Nik Morgen

Animus oder Die Seele eines Stärkeren


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und seine Verletzung unheilbar.

      Als sie fünf Tage und Nächte am Flussufer zugebracht haben um auf die Rückkehr des Fährmanns zu warten, beschliessen sie entgegen dem Rat der Siedler, die Überquerung des Flusses selber zu wagen. In der Nacht verabschieden sie sich voneinander für den Fall, dass sie auf dem Weg durch den Fluss getrennt würden und sie weinen, als ob die Trennung bereits Wirklichkeit wäre. Sie vereinbaren, sich zu suchen, falls sie an verschiedenen Orten an Land kommen würden.

      Schon der erste Schritt in den Fluss lässt sie die Stärke der Strömung spüren. Jeder Schritt tiefer ins Wasser gestaltet sich anstrengender und gefährlicher. Aber es gibt kein Zurück. Schritt für Schritt arbeiten sie sich voran mit Stäben, die sie tief ins Flussbeet stossen, um sich an ihnen festzuhalten. Einmal tritt Hyllas fehl und nur die sichere Hinterhand von Chiron bewahrt ihn davor, flussabwärts getragen zu werden. Der Fluss wird tiefer. Hyllas geht schon schulterhoch im Wasser. Nur Chiron ragt über die Wasseroberfläche heraus und geht schützend neben dem Jüngeren her.

      Als sie die tiefste Stelle überschritten haben, geschieht das Unvermeidliche. Eine Wasserdistel trifft Chiron genau an seiner wunden Stelle am Knie. Er schreit lauf auf und hebt sich über die Hinterhand. Der Strom lässt ihn über den Rücken fallen, erfasst ihn und trägt ihn rasend schnell flussabwärts. Laut ruft er nach seinem Freund. Auch Hyllas schreit. Er zwingt sich aber zu unbeirrtem Weiterschreiten. Denn wenn er nachliesse, würde auch er wie loses Treibholz fortgetragen. Er darf jetzt nicht aufgeben, auch wenn ihn der Verlust des Freundes schmerzt. Die Hoffnung, dem Fährmann zu begegnen, beflügelt ihn. Von dieser Kraft getragen arbeitet er sich Schritt für Schritt jenseits der eigenen Kraft ans Ufer. Und tatsächlich erreicht er das Ziel, welchem er sich ohne die Hilfe Chirons niemals zu nähern gewagt hätte.

      Halb tot wirft er sich in die Böschung. Uferbewohner haben seine Ankunft ungläubig beobachtet. Sie kommen mit einer Bahre, tragen ihn in ihr Dorf und sorgen für ihn.

      Inzwischen ist Chiron ein härteres Schicksal beschieden. Der Fluss hat ihn über Stromschnellen und Sturzbäche getragen. Ohnmächtig hat er versucht, gegen die Gewalt des Wasser anzukommen. Aber erst viele Kilometer talwärts bleibt er schwer verletzt in den Ästen eines Baumes am Ufer hängen. Schon setzen Vögel an, das Fleisch seines Leibes zu verzehren. Er verscheucht sie aber und kann nicht sterben, obwohl er es sich wünscht.

      Nach vier Tagen ist Hyllas wieder auf den Beinen. Er fragt nach dem Fährmann und sie sagen ihm, dass er krank sei. Hyllas besteht darauf ihn zu sehen.

      Der starke Mann windet sich vor Schmerz und verlangt von Hyllas den Tod. In einer Art Rückführung erkennt sich Hyllas im Waffenträger eines Helden wieder, den er auf dessen Wunsch hin getötet hatte. Das vergiftete Gewand einer eifersüchtigen Matrone hatte dem Helden Qualen bereitet, die er nicht mehr aushalten konnte. Mit Tränen wirft sich Hyllas auf das Lager. Nein, noch einmal würde er den Freund nicht töten und mit der Schuld die eigene Lebenskraft verschmälern. Er verspricht dem Mann, sichere Hilfe zu holen und flieht.

      Er eilt den Fluss abwärts auf der Suche nach Chiron. Nach zwölf Tagen findet er ihn. Er wäscht seine Wunden und versorgt ihn mit Nahrung. Gemeinsam brechen sie auf, um den Kranken zu besuchen. Chiron hinkt, denn sein Knie schmerzt. Weithin leuchtet die Wunde in der Nacht. Aber er heilt den Fährmann, indem er ihn mit Essenzen behandelt, die er aus Wurzeln und Kräutern gewonnen hat. Schweigend nimmt er zur Kenntnis, dass der Fährmann es war, der unter Einfluss von Drogen ihm die Wunde am Knie seinerzeit zugefügt hatte. Mit einem vergifteten Messer hatte er aus dem lebenden Pferdebein einen Pfeil für die Jagd zu schnitzen.

      Aus Dankbarkeit führt der Fährmann sie zu einem Titan, um ihn um Rat zu Fragen wegen der unheilbaren Wunde Chirons. Der Titan sieht aber ein mögliches Ende des Schmerzes nur im Tod, und er bietet Chiron seine Sterblichkeit im Tausch gegen seine Unsterblichkeit an. Chiron nimmt sie dankbar an. Unter Tränen verabschiedet er sich von Hyllas, dieses Mal für immer, und stirbt.

      Hyllas bittet den Fährmann, Chirons Leichnam und auch ihn über den Fluss zu tragen, um den Leichnam in der Steppe zu bestatten. Die Flussüberquerung wird für den Fährmann ungewöhnlich anstrengend. Nicht Chirons Leichnam ist dafür verantwortlich, sondern die Last, welche den jungen Hyllas niederdrückt. In der Mitte des Flusses muss er ihm den Stab geben, um selber weiterzuschreiten, sonst wäre der Fährmann ertrunken.

      Als sie mit Mühe und Not am Ufer angekommen sind, nimmt der Riese den Stab aus Hyllas Hand und steckt ihn in die Erde, und sogleich schlägt der Stab aus und treibt Blüten. Den erschöpften Hyllas haucht er an, und er empfängt neue Kraft.

      Hyllas zieht alleine mit dem Leichnam weiter. Auf dem Weg durch die Steppe kommen ihm die guten Kentauren entgegen, die er einst als Wildpferde gefangen hatte. Sie formen einen Leichenzug und sie bestatten Chiron im Obstgarten hinter der Hütte.

      Im Schein der Grablichter steigt die Seele Chirons über der Totenstätte auf und lässt sich auf Hyllas nieder. Dieser bringt das Gehege wieder instand und nimmt seine Arbeit als Bereiter von Wildpferden wieder auf. Dank der alten Kraft, die er zurückgewonnen hat, schliesst er Freundschaft mit einem Leittier der Steppe. Das Wissen Chirons hilft ihm bei der Dressur der Tiere. Bald braucht er das Gehege nicht mehr und vermag die Herde durch die Anweisung des Hengstes frei zu dirigieren.

      Bald macht er sich einen Namen als Pferdehändler und beliefert die Könige und Fürsten aller Wüstenländer mit seinen Tieren. Darunter auch die Sterndeuter Kaspar, Melchior und Balthasar, die auf der Suche nach dem Messias sind. Hyllas bestimmt einen Stellvertreter für seine Herde und schliesst sich mit seinem Hengst Wanjka an, den König im Lande Palästina zu suchen.

      Christophorus

Bild 122282 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Am drauf folgenden Tag sah ich, wie ein strahlender König in majestätischen Kleidern ehrfurchtsvoll eine mit Gold beschlagene Schatztruhe an den Fuss der Krippe stellte. Als er die Schatulle öffnete, strömte warmes Licht aus deren Inneren hervor, bis der ganze Raum davon erfüllt war. Weil ich selber keinen solchen Schatz besass, mich der Gegenstand aber derart faszinierte, machte ich mir darüber Gedanken, wie ich auch zu einem solch kostbaren Schatz gelangen könnte. So sehr beschäftigte ich mich damit, dass mir die Truhe sogar des nachts im Schlaf erschien.

      Nur dass jetzt der warme Schein in gleissendes Licht verwandelt war und mich derart blendete, dass mir das Unterscheiden von einzelnen Gegenständen unmöglich war. Wie ein Blinder tappte ich in der Hitze herum. Die Umgebung war in eine Wüste von heissem Goldstaub verwandelt, und ich wusste weder mich an einem schattigen Ort zu bergen noch in welche Richtung der Lichtquelle zu entfliehen, da ich ihren Ausgangspunkt nicht feststellen konnte.

      Als ich erwachte und über den Traum nachdachte wurde mir bewusst, dass die Schatztruhe keine Gabe von mir sein konnte, da sie mir im Traum fremd und unzuträglich erschienen war. Weil ich aber wusste, dass das Jesuskind eine Person von unermesslichem, innerem Reichtum und grosser Ausstrahlung war, wollte ich ihm etwas schenken, das ihm entsprach und worüber er sich freuen würde.

      Da stieg mir seit langem wieder ins Bewusstsein, dass sich in meinem Innern so etwas wie eine goldene Kugel befand, die sich bei meiner Taufe gebildet und auf welcher die Konturen eines Medaillons oder einer Skulptur eingezeichnet waren. Weil das Sujet aber nicht fertig ausgebildet war, war es mir bis dahin nicht gelungen, das Motiv des Kunstgegenstandes auszumachen. Nichtsdestotrotz war ich gewillt, auch diese unvollendete Kostbarkeit dem Jesuskind zu übergeben und in die Krippe zu legen.

      Kaum hatte ich das getan, stieg Jesus aus der Krippe heraus und wiederholte an mir das Ritual der Taufe durch Segnung mit flüssigem Öl auf Stirn und Brust. Und wie vor meinem inneren Aug formte sich die Goldkugel vollständig aus zur Figur des heiligen Christophorus, der das Jesuskind über den reissenden Fluss trägt. Anders aber als bei bekannten Motiven drückte die Last des Jesuskindes, der in seinem Schoss im Symbol einer kleinen Goldkugel den Globus trug, den Heiligen nicht nieder. Es machte vielmehr den Anschein, dass Christophorus das Kind als eine Trophäe stolz auf seiner Schulter trug.

      Das