Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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Claire ihn mit 'Monsieur Justine' anredete, war sie wütend auf ihn. Dann konnte jedes falsch gewählte Wort dafür sorgen, dass sie in den nächsten Tagen kein Wort mehr mit ihm reden würde.

      "Es tut mir leid, Johann, aber ich will dir doch nur helfen."

      Der kleine Bursche hatte den Kopf wegedreht und schluchzte leise. Pascal hatte sich als sein Freund ausgegeben, dabei wollte er ihn nur loswerden, genauso wie seine Tante. Die Menschen waren alle gleich.

      "Johann, ich rede mit dir. Sieh mich an!"

      Doch der blonde Junge reagierte nicht.

      "Da siehst du es. Er hat das Vertrauen in dich verloren. Kein Wunder, wie du dich benommen hast. Wie ein Elefant im Porzellanladen. Am Ende gibt es nur Scherben."

      "Elefanten sind vorsichtiger als du denkst. Nehmen wir einmal Bertha, die ist sehr feinfühlig und..."

      Barsch unterbrach Claire ihren Bruder.

      "Oh ja, feinfühlig, im Gegensatz zu dir. Du hast die Feinfühligkeit mit Löffeln gefressen, die so löchrig waren wie ein Sieb."

      "Jetzt ist es aber genug!", sagte Pascal lauter, als er es beabsichtigt hatte.

      Claire verstummte, doch der Blick mit dem sie ihren Bruder bedachte, hätte töten können.

      "Johann, sieh mich an." Doch der blonde Junge schüttelte den Kopf. Die Arme hatte er verschränkt, um seine Position zu verdeutlichen. "Du bist ein sturer Bursche." Pascal fasste Johanns Kinn und drehte dessen Kopf zu sich. Ein verweintes Gesicht, aus dessen Nase der Rotz lief, sah ihn an. "Es tut mir leid, aber ich will dir nur helfen", sagte er freundlich.

      Eilig ging Claire dazwischen, um das verlorene Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Er hatte doch niemanden außer ihnen beiden. Und wenn er jetzt nicht mit der Wahrheit herausrücken wollte, würde er es vielleicht später tun. Mit der Zeit würde er genug Vertrauen besitzen, um sich zu öffnen. Aber ihr Bruder versuchte es mal wieder mit der Hau-Drauf-Taktik. Damit würde er nichts erreichen.

      "Pascal wird nichts sagen und ich auch nicht, selbst wenn du noch Verwandte haben solltest. Du wirst schon deine Gründe haben, warum du von ihnen weg bist."

      Claire reichte Johann ihr Taschentuch, das nach Veilchen roch. Dankbar nahm er es.

      "Eine Tante, aber ich will nicht zu ihr zurück. Lieber laufe ich weg!"

      "Schon gut, wir werden ihr nichts sagen, nicht wahr, Pascal?"

      Sie stieß ihren Bruder an, als dieser nicht gleich antwortete.

      "Ja, wir schweigen wie ein Grab. Ehrenwort. Doch hier kannst du nicht bleiben. Du musst zur Schule gehen und einen Beruf erlernen oder willst du wieder als Schiffsjunge zur See fahren?" Johann schüttelte energisch den Kopf. Das wollte er überhaupt nicht. Er hasste die Seefahrerei, das Wasser, das Meer, dieses ewige Schaukeln. Und dann war da die Gefahr, dass etwas passieren könnte, die Angst, dass das Schiff unterging wie die Titanic. "Na siehst du, aber um dich zur Schule schicken zu können, brauchen wir deinen vollständigen Namen."

      Johann sah abwechselnd zu Pascal und dessen Schwester Claire. Was sollte noch geschehen? Er konnte seinen Namen sagen und würde in ein Waisenhaus kommen, von dort ging es wieder zu seiner Tante, zu der er nicht wollte. Oder Pascal und Claire würden ihm wirklich helfen und ihn bei sich behalten. Aber konnte er ihnen trauen? Er wusste es nicht und zögerte. Er überwand sich erst, seinen Nachnamen zu nennen, als Claire ihm aufmunternd zunickte. Zu ihr hatte er Vertrauen gefasst. Sie meinte es ehrlich.

      "Mellinghoff, Johann Mellinghoff." Kaum hatte er seinen Namen gesagt, wechselten Bruder und Schwester einen Blick. Es war ein misstrauisch und zugleich überraschter Blick, als würden sie den Namen kennen. "Habe ich was Falsches gesagt?", fragte er besorgt.

      "Du heißt wirklich Mellinghoff?" Pascal klang misstrauisch. Sein Blick sagte, dass er dem blonden Jungen nicht glaubte.

      Johann nickte.

      "Einer unserer Geschäftspartner heißt doch Mellinghoff. Erinnere dich, Claire, er hat uns geholfen, als Vater gestorben war."

      "Richtig, Georg Anton Mellinghoff, genannte der "kalte Scheffler."

      "So heiße ich auch. Nicht Scheffler, aber mein vollständiger Name ist Johann Georg Anton Mellinghoff."

      Verwirrt starrten Pascal und Claire den blonden Jungen an. Sie konnten nicht glauben, was sie gehört hatten. Der junge Tierpfleger war der erste, der sich halbwegs fasste und seine Sprache wiederfand.

      "Das kann nicht sein!" Pascal wollte nicht glauben, dass der alte Mellinghoff einen weiteren Verwandten hatte. Seitdem sein Sohn verschwunden war, hatte er keinen Nachfolger mehr, was ihn nicht davon abhielt, sein Geschäft auszubauen und sein Vermögen zu vergrößern. "Wie hieß dein Vater? Etwa Richard Mellinghoff?"

      Johanns Augen weiteten sich vor Erstaunen. Das war das erste Mal, dass jemand seinen Vater namentlich kannte. "Ja, genau! Kanntest du ihn?" Er machte sich Hoffnungen jemanden getroffen zu haben, der ihm mehr von seinem Vater erzählen konnte. Er hatte kaum noch Erinnerungen an ihn. Es war so lange her, dass sein Vater gestorben war.

      "Persönlich nicht, aber ich kenne seinen Vater, deinen ... Großvater." Nun war das Wort raus, doch anstatt das sich Johann freute, trübte sich sein Gesicht.

      "Hör auf mich zu ärgern. Ich habe keinen Großvater, warum bin ich nicht zu ihm gekommen, sondern zur Schwester meiner Mutter?"

      Diese Frage konnten weder Pascal noch Claire beantworten. Entweder war nicht gründlich genug gesucht worden oder der alte Mellinghoff hatte seinen Enkel nicht gewollt, weil er dessen Vater verstoßen hatte.

      Es ging das Gerücht, dass der Sohn des alten Mellinghoff die Verbindung mit einer Frau eingegangen war, die dessen Vater nicht vorteilhaft erschien. Vater und Sohn hatten sich entzweit und waren eigene Wege gegangen. Danach war von Richard Mellinghoff nie mehr die Rede gewesen. Für seinen Vater war er tot, war es nun auch in Wirklichkeit, doch sein Sohn, der Enkel des alten Mellinghoff, lebte. Das änderte alles. Johann musste seinem Großvater vorgestellt werden, der seinem Sohn längst verziehen hatte und über seinen damaligen Ausbruch stark verbittert war. Vielleicht konnte er an seinem Enkel das Unrecht wieder gut machen, dass er seinem Sohn angetan hatte. Doch wie sollte man dem alten Mellinghoff beibringen, dass sein Sohn tot war, er aber einen Enkel hatte? Darüber könnten sie sich später Gedanken machen. Nun musste Johann erst einmal neu eingekleidet werden, bevor er seinem Großvater vorgestellt werden konnte.

      14

      Als Masut seinen Schlafraum aufsuchte, nahm er einen fremden Geruch wahr. Sein Blick irrte durch den Raum bis er an etwas haften blieb. Erschrocken zog er die Luft laut ein. Das Tuch, welches die beiden Gegenstände verhüllte, lag anders gefaltet da. Die linke Ecke lag zu oberst, obwohl der junge Ägypter sie kunstvoll um den Hals des Kruges gelegt hatte.

      Jemand war hier gewesen, jemand, der gezielt nach den Gegenständen gesucht und sie natürlich auch entdeckt hatte. Masut hatte sich sicher gefühlt und es nicht für nötig befunden, die Gegenstände zu verstecken. Dies hatte sich nun geändert.

      Doch wo sollte er ein passendes Versteck finden? Er kannte nur das Beduinendorf, hatte einmal den Tierpark gesehen und diese wundervollen Kunststeine. Die Felsenbauten, groß und imposant, waren sie nicht das ideale Versteck? Konnten sie als Versteck dienen? Gab es einen besseren Ort als diesen? Doch wie sollte er dorthin noch einmal gelangen? Er kam hier nicht raus aus dem Dorf. Einzig Johann konnte es ohne Probleme verlassen und sich frei im Tierpark bewegen. Doch sollte er Johann in sein Geheimnis einweihen? Sollte er ihn den Gefahren aussetzen, in denen er nun schwebte? Er hatte so vorsichtig gehandelt, während der ganzen Fahrt auf dem Schiff über den Krug gewacht, ihn bei seiner Abreise so verpackt, als würde er einen Haufen an Kleidung und Sandalen mitnehmen. All die Vorsichtsmaßnahmen hatte er sorgfältig ausgeführt. Und als er sich in Sicherheit gewogen hatte, hatte er es nicht mehr für nötig gehalten, die Gegenstände sorgfältig zu verstecken, sondern hatte sie nur in eine Ecke seines Schlafraumes gestellt. Anfangs hatte er sie noch als Kopfkissen benutzt, aber das war zu unbequem gewesen.