Günter Opitz-Ohlsen

In den Sand geschrieben


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ihm zu dem Höhenrausch verhalf, den man mit keiner Droge dieser Welt hätte kaufen können. Rosige Zeiten, kam es über seine Lippen, und die Worte beschrieben nicht nur seine hervorragende Stimmungslage, sondern verstärkten sie sogar.

      Ein Haken hatte die Sache nur: Woher sollte Herbert seine Ratten bekommen? Für die Zucht kamen verständlicherweise nur lebendige Tiere infrage. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los. Herbert machte sich erneut im Internet kundig. Den Link „Berliner Unterwelten e.V.“ fand er sofort und las staunend über das „zweite Berlin“: Eine grüne Tür im U-Bahnhof Gesundbrunnen, die Falkturmruine im Volkspark Humboldthain, Geisterbahnhöfe, die zu früheren Zeiten West-U-Bahnen benutzten, um den Ostteil der Stadt zu unterqueren, oder aber die selbst gebauten Fluchttunnel aus der Zeit des Kalten Krieges. Alles in Allem hervorragende Überlebensstätten für die Gattung innerhalb der Unterfamilie der Altweltmäuse.

      Sichtlich zufrieden konnte Herbert an diesem Tag zu Bett gehen. Er hatte einen Plan, sowie für den nächsten Tag eine Aufgabe, die ihn am Leben erhalten würde. Selbstverständlich schlief er sofort ein, ohne die sonst üblichen Grübeleien in seinem Kopf darüber, wie es weiter gehen sollte, für den Fall, dass er auch in diesem Jahr keine sozialversicherungspflichtige Lohnarbeit finden würde.

      Das Licht seiner Grubenlampe beleuchtete nur spärlich den dunklen Gang, der im Schein der Lampe wiederum seine Gestalt stets nur bruchstückhaft enthüllte. Herbert war in der Unterwelt angelangt, und hier schien es all das zu geben, was es auch über Tage gab. Wie viel Leben traf er hier an? Er konnte es nur erahnen. Die Erde ist hohl aber nicht leer, dachte er bei sich, und er handelte diesen Gedanken wie eine tief greifende philosophische Erkenntnis, die ihm gerade ihren metaphysischen Charakter offenbart hatte. Vielleicht lag es an der punktuellen Beleuchtung seiner Grubenlampe: Er glaubte sich in seinem eigenen Körper, den er nun, kraft seiner Gedanken, erhellen konnte. Was hatte die elektronische Revolution der Gesellschaft noch gebracht außer einer sich anscheinend ins Unendliche steigenden Geschwätzigkeit? Viele zusätzliche Adern, die die Nervenzellen dieser Welt miteinander verbanden und imstande waren, innerhalb einer Sekunde millionenfache Informationen in Form von Lichtimpulsen zu übertragen, die hier unten nur überleben konnten, weil sie mit einen Nageschutz ummantelt oder aber durch Kabelkanäle geschützt waren. Würde dies die Ratten tatsächlich davon abhalten, an den Kabeln zu nagen, Geldtransaktionen zum Erliegen zu bringen, die Wirtschaft zu ruinieren? Welchen Wert hatte schon ein Computer, wenn er nicht vernetzt war? Nur in einer vernetzten Welt konnte alles mit Lichtgeschwindigkeit geschehen: Sowohl die Krise als auch der Aufschwung konnten sich so schnell abwechseln, dass der Unterschied nicht mehr zu bemerken war und sich die Wahrnehmung auf ein statistisches Mittel einstellten musste, um der Geschwindigkeit in der Unterwelt scheinbar zu trotzen.

      Hier also pulsierte das Blut, das den Körper am Leben erhielt, solange die entsprechend Nahrung von außen zugeführt wurde! Wie aber konnte in dieser dunklen, nie ganz auszuleuchtenden Welt die Spezies Ratten nur überleben, von der Herbert noch immer annahm, sie hier, an diesem Ort, anzutreffen? War es am Ende die Geschwindigkeit selbst, die diese bis an ihre Grenzen ausgereizte Welt gleichzeitig ebenso gierig wie fragil machte? Würde eine einzige Ratte genügen, sie zum Zusammenbruch zu bringen?

      Herbert sah im Licht seiner Grubenlampe ein lose herunter hängendes Kabel. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Daten- oder ein Stromkabel war, dennoch hatte er mit einem Mal ein triebhaftes Verlangen, das Kabel zwischen sein Diastema zu platzieren, um dann mit seinen Schneidezähnen, die im Laufe der Zeit zu schnell gewachsen waren, daran zu nagen. Dies tat er nicht, um sich etwa durch Nahrungsaufnahme zu stärken, sondern um sich durch den dadurch entstehenden Abrieb die Schneidezähne zu kürzen. Diese notwendig gewordene Gebisspflege erschien ihm in seiner Situation mehr als angemessen.

      Zudem litt Herbert schon seit geraumer Zeit an einer bislang nie abgeklärten Augenentzündung. Zwar heilte sie vorübergehend ab, kehrte aber recht bald wieder, sobald die Augentropfen aufgebraucht waren. Irgendwann hatte er aufgeben und sich damit abgefunden. Morgens war es immer besonders schlimm, weil sich im Schlaf das aus den Augen austretende rötliche Sekret über seine Gesichtshaut verteilte und dort Entzündungen hinterließ, die er dann mit einem Kräuterextrakt behandelte. Auch hier in der Unterwelt tränten seinen Augen, und im Licht der Grubenlampe konnte er eine einzelne Träne auf seiner Handfläche erkennen. Er verrieb sie sorgsam in seinem Gesicht, um die Haut damit zu reinigen.

      Die Grubenlampe erlosch, aber zum ersten Mal überhaupt nahm die Dunkelheit Herbert nicht die Orientierung. Er verließ sich nur auf sein Gehör, welches sich allem Anschein nach gebessert hatte. Wie erstaunt war er nunmehr über die Präzision der Geräuschwahrnehmung! Er schien sogar diejenigen Töne zu hören, die sich über die Kabelkanäle verbreiteten. Ohne sich seiner Umgebung zu vergewissern, folgte er einem der fortdauernden Pfeiftöne, die ihm sehr weit entfernt vorkamen. Dass er sich dabei wie ein Kleinkind auf allen Vieren bewegte, merkte er zunächst nicht, denn in seiner Nase war ein Geruch, der ihn betörte. Herbert bewegte sich immer schneller vorwärts, nur noch seiner Nase folgend. Noch nie im seinem Leben war er so flink gewesen wie jetzt. Diese neue Beweglichkeit verschaffte ihm ein Glücksgefühl, das ihm schon lange abhanden gekommen war. Er hätte vor Freude tanzen und in die Luft springen können und das tat er auch, eben so lange, bis er das sich ihm nähernde, spitz zulaufende Gesicht mit den dunklen Knopfaugen erkannte. Er hatte die Quelle des betörenden Duftes gefunden, die ihn für ein paar Sekunden alles vergessen ließ, was ihn je gequält hatte.

      Die unerträgliche Bedeutungslosigkeit des Seins

      Trockenrotte hilft gegen wilde Rammler. Deswegen werden wir noch lange nicht aufgeben. Bedenke aber, was auf dem Spiel steht. Wir sind viel zu weit gegangen. Wenn alles zusammenbricht? Doch wir haben nichts zu verlieren. Lass die doch reden, wir sind am Drücker. Solange die nur reden, wird uns nichts passieren. Ja, es ist ein Verbrechen, die wilden Rammler einfach frei herumlaufen zu lassen. Ja, es ist ein Verbrechen, dazusitzen und nichts zu tun. Die Trockenrotte griffbereit neben sich zu haben. Ja, sie haben recht. Oh, Helena, da sind Sie ja. Setzen Sie sich zu uns. Er versucht mich davon zu überzeugen, dass alles unnötig ist. Alles, wissen Sie! Doch ich glaube ihm nicht. Nicke nur mit meinem Kopf, stimme ihm zu, damit er sich wieder beruhigt. Oh Helena, endlich sind Sie da!

      Robert erwacht. Der Fernseher ist die ganze Nacht gelaufen. Etwas benommen setzt er sich im Bett auf. Hätte er tief durchgeschlafen, wäre er jetzt hellwach. Aber die Aufregung hat ihn um seinen Schlaf gebracht. Er schaut auf die Uhr: es ist 4 Uhr früh. Zeit für Robert, aufzustehen.

      Sehen Sie nur. Wie er da sitzt. Den Körper eines Herakles. Abraxas, wie habe ich dich geliebt, deine Zunge, deinen Hals, deine Arme, einfach alles. Reinbeißen will ich in dich, wie in ein Stück Sahnetorte. Deine Schreie will ich hören, Abraxas. Du hast mich verraten! Warum bist du hier? Glaubst du, ich bin eine Hure? Glaubst du, du kannst deine Spielchen mit mir treiben und danach fortgehen, als sei nichts gewesen. Glaubst du das?

      Robert kommt aus dem Badezimmer. Er fühlt sich wie neugeboren. Das Fernsehen läuft im Hintergrund. Die Sachen zusammensuchen, den Koffer packen und dann ab zu Rezeption, zahlen, ins Taxi steigen und zum Flughafen.

      Wieso tun Sie das mit mir? Wieso? Der Arzt hat Ihnen jede Aufregung verboten. Beruhigen Sie sich. Trinken Sie das. Alle Rammler sind tot. Haben Sie gehört: alle! Also reißen Sie sich zusammen. Denken Sie nach, ob sie diesen Namen schon einmal gehört haben. Und? Haben Sie ihn gehört? Es ist wichtig! Wir müssen es wissen. Ganz genau müssen wir es wissen. Also?

      Robert plant den Ablauf. Jede Handbewegung sitzt. Alles ist zeitlich aufeinander abgestimmt. So hat er es gern.

      Rupert! Sie essen ja nichts! Das dürfen Sie nicht tun! Dürfen Sie nun wirklich nicht tun! Sie müssen etwas essen, mein Lieber! Sonst sterben Sie mir unter der Hand weg. Und ich werde beschuldigt! Von all den Rammlern, aber die sind ja alle tot. Dann eben von all den anderen. Die in den weißen Kitteln, die mit der offenen Hose, die mit den Turban auf dem Kopf. Sie wissen schon. Überall haben sie sich hier niedergelassen. In jeder Ecke hängen sie herum. Diese Taugenichtse, diese Schmarotzer, dies faule Pack. Schlecht sind sie, ja schlecht, und ihre Brut ist unbelehrbar. Ich war krank. So krank war ich. So trinken sie doch wenigstens. Es wird Ihnen gut tun. Wir trinken auf Ihr Wohl. Auf Ihre Gesundheit, Ihr Glück und Ihr Wohlergehen.