Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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die Kette, die Masut noch immer in den Händen hielt.

      Rote, weiße und blaue Steine wechselten sich ab. Kleine Ringe, die aufgefädelt worden waren und in einem größeren Amulett endeten. Das Amulett schien nur aus Gold zu bestehen, wie auch die Fäden, die durch die farbigen Steinringe beinahe verdeckt waren. Irgendwie kam Johann das Edelmetall seltsam vor. Es glänzte mehr silbern als golden. Silber schien es aber auch nicht zu sein. Gab es ein Metall, das aus einer Mischung aus Gold und Silber bestand?

      Erneut wollte der blonde Junge es berühren, doch bevor er seine Hände ausgestreckt hatte, steckte Masut es in die Hüllen des Tuches zurück und auch die Vase verschwand darin.

      "Du wirst ein gutes Versteck dafür finden müssen. Niemals darf das in die Hände anderer gelangen. Hörst du?"

      Johann nickte, auch wenn er Masuts Drängen nicht verstand. Er würde es verstecken und dann erfahren, was es mit den beiden Gegenständen auf sich hatte. Doch wo sollte er die Vase und die Kette verstecken? Vielleicht würde sich eine Gelegenheit bieten, wenn er den Tierpark verlassen hatte. Masut hätte gewiss bereits ein passendes Versteck gefunden, wenn er die Gegenstände in seiner Nähe hätte haben wollen. Doch sie sollten irgendwo versteckt werden, wo sie nicht mit dem Ägypter in Zusammenhang gebracht werden konnten. Er - Johann - war zwar noch jung, aber er durchschaute, was sein Freund bezweckte. So glaubte er jedenfalls, dass er Masut verstand. Den Sinn des Ganzen konnte er aber nicht nachvollziehen.

      "Darf ich Pascal einweihen, damit er mir hilft? Er kennt sich besser hier aus und weiß gewiss auch, wo sich so was verstecken lässt."

      "Nein!", sagte der junge Ägypter barsch. Es konnte nicht noch jemand in dieses Geheimnis eingeweiht werden. Johann war schon eine Person zu viel. Er wollte nicht noch ein weiteres Leben gefährden. Selbst seinem Freund hätte er nicht die verfluchten Gegenstände zeigen dürfen. Und doch hatte er es getan, weil er keinen anderen Ausweg sah.

      "Warum denn nicht? Ich kann verstehen, wenn du mir nicht sagen willst, warum du so ein Geheimnis um beide Gegenstände machst. Aber ich muss Pascal doch erklären, was ich da mitnehme. Ich kann doch nicht sagen, dass ich es nicht weiß."

      Der blonde Junge hatte wahrlich Geduld mit seinem ägyptischen Freund gehabt, doch er konnte diese Geheimniskrämerei nicht länger ertragen. Vor Pascal brauchte Masut sich nicht zu fürchten. Noch durchschaute Johann ihn zwar nicht, aber er wusste, dass er dem jungen Tierpfleger vertrauen konnte.

      "Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Nimm die Sachen mit, wie ich dich bat."

      "Gut, aber wenn sich herausstellt, dass es Schmuggelware ist, habe ich damit nichts zu tun."

      Masut schüttelte den Kopf. Es hatte es zwar ins Land geschmuggelt, aber es war das Eigentum seiner Familie.

      "Das gehört meiner Familie, seit vielen Zeiten."

      Misstrauisch musterte ihn Johann. Masut entging dieser Blick nicht. Sollte sein Freund denken, was er wollte. Er würde so lange schweigen, wie es ihm möglich war. Niemand durfte unnötig in das Geheimnis eingeweiht und so in Gefahr gebracht werden. Wer auch immer in sein Zimmer eingedrungen war, kannte den Ort des Krugs und der Kette. Vielleicht war es Zufall gewesen und der unbekannte Eindringling hatte nicht bewusst danach gesucht, sondern war einfach neugierig gewesen, was sich unter dem Tuch verbarg. Doch dieser Unbekannte konnte reden und es möglicherweise demjenigen erzählen, vor dem er nach Europa geflohen war. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Krug und Kette mussten verschwinden. Und wenn Johann zu viele Fragen stellen würde, müsste er sich eben selbst darum kümmern. Aber diese Gegenstände des Bösen mussten verschwinden, unter welchen Umständen auch immer.

      15

       Hamburg-Altona, Mai 2009

      Gähnend stieg Isis aus der S-Bahn. Vergangene Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Die Ungewissheit, ob sie das höchste Gebot abgegeben hatte, hatte sich negativ auf ihren Schlaf ausgewirkt. Die ganze Nacht hatte sie sich hin- und hergewälzt, versucht zu schlafen, doch immer nur gingen ihr die Gegenstände durch den Kopf. Würde sie den Zuschlag erhalten? Hatte niemand mehr geboten?

      Gestern war ein Feiertag gewesen: 1. Mai - Tag der Arbeit -, und sie hatte nicht den Ort aufsuchen können, wo sie ihr Gebot abgegeben hatte und in der anonymen Masse unterging. Heute nun hatten die Geschäfte wieder geöffnet. Sie würde endlich erfahren, ob sie den Zuschlag erhalten hatte.

      Isis hatte den Bahnhof verlassen, war die Treppe hochgegangen, hatte die Straße überquert und ging wackelig langsam über das Kopfsteinpflaster. Obwohl sie flache Schuhe trug, fürchtete sie bei jedem Schritt mit dem Fuß umzuknicken.

      Als sie das Einkaufszentrum betrat, schob sie automatisch ihre Mütze tiefer ins Gesicht. Sie hatte sich wieder eine der alten Brillen von Karla geliehen, die diese nie getragen hatte und die allesamt einen schiefen Bügel besaßen, weil sich irgendjemand einmal auf sie gesetzt hatte. Isis hatte die Schraube festgezogen und den Bügel, so gut es ging, begradigt. Nun saß das Gestell nicht mehr so schief vor ihren Augen, dennoch hatte Isis das Gefühl, die Brille würde ihr im nächsten Augenblick von der Nase rutschen.

      Der Internetzugang war besetzt, weshalb sie langsam daran vorbeiging, an den Läden vorbeischlenderte und mitten durch den Markt den Rückweg antrat. Der Internetzugang war gerade frei geworden. Schnellen Schrittes ging Isis auf den Computer zu, öffnete ein neues Fenster und gab die Adresse des Forums ein.

      Sie hatte gerade auf Enter gedrückt, als sich eine Armlänge entfernt eine genervt wirkende Frau stellte. Blonde Haare, Pferdeschwanz, etwas älter als Isis. Bedrängt und misstrauisch betrachtete Isis die Frau aus ihren Augenwinkeln, ließ sich ansonsten nichts anmerken. Zu der Frau gesellte sich eine weitere. Dunkle kurze Haare, dickes Gesicht, Brille, etwa 50 oder älter. Die beiden Frauen unterhielten sich. Waren es Freundinnen, Bekannte? Nein, dem war nicht so. Sie schienen Isis zu missgönnen, dass sie an dem Computer war und im Internet surfte. Sie war gerade erst hingegangen, bevor die erste Frau aufgetaucht war und sich darüber aufgeregt hatte, dass Isis sich im Internet befand.

      Der jungen Archäologin gefiel es nicht, dass sie beobachtet wurde, weshalb sie sich nicht in das Forum einloggte, sondern den Emailanbieter eingab und sich unter dem Benutzernamen einloggte, für den sie ein Konto erstellt hatte. Sie hatte eine Nachricht bekommen, die direkt an ihre Emailadresse gegangen war. War dies nun die Nachricht, dass sie den Zuschlag bekommen hatte?

      „Betreff: Angebot“, las sie leise und klickte auf die Nachricht. Diese öffnete sich in einem neuen Fenster. Isis wagte im ersten Moment nicht hinzusehen und hielt die Augen für wenige Sekunden geschlossen. Dann erst wagte sie die Nachricht zu lesen.

       Glückwunsch! Die Summe stimmt. Treffpunkt zur Übergabe?

      Isis presste die Lippen aufeinander, damit ihr nicht ein Freudenschrei entwich, mit dem sie nur unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. So verzog sie nur kurz den Mund und setzte anschließend wieder die unbewegte Miene auf.

      Die Vase und die Kette sollten ihr gehören - ihr allein. Professor Winter würde toben, wenn er erfahren würde, dass sie seine Gegenstände ersteigert hätte. Doch er würde auch so toben, weil er leer ausgegangen war, dessen war sie sich sicher. Sollte er ruhig zürnen, sie hatte alle nötigen Vorrichtungen getroffen, das die Spur sich nicht zu ihr zurückverfolgen ließ.

      Die Stimmen der beiden Frauen schallten zu ihr herüber. Diese unverschämten Nervensägen hatte sie ganz vergessen. Wahrscheinlich lungerten sie immer noch auf dem gleichen Platz dicht neben ihr und beobachteten sie argwöhnisch. Sie hatte noch mindestens zehn Minuten, aber selbst die wurden ihr nicht gegönnt.

      Wo sollte sie sich mit dem Anbieter der Gegenstände treffen? Ein geeigneter Ort musste gefunden werden. Doch wo sollte der sein? Übersichtlich musste er sein, dennoch anonym und gut erreichbar. Isis überlegte nicht lange hin und her, sondern wählte den Weg um die Alster als Treffpunkt. Gut überschaubar, eine Flucht wäre unmöglich, die Verfolgung gegeben, falls sie hereingelegt werden sollte und der mysteriöse Anbieter mit ihrem Geld abhauen würde.

      Mona und Karla sollten ihr bei der Übergabe