Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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nicht? Die Sophie Anderegg findet eine Lehrstelle, wenn sie das will.»

      «Ich weiss nicht so recht.» Sie fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken ihrer neuen Frisur. Ein Besuch beim Coiffeur gab ihr das Gefühl, jeweils den ersten Schritt zu einer Veränderung gemacht zu haben, auch wenn dies meist unbewusst geschah.

      «Ach, kommen Sie, machen Sie nicht so ein griesgrämiges Gesicht, das passt eh nicht zu Ihnen und zu Ihrer neuen Frisur. Haben Sie Lust auf ein Glas Wein?»

      «Aber nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht.»

      Frau Meister lachte abermals und zog sie in die Küche.

      Die gemütliche Küche erinnerte Sophie an ihr Zuhause in Toss, und sie fühlte sich hier ausserordentlich wohl.

      «Setzen Sie sich doch», forderte Rosina Meister sie auf.

      Frau Meister entkorkte einen Weissen, stellte etwas Käse und Brot auf. Sie füllte die beiden Gläser. «Auf Ihr Wohl, Sophie.»

      «Danke, Frau Meister, das ist wirklich lieb von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.»

      «Ist doch selbstverständlich, Sophie.»

      «Um ganz ehrlich zu sein, am liebsten würde ich in einem Reisebüro arbeiten oder eine Lehre als Fotografin absolvieren. Aber entweder gibt es keine Stelle oder ich bin sicher schon viel zu alt dafür.»

      Frau Meister lachte nicht, betrachtete Sophie aufmerksam, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Sophie mochte die Gespräche mit der kleinen, rundlichen Frau sehr. Sie war nicht aufdringlich und neugierig, sie war bescheiden und liess Sophie gewähren. «Aber Sophie», nahm sie das Gespräch wieder auf. «Man ist nie zu alt, um etwas zu lernen.» Wieder sah sie Sophie nachdenklich an.

      «Hmm ...», erwiderte Sophie nur. Sie sassen nun schweigend am Tisch und genossen den süffigen Wein.

      «Fragen Sie doch einfach mal in einem Reisebüro oder bei einem Fotografen nach, ob sie eine Stelle als Praktikantin frei hätten», sagte Frau Meister übergangslos.

      «Wie stellen Sie sich das vor? In meinem Alter?»

      «Wo sind nur Ihr Mut und Ihre Frechheit geblieben?»

      «Stimmt, da haben Sie Recht. Nicht überlegen, einfach machen», erklärte sie wild entschlossen.

      «Abgemacht, Frau Meister, gleich morgen mache ich mich auf die Suche nach einem Praktikum, und das Erstbeste, was mir begegnet, nehme ich.»

      «Aber nicht den Erstbesten», scherzte Rosina Meister.

      «Prost.»

      Sophie fühlte sich schon wieder etwas besser. Ob es am guten Weissen lag oder an der guten Idee, etwas zu unternehmen, ein Praktikum zu suchen, wusste sie nicht. Egal. Sie fühlte sich lebendig und unbeschwert, das hatte sie lange vermisst. Sie wäre nicht Sophie Anderegg, wenn sie dies nicht packen würde. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es für sie kein Halten mehr. Was würde Jakob dazu sagen, wenn er wüsste, wie sie jetzt voller Tatendrang war? In solchen Momenten vermisste sie Jakob.

      Wie gerne hätte sie mit ihm geteilt, ihm erzählt, was sie im Moment bewegte und was sie plante.

      «Danke, Frau Meister, für den guten Wein und Ihren Tipp», meinte Sophie aufgekratzt, bevor sie sich verabschiedete und in ihr Zimmer schwebte. Für einmal freute sie sich aufs Aufstehen am nächsten Morgen.

      Früh zog sie los. Sie erinnerte sich an Alain Julmy, einen Gast aus der Mugglibar, der ein gut gehendes Reisebüro in der Länggasse führte. Nichts wie hin. Schon stand sie vor dem grossen Schild «Julmy Reisen, spezialisiert für Spanien und Europareisen».

      Sophie fand sofort einen Draht zu Alain. Dieser erinnerte sich gerne an die aufgestellte und quirlige Sophie hinter dem Tresen. «Sie kann es gut mit Leuten», überlegte er, «sie kommt bei den Kunden bestimmt gut an.»

      «Ich kann Ihnen eine Stelle als Praktikantin anbieten. Ich glaube, Sie haben etwas, auf das unsere Kunden ansprechen werden», sagte Alain Julmy beim Vorstellungsgespräch.

      Eine strahlende Sophie wirbelte auf der Mittelstrasse heimwärts: Ein neues Abenteuer würde in wenigen Tagen beginnen.

      Die Arbeit im Reisebüro gefiel Sophie. Die Abwechslung, neue Begegnungen, fremde Länder, die unterschiedlichen Menschen. Sophie schwelgte. Das fiel auch Julmy auf. Nach drei Monaten bot er ihr an, eine Lehre bei ihm zu absolvieren. Sophie war ausser sich vor Freude. Sie hätte die ganze Welt umarmen können.

      Sophie nutzte ihre Chance, in der Schule war sie eine der Besten. Nebenbei besuchte sie einen Englischkurs. Sophie war mit ihrer wasserstoffblonden, frechen Kurzhaarfrisur nicht wiederzuerkennen. Sie, die nie eine Streberin war, die keine Lust hatte, sich festzulegen, die am liebsten mit Menschen redete und sich amüsierte, büffelte fleissig für den Abschluss.

      Der Erfolg war ihr sicher, drei Jahre später schloss sie die Ausbildung mit Bestnoten ab. Danach suchte sie eine Stelle in Zürich. Alain Julmy schrieb ihr ein hervorragendes Arbeitszeugnis. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahm sie Abschied von Bern.

      Die Trennung von Frau Meister fiel ihr schwer, Tränen flossen, als sie mit Sack und Pack reisebereit vor der Türe stand. Ein letztes Mal schloss Frau Meister Sophie in die Arme und strich ihr über ihre Haare. «Machen Sie’s gut, Sophie. Ich freue mich, wenn ich Sie gesund wieder sehe», sagte sie, mühsam um Fassung ringend. Sophie nahm den vollbepackten Rucksack und schwang ihn über ihre Schultern, nahm den Koffer, und ohne sich nochmals umzudrehen, marschierte sie hinaus in ihr neues Leben. Zurück in ihrer Küche wischte sich Frau Meister die Tränen weg. Sie hatte Sophie in all den Jahren lieb gewonnen wie eine eigene Tochter.

       Kapitel 2

      Ich hörte lange Zeit nichts von Sophie. Die Verbindung mit ihr war seltsam, anders als die Bekanntschaften mit anderen Frauen in dieser Zeit. Wenn Sophie da war, herrschte eine Vertrautheit und eine Nähe, die alles andere ausblendete. Dann verschwand Sophie wieder für Monate, und es war, wie wenn ein Schalter umgelegt, das Licht ausgeknipst würde. Sophie rückte dann in den Hintergrund, um plötzlich wie aus heiterem Himmel wieder in mein Leben zu treten.

      Ich hatte den Eindruck, dass Sophie eine schwere Zeit durchmachte. Sie gab sich aber verschlossen, wollte nicht darüber reden. Einmal sassen wir mit ein paar Kollegen zusammen. Danach fasste sie den Abend knapp zusammen: «Die sind auch nicht besser als die Stammtischhocker im Hirschen oben.» Von meiner Mutter vernahm ich, dass Sophie eines Tages, ohne sich zu verabschieden, aus der Stadt weggezogen war. Ab und zu traf eine Postkarte von ihr ein, alles Gute zum Geburtstag, frohe Weihnachten und dergleichen Belangloses. Ich warf die Karten nach wenigen Tagen weg, es lohnte sich nicht, sie aufzubewahren.

      Mein Leben glitt ruhig und sanft dahin, wie ein gut geöltes Rollband, das von Erler entworfen worden war. Die Ausbildung war abgeschlossen, und ich trat ins Büro meines Vaters ein. Alles verlief, wie es seit langem vorbestimmt war. In der Freizeit tüftelte ich spielerisch an allerhand Basteleien herum. So entwickelte ich geräuschlos gleitende Kleiderbügel, einen sich selbst leerenden Briefkasten und eine Katzenpforte, die nur die eigene Katze ins Haus liess, um nur einige Beispiele zu erwähnen. In dieser Zeit entstand auch das Konzept zur Entwicklung der doppelten Wäscheklammer.

      Zwischendurch verbrachte ich mit den Eltern ein paar Ferientage im Dorf. Vater sprach immer öfter vom Ruhestand und dass er nur noch fischen und faulenzen wollte. Mutter vertraute mir an, dass sie planten, in Zukunft für zwei, drei Monate im Jahr nach Toss zu ziehen, die Bergluft würde ihnen gut tun, aufs Alter. Toss war inzwischen der Welt näher gerückt. Der Weg hinauf ins Dorf war jetzt weniger umständlich. Die Strasse war durchgehend asphaltiert und verbreitert worden. Neuerdings fuhren regelmässig Postautos bis ins Dorf hinauf, das einst bescheidene Postbüro hatte mehr Betrieb. Vater verstaute den Gepäckberg lächelnd in der «Zitrone», wie der heiss geliebte Citroën CX genannt wurde, und fuhr durch bis vor die Casa Anderegg. Toss war attraktiv geworden, ein ruhiges, ursprüngliches Bergdorf, gut zu erreichen und bestens geeignet, um ein paar Tage auszuspannen. Obwohl ich häufig an Wochenenden in Toss war,