Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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einmal hellte sich ihr Gesicht auf. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Stattdessen hatte die Furcht sie gefangen genommen und beherrscht. Dabei bestand zu keiner Sekunde die Gefahr, dass sie entlarvt werden könnte. Sie stand immer auf der sicheren Seite.

      Auf ihr Gesicht schlich sich nun ein breites Grinsen.

      "Ich bin aus dem Schneider!" Sie sprang vom Tisch auf, ging auf Mona zu und breitete ihre Arme aus. Verwirrt blickte ihre Freundin zu Karla, die nur mit den Achseln zuckte. "Komm in meine Arme, Mona. Du bist Gold wert!"

      Bevor ihre Freundin wusste, wie ihr geschah und flüchten konnte, hatte Isis sie schon umarmt und drückte ihr die Luft ab. Vollkommen erstarrt warf Mona Karla einen flehenden Blick zu, um sie aus dieser Situation zu befreien. Doch diese grinste nur.

      "Wieso hast du denn nicht gleich gesagt, dass meine Angst völlig unbegründet ist? Dann hätte ich mir nicht solche Sorgen machen brauchen."

      Karla sah, wie Mona bereits blau anzulaufen drohte. Sah Isis das in ihrer Euphorie nicht? Jetzt war es an der Zeit, der Physikstudentin bei zustehen.

      "Vielleicht solltest du Mona wieder loslassen. Siehst du nicht, wie du ihr die Luft abdrückst?"

      "Wirklich?" Sie löste ihre Arme und Mona haute sie weg. Es folgte ein erleichterter tiefer Atemzug. "Wieso sagst du denn nichts? Du schweigst doch sonst nicht, wenn es die Möglichkeit gibt, irgendwo seinen Senf hinzuzugeben."

      "Aber nicht, wenn du mir die Luft abdrückst", sagte Mona und zog tief die Luft in ihre Lungen ein. "Deine Stimmungsschwankungen sind nicht mehr zu ertragen. Erst total verängstigt und dann überaus euphorisch. Wenn das so weitergeht, ziehe ich aus!"

      Isis fing zu kichern an. Wenn Mona nicht weiter wusste, kam sie wieder mit ihrer Drohung ausziehen zu wollen.

      "Und wohin? Mit einer völlig verlehrten Physikerin will doch niemand zusammenziehen."

      "Doch", sagte Karla und hob kokett ihren Kopf. "Ich würde sofort mit Mona zusammenziehen und mit ihr eine WG gründen".

      "Eine Isis-freie-Zone".

      "Ach!", Isis machte eine abwertende Handbewegung. "Du zählst nicht. Ihr beide redet euch doch gegenseitig nach dem Mund."

      "Das habe ich eigentlich immer auf euch beide bezogen", sagte Karla empört.

      "Ich vergaß, was ich doch für zwei nette Freunde habe."

      "Und auch deine einzigen", fügte Karla schnippisch hinzu.

      Schlagartig trat Stille in die Küche und legte sich wie ein bedrückender Schleier um die Drei. Die Chemiestudentin hatte unabsichtlich ein Thema angeschnitten, das Isis seit dem Ende ihrer Schulzeit mied.

      Viele Freunde hatte sie nie gehabt. Doch seit dem Tod ihres Bruders und der Scheidung ihrer Eltern, hatte sie sich in ihr schützendes Schneckenhaus zurückgezogen, wie es Mona einmal formuliert hatte. Ihre beiden Freundinnen hatten sich nicht entmutigen lassen, obwohl Isis immer unausstehlicher geworden war. Die anderen so genannten Freunde hatten irgendwann den Kontakt abgebrochen. Isis wurde immer verschlossener, blühte eigentlich nur auf, wenn sie von ihren Hatschepsut-Studien erzählte. Ihre Launen wechselten oft, besonders wenn sich ihr Geburtstag und kurz drauf der Tod ihres Bruders jährten. Isis war eine in sich gekehrte Person geworden, die äußerlich den Schein wahren konnte, doch wie es ihr wirklich ging, hatte vielleicht nur ihr Großvater gewusst. Doch Isis war es egal, so lange sie nicht - wie eben geschehen - darauf angesprochen wurde.

      "Sag mal, kannst du das morgen nicht ohne mich machen? Ich hab' Praktikum", sagte Mona in die Stille hinein und versuchte das eisige Schweigen zu brechen. Dass sie dafür nicht die beste Methode gewählt hatte, merkte sie nicht. Sie wollte sich nur vor dem Auftrag drücken, da ihr die Sache nicht behagte.

      "Ich brauche euch beide", sagte Isis, hörte aber nicht auf, einen imaginären Punkt anzustarren. "Sonst würde ich den allein verfolgen und wäre auf eure Hilfe nicht angewiesen."

      "Warum gibst du dem kein Falschgeld? Du weißt doch selbst nicht, ob die Gegenstände echt sind. Dann wären wir auch nicht nötig."

      Kopfschüttelnd stand Isis vom Tisch auf. Hatte es überhaupt Sinn eine weitere Diskussion darüber zu führen, die wahrscheinlich genauso sinnlos war wie die vorherigen auch?

      "Das war klar, dass der Vorschlag von dir kommen musste." Karla warf ihrer Freundin einen scharfen Blick zu, den sie nicht sah, da sie mit dem Rücken zum Tisch stand. "Ich mache mich doch nicht strafbar", sagte sie, drehte sich um und stützte sich auf ihrer Stuhllehne auf. Dabei fixierte sie Karla und Mona abwechselnd. "Die ganze Aktion ist bereits illegal, da reite ich mich doch nicht noch weiter hinein. Sagt mir doch einfach, wenn euch das zu heiß wird, dann werde ich das allein durchziehen. Aber kommt mir nicht mit solch blöden Ausreden. Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr, die weinend zu Mami laufen, wenn ihnen etwas nicht passt. Aus dem Alter seid ihr doch wahrlich raus."

      Mona hatte erwartet, dass Isis mit der Hand auf den Tisch hauen würde und ihren nicht sehr standfesten Becher vorsorglich umklammert. Doch die Geste zur Unterstreichung ihres Wutausbruchs unterblieb.

      "Also, wie habt ihr euch entschieden?" Isis hatte ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt, doch noch bevor Mona oder Karla antworten konnten, hob Isis abwehrend die Hände. "Nein, sagt es mir nicht. Entweder ihr seid morgen da oder ihr seid nicht da. Eure Entscheidung, die ich wohl oder übel akzeptieren muss." Mit diesen Worten ließ sie ihre Freundinnen allein in der Küche zurück und ging auf ihr Zimmer.

      Mona und Karla blieben allein mit ihrer schweren Entscheidung zurück. Sollten sie Isis enttäuschen und der Übergabe fernbleiben oder den gefährlichen Auftrag übernehmen? Was sollten sie tun?

      18

      Auf dem Schreibtisch lagen mehrere aufgeschlagene Hefte, die in altdeutscher Schrift beschrieben worden waren.

      Isis hatte aufgegeben zu versuchen, die Schrift zu entziffern. Einige Buchstaben waren ihr inzwischen vertraut, doch diese Schrift würde ihr immer fremd bleiben. Als hätte sie ein Manuskript in Chinesisch oder Japanisch vor sich liegen. Scherzhaft verglich sie die hieratische Schrift der altägyptischen Hieroglyphen mit diesen Strichen. Bei der hatte sie heute noch Probleme, sie fehlerfrei zu lesen.

      Ihre Großmutter half ihr beim Dechiffrieren der Tagebücher. Sie war noch nicht weit gekommen, doch Isis hatte bereits viel über ihre Vorfahren erfahren. Das Buch über die Familiengeschichte hatte ihr Aufschluss gegeben.

      So war der Vater von Claire und Pascal Justine früh verstorben mit gerade einmal fünfundvierzig Jahren. Wie er ums Leben gekommen war, hatte sie nicht herausgefunden. Es schien ihr, als solle es nicht angesprochen werden, als würde es totgeschwiegen. Das hatte sie noch neugieriger gemacht, da der Tod wie ein Familiengeheimnis gehütet wurde. Doch sie konnte sich denken, dass er Selbstmord begangen hatte. Warum sonst sollte sein Tod verschwiegen werden?

      Die Familie Justine hatte die Bekämpfung der Protestanten und die Bartholomäusnacht überlebt, war in die Niederlande geflohen und wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Während des Grand Terreur waren die Justines endgültig aus Frankreich geflohen, dieses Mal nach Deutschland, wo sie sich in Hamburg niedergelassen hatten. Nachdem sich Napoleon 1805 zum Kaiser der Franzosen gekrönt und seine Eroberungspolitik gestartet hatte, war die Familie ins benachbarte Stellingen gezogen, dass damals nicht mehr als ein Bauerndorf war, wo Kartoffeln angebaut und Milchwirtschaft betrieben wurde. So waren die Justines weitestgehend von den Repressalien verschont geblieben, als Hamburg von 1806 bis 1811 von den Franzosen besetzt gewesen war.

      François Justine hatte ein kleines Handelsunternehmen gegründet, aus dem sich innerhalb weniger Jahre ein erfolgreiches Geschäft entwickelte. Sein Sohn verlegte das Geschäft nach Hamburg und legte damit den Grundstein für das Kontor Justine & Sohn. Doch der Niedergang zeichnete sich ab, kurz nachdem Franck Justine, der Vater von Claire und Pascal, das Geschäft übernommen hatte. Was dann geschah, hatte Isis nicht genau nachvollziehen können. Die Chronik hatte dazu geschwiegen.

      Anscheinend waren die Probleme größer geworden, wie