Nik Morgen

Animus oder Die Seele eines Stärkeren


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dem Bett liegend wieder einmal richtig wahrnahmen. Ihr Atem hatte jetzt etwas Existentielles. Sie griffen sich an die Brust und sahen mit inneren Augen, dass ihr Zeigefinger wie über eine kleine Bildschirmfläche fuhr, über ein touch-pad sozusagen, der aber empfindliche Hautoberfläche war, und unter der sich Dinge bewegten.

      cancer

      ein bulliger Grossvater aus dem Ostblock wurde

       aufgrund mangelnden Benehmens

       zur Adoption freigegeben

       und weil ich mit 46 endlich ein Kind haben wollte

       nahm ich den Kleinen auf

       er war Kettenraucher, spuckte in alle Ecken

       und hatte einen Ausschlag im Gesicht

       den ich mit der Zeit zum Teil behandeln konnte

       die Zigaretten stellte ich ihm ab

       er konnte nämlich noch nicht Treppen laufen

       und sich welche kaufen gehen

       weil er dann so tobte

       musste ich eine Zimmerecke ganz weich einrichten

       und ihn ein paar Mal auf den Boden werfen

       bis er wieder friedlich war

       es gab auch einen Abfluss in der Ecke und eine demontierbare Schüssel

       manchmal urinierte er aus Protest

       sowie eine Gitterschranke mit farbigem Schaumgummi

       über diese Freiheitsentzugsmassnahmen

       war ich gar nicht glücklich

       und ich freute mich, wenn ich ihm seinen kleinen roten Krebs aus der Badewanne bringen konnte

       dann strahlte er mich an, dass mir die Tränen kamen

       ich scheute mich vor dem Krebs, weil er mir am ersten Tag

       in die Nase gebissen hat

       und ein Nasenflügel seitdem gespalten war

       aber das war mein Fehler: ich hatte gemeint er sei aus Plastik

       nach dem Entzug sass er bei schönem Wetter auf dem Balkon

       und spukte über das Geländer

       das war erlaubt

       auch wenn sie seinetwegen die Autos von der Garage

       umparkieren mussten

       bei schlechtem Wetter sass er beim Fenster im Korridor

       und schaukelte hin und her

       ich hatte ihm eine grosse Zielscheibe mit bunten Kreisen unmittelbar vor das Stuhlbein gestellt

       er traf in den meisten Fällen, denn er sah gern

       wie die Spuke durch die Farben lief

       ich lernte einige Brocken Yugoslavisch

       und brachte ihm dann die erlernten Sätze bei

       denn selber brummelte er nur “dobro”

       was ein angenehmes Wort war, denn es bedeutete “gut”

       einmal polterte er solang an die Wohnungstür, dass ich sie aufschloss und ihn zur Treppe führte

       er wollte, dass ich ihn hinuntertrage

       aber er war doppelt so schwer

       da setze er sich protestiv auf den Hintern

       und begann hinunterzurutschen

       eilends brachte ich ihm ein Kissen

       denn ich dachte an seine alten Knochen

       inzwischen alarmierte ich die Zügelfirma für einen Flaschenzug

       mit dem er damals bei mir eingezogen war

       ein Treppenlift gestattete die Verwaltung nicht

       der Kleine solle Treppen gehen lernen

       als er draussen angelangt war

       steuerte er direkt zum Spar

       wo er Bierkannen in den Einkaufswagen legte

       an Zigaretten dachte er nicht mehr

       schon im Geschäft traf er die ersten Kumpanen

       mit denen zog er auf den Kirchplatz

       sie feierten den ganzen Tag und die ganze Sommernacht

       ich schaute immer wieder vorbei

       Dobro schien ausgesprochen glücklich

       grad so wie wenn er den kleinen roten Krebs im Gesicht hatte

       und nahm von mir keinerlei Notiz

       wie schmerzt doch ein gebrochenes Mutterherz

       allmählich wurden Anwohner aufmerksam

       um ein Uhr früh riefen sie die Polizei

       sie nahmen Personalien und lösten die Gruppe auf

       ich bat um eine Abschrift der Adressen

       Dobro schlief längst unter der Bank

       ich hatte ihm Decken und Kissen gebracht

       aber man erlaubte ihm die Übernachtung nicht

       so rief ich die Sanität und bat um eine stumme Sirene

       um den Kleinen nicht zu erschrecken

       er schlief die Nacht in seiner weichen Ecke

       und ich schaute ihn an wie einen Neugeborenen

       seit da übte ich mit ihm das Treppensteigen

       aber im Treppenhaus war er zu laut

       hie und da lud ich ein zwei seiner “Freunde” ein

       natürlich nicht die ganze Horde

       und stellte Dosen zur Verfügung, die umetikettiert waren

       die Zwerglein waren dann placebo-high aber das Dach ging hoch wie mit richtigem booze sie benahmen sich, wie halt Kinder sind ich selbst ging über Nacht in die Jugendherberge ich hatte die kommenden Tage frei und hatte Zeit zum Aufräumen genug inzwischen wusste ich, dass die sich stören, schon schnell genug intervenierten die Polizei musste die Wohnung aufbrechen immerhin hatte ich die Party angekündigt mit der Zeit wurde sein Haar wieder dichter aber der Ausschlag ging nie ganz weg wohl wegen dem Krebs er wollte, dass ich ihn aufkläre, aber das konnte ich nicht ich hielt meine Einstellung für unausgewogen aber er wollte es unbedingt ich hatte das Gefühl, dass er schon alles wusste und dass er es nur lustig fand wie Jugendliche halt sind ich war nun selber über fünfzig und begann zu befürchten, dass ich überfordert würd aber Gott sei dank wurde auch der Kleine älter es kam nun vor, dass er mich trösten konnte und ich hatte das Gefühl, dass er nun selber Vater war einmal schenkte er mir sogar etwas einen elastischen Plastik-Turm der so durchscheinend rot war wie sein Krebs er lächelte mich an, als er ihn auspackte und zeigte mir die Zunge

      Chiron und der vierte König

      Chiron und Hyllas brechen auf. Sie wissen, dass ihre alten Aufgaben sie überfordert haben. Chiron, der Arzt, hat bis zum Umfallen Kranke besucht und geheilt. Aber seine eigene Wunde löst meist in der Nacht wachsende Schmerzen aus. Sie ist unheilbar. Und Hyllas ist seiner Aufgabe als Bereiter von Wildpferden nicht gewachsen. Sie ziehen los, um die Wege des Schicksals zu erfahren. Chiron ist überzeugt, dass sie fündig würden auf ihrer Suche nach dem Heil.

      Sie kommen an einen reissenden Fluss und fragen Anwohner, wie man auf die andere Seite gelangt. Diese erklären, dass es keine Brücke gibt, die über den Fluss führt, dass aber ein Fährmann die Reisenden durch das Wasser trage. Er sei allerdings schon seit einer Weile nicht zurückgekehrt und sie wüssten nicht, was mit ihm geschehen ist.

      Als Hyllas von dem Fährmann hört, der über solche Kraft verfügt, dass er Reisende über den Fluss tragen kann, fühlt er sich dazu gedrängt, ihm zu begegnen. Chiron versteht den Wunsch des Jüngeren und ist bereit, die nötigen