Falklandinseln genauso in Frage wie vielleicht Grönland, damit eine sehr gute Knöllchensammlung entsteht.

      Manche Menschen sammeln große Dinge, weil sie im Leben immer große Dinge geleistet haben. Große Dinge brauchen viel Platz. Jeder kennt Sammlungen alter Autos, die, bedingt durch ihr Alter eben, immer der gehobenen Finanzkaste zuzuordnen sind. Ganze Inseln benötigt man heute schon, um Sammlungen solcher Art auszustellen. Das ist mit den Museen nicht anders.

      Sammeln soll eine Leidenschaft sein. Aber was ist, wenn man etwas sammelt, das keinen Platz benötigt, das eben gar nicht sichtbar ist aber trotzdem vorhanden. So geht es mir. Ich sammle Erinnerungen anderer Menschen. Sie werden meiner Meinung nach in einem Bereich meines körperlichen Dasein gespeichert, auf den noch nicht einmal mein Unterbewusstsein Zugriff hat. Irgendwo unter meiner Bauchdecke muss es sein. Dort sind die Erinnerungen drin. Denn manchmal spüre ich ein Kribbeln an einer ganz bestimmten Stelle meines Bauches. Da muss es sein. Die Erinnerungen kann keiner sehen, selbst ich kann sie nicht sehen. Es sind eben konservierte Erinnerungen und ich bin die dazu gehörige Konservendose mit einem mehrjährigem Haltbarkeitsdatum.

      Es war vor etwa zehn Jahren, da stellte ich fest, dass ich diese besondere Gabe habe. Ich kannte eine sehr schüchterne Frau, die als Kind von ihrem Onkel sexuell missbraucht worden war. Sie litt unter Albträumen und wollte ihrem Leben ein Ende setzen. Doch dann kam ich. Der Retter aus der Erinnerungsmaschine. Ich sprach mit ihr eines Abends über diese schrecklichen Erlebnisse. Warum sie sich mir gegenüber so geöffnet hat, kann ich nicht sagen. Ich hielt ihre Hände und plötzlich veränderte sich ihr Gesicht derart als wäre sie von ihren traumatischen Erlebnissen geheilt worden. Sie konnte sich auf Nachfrage meinerseits nicht mehr an diesen Missbrauch erinnern. Ihr Leben änderte sich schlagartig. Sie ging in die Öffentlichkeit, hatte keine Beziehungsängste