Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


Скачать книгу

Bettzeug, soliden Möbeln, in Toss sahen alle Häuser so aus. Die Andereggs, eine Bergbauernfamilie, die aus starken, schweigsamen Männern bestand, die sich nur sonntags rasierten, die dunkel waren wie die von der Sonne verbrannten Holzhäuser und die mit kantigen, energischen Frauen mit harten, kräftigen Händen zusammen lebten. Wie eine Uniform trugen die alten Frauen schwarze Kleidung, ihre Männer klammerten sich an einen kräftigen Stock. Alle, Jung oder Alt, trugen klobige solide Bergschuhe, die Männer oft Militärstiefel.

      Sophie! Sie war ein Jahr jünger als ich. Blaue Augen, meistens mit fliegenden Zöpfen und einer spitzen Zunge. Etwas lebendig Buntes umgab sie, schwirrte aufgeregt wie Schmetterlinge um ihre drahtige Gestalt. Ein Halstuch, eine Schleife, eine Blume setzten Farbtupfer auf ihre schlichte Arbeitskleidung. «Sie ist mein Schatz in Toss», erzählte ich der Mutter.

      Die Anreise ins Dorf verlief umständlich. Die Packrituale in unserer kleinen Familie glichen denjenigen der Arche Noah, von der ich in der Sonntagsschule hörte.

      «In Toss gibt es nichts!», verkündete die Mutter wie jedes Jahr. Und so kam Stück um Stück zusammen, das unverzichtbar zur Alltagsausrüstung in den rauen Bergen gehören musste. Der Gepäckberg entlockte dem Vater einen Seufzer. Ob wir in die Ferien fahren wollten oder nach Toss auswandern, war seine alljährliche Frage. Mutter quittierte wie immer mit einem schmalen Lächeln; sie sei so stolz auf ihre beiden starken Männer. Nach einer langen Zugfahrt, die wir hauptsächlich bei ausgedehnten Picknicks im Abteil verbrachten, und etlichem Umsteigen ging’s weiter mit dem Postauto, einem riesigen, heissen, gelbschwarzen Ungetüm. Gegen ein Trinkgeld, dem jedes Mal einiges Getuschel und Gezischel zwischen Vater und Mutter vorausging, war der Fahrer gerne bereit, ausserplanmässig einen Halt einzulegen, im Rank, dort, wo der Weg vom Dorf in die Kantonsstrasse einmündete.

      Meistens wartete der alte Anderegg bereits, schweigend und rauchend an seinen Trecker gelehnt. Vater und der Chauffeur wuchteten das Gepäck aus dem kleinen Anhänger des Postautos und luden es auf Andereggs angehängten Heuwagen. Dann zurrten sie die Bagage fest, als ginge es auf eine mehrtägige Reise. Behütet von tausend Ermahnungen der Mutter, kletterte ich auf die Ladefläche, setzte mich artig zwischen Vater und Mutter hinten auf den Heuwagen. Die Einheimischen schauten wie Masken durch die Wagenfenster zu. Am Abend, am Stammtisch im Hirschen, würden sie von den Verrückten aus der Stadt erzählen, mit ihrem Gepäckberg, wo ihnen doch ein Rucksack für die Besorgungen im Tal längstens ausreichte.

      Anderegg liess den Motor anspringen, gab Gas, der nagelnde Lärm steigerte sich, bis er jedes Gespräch übertönte, glücklicherweise auch Mutters ständige Ermahnungen, ja aufzupassen, auf die Beine, auf die Räder und wer weiss was noch für Schicksalsschläge, die rundherum auf uns lauerten.

      «Obacht», rief Anderegg über die Schulter. Mit einem Ruck setzte sich unsere Fuhre in Bewegung. Gleich nach der ersten Biegung holperten wir über die untere Brücke. Steil unter den Bohlen rauschte der Tossbach. Mutter nahm meinen Arm, verstärkte ihren Griff, damit wir nicht ins Tobel stürzten. Das Rauschen des Baches verklang hinter uns, als die schmale Strasse steiler wurde und sich in Serpentinen durch den Wald hoch quälte. Hoch oben, weit über der Kantonsstrasse, nach einer dunkelgrünen, feuchtkühlen Wegstrecke durch die Schlucht, überquerten wir den Tossbach ein zweites Mal. Die Mutter fröstelte. Kurz nach der Stahlbrücke, der oberen Brücke, wie die Einheimischen sie bezeichneten, flachte die Steigung ab. Der Wald trat zurück, und eine milde Feriensonne liess die Kühle schnell vergessen. Anderegg konnte jetzt bereits das Dorf vor sich sehen. Ich wollte aufstehen, Ausschau halten, denn bald mussten wir am Seeli vorbeikommen. Eine breite und tiefe Stelle im Tossbach, kurz vor dem Dorf, ersetzte im Sommer das Schwimmbad für uns Kinder. Es brauchte schon einiges an Überwindung, in das eiskalte Gletscherwasser einzutauchen. Sophie schwamm wie ein Otter durch das Eiswasser, braun gebrannt, in einem knallroten Badeanzug. «Fräulein Jakob, ist es euch zu kalt?», spottete sie und tauchte ab in die grüne Tiefe.

      Mutter riss mich aus meinen Träumereien: «Pass auf, Bub.» Artig setzte ich mich wieder hin. Ich hatte das Seeli erspäht und einen ersten Blick auf das Dorf geworfen, das auf der Hochebene in einer sanften Mulde vor dem Oberwald vor uns lag. Von unseren Sitzplätzen auf der hinteren Wagenkante aus sahen wir weit in das breite Tal hinein, das in der blauen Ferne sanft mit dem Himmel verschmolz. Die Mutter entspannte sich, lockerte ihren strengen Griff. Vater schaute sich nach Anderegg um, winkte ihm vergnügt zu. Anderegg schaltete den Trecker in einen höheren Gang, ein Ruck, und die Sommerferien in Toss begannen.

      Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Der Sommer war kurz hier oben, und es galt, die wenigen guten Tage auf den Feldern zu nutzen. Anderegg bog auf den Dorfplatz ein. Im schmalen Gässchen zwischen dem Hirschen und der Kirche hämmerte der Motorenlärm des Treckers auf uns ein, Mutter hielt sich die Ohren zu. Mit einem Ruck stoppte Anderegg unser Gefährt beim Chalet Anderegg.

      «Viel zu tun heute», wandte sich Anderegg nach hinten, ohne den Motor abzustellen. Die Männer luden flink das Gepäck ab, und mit einem kurzen «bis heute Abend» ratterte Anderegg schon wieder davon, zum Heuen, wie Mutter mir ausführlich erklärte, wie jedes Jahr. Als wir Sack und Pack in das Ferienlogis im zweiten Stock bugsiert hatten, scheuchte sie uns aus der Ferienwohnung. Mutter wollte ungestört ihr Reich in Besitz nehmen.

      «Komm», grinste Vater, «wir drehen eine Runde durch das Dorf.» Ich ahnte es bereits, Vaters Runde würde im Hirschen beginnen und auch dort enden. Brav ging ich mit, trank meinen Sirup aus dem riesigen, schweren Glas. Ich luchste auf eine günstige Gelegenheit, mich davonzuschleichen, ich musste unbedingt Sophie sehen. Als Vater sich in ein endloses Palaver mit den anderen Beizenhockern verwickelte, die nichts zu tun hatten, schlich ich zur Tür. Ausserhalb Vaters Sichtweite sauste ich los. Ich vermutete, dass die Andereggs am oberen Hang am Heuen waren. Ich wählte sicherheitshalber den Weg dem Bach entlang, der auf der andern Seite des Dorfes durchführte, ausser Sichtweite der Casa Anderegg. Die Mutter schien über einen siebten Sinn für meine Eskapaden zu verfügen und würde mich bestimmt zurückrufen, wenn sie mich sähe, und mich mit irgendetwas Langweiligem beschäftigen.

      Von der alten Sägerei aus entdeckte ich hoch oben im Hang Andereggs Trecker. Ich rannte los. Ich erkannte Sophie schon von weitem. Sie zog einen breiten Rechen hinter sich her, der mir viel zu gross für das zierliche Mädchen schien. Sophie verrichtete diese Arbeit gerne und voller Ernst, wie ich mich erinnerte. Sie liess es erst gut sein, wenn sie den letzten getrockneten Grashalm auf der kurz geschnittenen Wiese erwischt hatte. Für die Kühe, damit sie im Winter genug zu fressen hätten. Die Winter hier oben waren hart und das Dorf oft abgeschnitten von der Talstrasse. Manchmal verschütteten sogar Lawinen und Erdrutsche die Strasse. Da mussten die Vorräte für die kalte Jahreszeit reichlich und klug angelegt werden, das hatte mir der Vater erzählt.

      «Hallo», keuchte ich, als ich mit rotem Kopf vor Sophie stand. Sie war zwar jünger, nur wenig kleiner, aber viel stärker als ich. Ihre Augen leuchteten in einem Blau, wie ich es später in meinem ganzen Leben bei niemand anderem mehr fand. Sophies Lachen riss jeden wehrlos mit, niemand konnte ihr böse sein. Unter dem hellblauen, streng geknoteten Kopftuch suchten übermütige Haarsträhnen einen fliessenden Weg über Schultern und Rücken. Ein paar Heuhalme lockten mich, sie aus der kastanienbraunen Haarflut zu zupfen. Sophie legte sorgfältig den Rechen hin, Zacken nach unten, und richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf. Sie trat einen Schritt auf mich zu. Feine Schweissperlen, lächelnd wischte Sophie sich mit dem Handrücken die Stirne trocken. «Jakob, wir haben euch erwartet.» Ordentlich gab sie mir die Hand, eine trockene, harte Anderegghand. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Sie drückte kräftig zu, ich erwiderte den Druck, so gut es eben ging. Aber ich wusste bereits, ich würde keine Chance haben. Ich wand mich im festen Griff, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte. Sophie lachte, als sie merkte, wie schnell sie den kleinen Kampf gewann. «Bist nicht stärker geworden seit dem letzten Jahr!»

      Die Hupe des Treckers mahnte vorwurfsvoll. Sophie nahm den Rechen wieder auf: «Ich muss weitermachen, morgen kannst du mir ja helfen, wenn du nicht zu schwach dazu bist.»

      Ich spazierte zurück, hinunter ins Dorf, gelangte von der Post her wieder auf den Dorfplatz. Als wenn ich nie weg gewesen wäre, trödelte ich vor dem Dorfladen herum, der geschlossen war. Ich wartete. Ich schaute durch das spiegelnde Schaufenster in den dunklen Laden. Es gab alles zu kaufen, was das Dorf brauchte. Mutter lag falsch, wenn sie