dem Bett liegend wieder einmal richtig wahrnahmen. Ihr Atem hatte jetzt etwas Existentielles. Sie griffen sich an die Brust und sahen mit inneren Augen, dass ihr Zeigefinger wie über eine kleine Bildschirmfläche fuhr, über ein touch-pad sozusagen, der aber empfindliche Hautoberfläche war, und unter der sich Dinge bewegten.
cancer
ein bulliger Grossvater aus dem Ostblock wurde
aufgrund mangelnden Benehmens
zur Adoption freigegeben
und weil ich mit 46 endlich ein Kind haben wollte
nahm ich den Kleinen auf
er war Kettenraucher, spuckte in alle Ecken
und hatte einen Ausschlag im Gesicht
den ich mit der Zeit zum Teil behandeln konnte
die Zigaretten stellte ich ihm ab
er konnte nämlich noch nicht Treppen laufen
und sich welche kaufen gehen
weil er dann so tobte
musste ich eine Zimmerecke ganz weich einrichten
und ihn ein paar Mal auf den Boden werfen
bis er wieder friedlich war
es gab auch einen Abfluss in der Ecke und eine demontierbare Schüssel
manchmal urinierte er aus Protest
sowie eine Gitterschranke mit farbigem Schaumgummi
über diese Freiheitsentzugsmassnahmen
war ich gar nicht glücklich
und ich freute mich, wenn ich ihm seinen kleinen roten Krebs aus der Badewanne bringen konnte
dann strahlte er mich an, dass mir die Tränen kamen
ich scheute mich vor dem Krebs, weil er mir am ersten Tag
in die Nase gebissen hat
und ein Nasenflügel seitdem gespalten war
aber das war mein Fehler: ich hatte gemeint er sei aus Plastik
nach dem Entzug sass er bei schönem Wetter auf dem Balkon
und spukte über das Geländer
das war erlaubt
auch wenn sie seinetwegen die Autos von der Garage
umparkieren mussten
bei schlechtem Wetter sass er beim Fenster im Korridor
und schaukelte hin und her
ich hatte ihm eine grosse Zielscheibe mit bunten Kreisen unmittelbar vor das Stuhlbein gestellt
er traf in den meisten Fällen, denn er sah gern
wie die Spuke durch die Farben lief
ich lernte einige Brocken Yugoslavisch
und brachte ihm dann die erlernten Sätze bei
denn selber brummelte er nur “dobro”
was ein angenehmes Wort war, denn es bedeutete “gut”
einmal polterte er solang an die Wohnungstür, dass ich sie aufschloss und ihn zur Treppe führte
er wollte, dass ich ihn hinuntertrage
aber er war doppelt so schwer
da setze er sich protestiv auf den Hintern
und begann hinunterzurutschen
eilends brachte ich ihm ein Kissen
denn ich dachte an seine alten Knochen
inzwischen alarmierte ich die Zügelfirma für einen Flaschenzug
mit dem er damals bei mir eingezogen war
ein Treppenlift gestattete die Verwaltung nicht
der Kleine solle Treppen gehen lernen
als er draussen angelangt war
steuerte er direkt zum Spar
wo er Bierkannen in den Einkaufswagen legte
an Zigaretten dachte er nicht mehr
schon im Geschäft traf er die ersten Kumpanen
mit denen zog er auf den Kirchplatz
sie feierten den ganzen Tag und die ganze Sommernacht
ich schaute immer wieder vorbei
Dobro schien ausgesprochen glücklich
grad so wie wenn er den kleinen roten Krebs im Gesicht hatte
und nahm von mir keinerlei Notiz
wie schmerzt doch ein gebrochenes Mutterherz
allmählich wurden Anwohner aufmerksam
um ein Uhr früh riefen sie die Polizei
sie nahmen Personalien und lösten die Gruppe auf
ich bat um eine Abschrift der Adressen
Dobro schlief längst unter der Bank
ich hatte ihm Decken und Kissen gebracht
aber man erlaubte ihm die Übernachtung nicht
so rief ich die Sanität und bat um eine stumme Sirene
um den Kleinen nicht zu erschrecken
er schlief die Nacht in seiner weichen Ecke
und ich schaute ihn an wie einen Neugeborenen
seit da übte ich mit ihm das Treppensteigen
aber im Treppenhaus war er zu laut
hie und da lud ich ein zwei seiner “Freunde” ein
natürlich nicht die ganze Horde
und stellte Dosen zur Verfügung, die umetikettiert waren
die Zwerglein waren dann placebo-high aber das Dach ging hoch wie mit richtigem booze sie benahmen sich, wie halt Kinder sind ich selbst ging über Nacht in die Jugendherberge ich hatte die kommenden Tage frei und hatte Zeit zum Aufräumen genug inzwischen wusste ich, dass die sich stören, schon schnell genug intervenierten die Polizei musste die Wohnung aufbrechen immerhin hatte ich die Party angekündigt mit der Zeit wurde sein Haar wieder dichter aber der Ausschlag ging nie ganz weg wohl wegen dem Krebs er wollte, dass ich ihn aufkläre, aber das konnte ich nicht ich hielt meine Einstellung für unausgewogen aber er wollte es unbedingt ich hatte das Gefühl, dass er schon alles wusste und dass er es nur lustig fand wie Jugendliche halt sind ich war nun selber über fünfzig und begann zu befürchten, dass ich überfordert würd aber Gott sei dank wurde auch der Kleine älter es kam nun vor, dass er mich trösten konnte und ich hatte das Gefühl, dass er nun selber Vater war einmal schenkte er mir sogar etwas einen elastischen Plastik-Turm der so durchscheinend rot war wie sein Krebs er lächelte mich an, als er ihn auspackte und zeigte mir die Zunge
Chiron und der vierte König
Chiron und Hyllas brechen auf. Sie wissen, dass ihre alten Aufgaben sie überfordert haben. Chiron, der Arzt, hat bis zum Umfallen Kranke besucht und geheilt. Aber seine eigene Wunde löst meist in der Nacht wachsende Schmerzen aus. Sie ist unheilbar. Und Hyllas ist seiner Aufgabe als Bereiter von Wildpferden nicht gewachsen. Sie ziehen los, um die Wege des Schicksals zu erfahren. Chiron ist überzeugt, dass sie fündig würden auf ihrer Suche nach dem Heil.
Sie kommen an einen reissenden Fluss und fragen Anwohner, wie man auf die andere Seite gelangt. Diese erklären, dass es keine Brücke gibt, die über den Fluss führt, dass aber ein Fährmann die Reisenden durch das Wasser trage. Er sei allerdings schon seit einer Weile nicht zurückgekehrt und sie wüssten nicht, was mit ihm geschehen ist.
Als Hyllas von dem Fährmann hört, der über solche Kraft verfügt, dass er Reisende über den Fluss tragen kann, fühlt er sich dazu gedrängt, ihm zu begegnen. Chiron versteht den Wunsch des Jüngeren und ist bereit, die nötigen