Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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ich die leeren Gestelle, in denen morgen frisches Brot liegen würde. Daneben hingen Dauerwürste, und ausserhalb der Reichweite von Kinderhänden war Schokolade aufgebaut, zwei Sorten bloss, Milchschokolade und dunkle Kochschokolade, steinhart. Im Kühlschrank im Hintergrund, einem weissen Ungeheuer mit Türen schwer wie ein Kassenschrank, lagen frische Butter und Käse. Die Milch holten wir abends beim Bauern, nach dem Melken. Die rechte Ladenseite war den Haushaltartikeln vorbehalten, Schnur, Besen, Werkzeug, Streichhölzer, Taschenmesser, Putzmittel, Lappen, einfaches Geschirr, rot mit weissen Tupfen. Ein paar Literflaschen Wein, Dôle, Kalterersee und Veltliner, rundeten das Sortiment ab. Daneben ein zwei Schnapsflaschen und eine offene Kiste mit billigeren Stumpen und den gängigsten Zigarettenmarken. Eine Schachtel mit Postkarten, Schwarz-Weiss-Aufnahmen von Toss, von der Kirche, von früher. Mir schien es ein Paradies, das einen viel verlockenderen Reiz ausübte als die eleganten Läden, die ich aus der Stadt kannte. Alles war eng und zusammengepfercht, und ich vermutete, dass es Tage dauern würde, um das ganze Sortiment durchzugehen.

      Vater plauderte vor dem Hirschen mit einem hoch gewachsenen jungen Mann mit einer strengen Brille und langen, zurückgekämmten Haaren. Der war zu elegant angezogen für hier oben, das war bestimmt kein Einheimischer, aber auch kein Tourist. Der gehört doch nicht hierher, dachte ich, der hat sich wahrscheinlich verlaufen und fragt nach dem Weg. Vater winkte mich herüber.

      «Das ist Gran Whools, unser neuer Nachbar. Er studiert in Zürich. Ein begabter junger Student, der einmal die Kanzlei seines Vaters übernehmen wird.»

      Gran Whools hob abwehrend die Hände: «Ihr Sohn, Herr Erler?» Er beugte sich leicht zu mir: «Du musst deinem Vater nicht alles glauben!»

      Er reichte mir eine schmale, gepflegte Hand. Definitiv keiner aus dem Dorf. «Ich werde jetzt öfter in den Ferien hier oben sein, gleich gegenüber von der Casa Anderegg. Ich wohne aber sonst im Tal unten. Ich habe ein Büro, fast wie dein Vater.»

      Überrascht war ich von Grans ruhiger, tiefer Stimme. Ich hatte eine dünne Stimme erwartet, die zu der hoch aufgeschossenen Gestalt passen würde. Der könnte gut den Nikolaus spielen mit dieser Stimme, dachte ich, denn natürlich glaubte ich schon lange nicht mehr an den Nikolaus.

      «Und, wie geht es deiner Sophie?», grinste Vater schelmisch.

      «Gut», antwortete ich eifrig, «sie ist am Heuen, morgen gehe ich mit zum Helfen.»

      Gran Whools und Vater tauschten Blicke.

      «Wenn ich darf?», fügte ich an.

      «Ich bin sicher, Sophie kann etwas Hilfe gut gebrauchen», unterstützte mich Whools, der mir heimlich zuzwinkerte.

      Vater lachte und zuckte die Schultern. «Mir soll's recht sein. Wir müssen weiter», verabschiedete er uns, «das Abendessen wartet.»

      Vater und ich kehrten zur Ferienwohnung zurück, wo es Spaghetti an Tomatensosse geben würde, wie jedes Jahr am ersten Ferientag.

      •••••

      Gut zehn Jahre waren seither vergangen. Seit einigen Monaten hauste ich in einer kleinen Studentenbude in der Berner Altstadt, zusammen mit ein paar Freunden. Zu Hause war es mir zu eng geworden. Der Vater verbündete sich mit mir und beschwichtigte Mutter, das gehöre halt zum Jungsein, ich sei ja nicht ab der Welt. Mutter hatte angerufen, sie rief beinahe jeden Tag an. Irgendwann im Geplauder erwähnte sie, Sophie lebe jetzt in der Stadt, die Andereggs hätten ihr neulich geschrieben. Nächsten Samstag käme Sophie sie zu Hause besuchen, und ob ich auch zum Tee kommen wolle, bat Mutter.

      Ich erinnere mich, wie ich den Nachmittag als peinlich empfand. Mutter schwärmte von früher, als wir noch so herzige Buben und Mädchen waren, in den Sommerferien in Toss. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, die alten Familienfotos hervorzukramen. Sophie lächelte höflich und zwinkerte mir verstohlen zu. Als wir uns endlich loseisen konnten und wieder auf der Strasse standen und zum Küchenfenster zurückwinkten, fragte Sophie: «Gehen wir noch irgendwohin?»

      Wir bummelten durch das stille Wohnquartier mit den gepflegten Gärten und den aufgeräumten Vorplätzen, Richtung Stadtzentrum. Ab und zu rollte ein Auto vorbei. «Hier ging ich zur Schule, das war mein Schulweg. Wir konnten auf der Strasse Fussball spielen.»

      Sophie lachte: «Das konnten wir auch, im Dorf. Aber ich habe mich immer nach der Stadt gesehnt, wenn du mir davon erzählt hast. Und jetzt, wo ich hier bin, fehlt mir das Dorf.»

      «Erinnerst du dich an Gian, Gian Piatt?»

      «Gian, natürlich erinnere ich mich an Gian. Irgendwie schien er mir nicht wie die anderen Dörfler zu sein? Ein listiger Kobold, so nannte ihn Vater.»

      «Gian ist ein Schatz, er hat es mit uns Kindern immer gut gemeint. Im Winter, wenn der Schneepflug noch lange nicht bei uns im Dorf oben war, schaufelte er uns den Weg zum Schulhaus frei. Neuerdings erteilt er den Feriengästen Skiunterricht. Am liebsten den Frauen, und die gehen gerne mit ihm auf eine einsame Tour durch die verschneiten Wälder.»

      «Toss wird ja richtig eine mondäne Destination», lachte ich, «und du, Sophie, willst du nicht auch Skilehrerin werden?»

      «Gian würde sich bestimmt darüber freuen», sagte sie, «trotz der Konkurrenz.» Sophie schwieg lange. Unten an der Aare, mitten auf dem Schönausteg standen wir uns gegenüber. Sophie nahm meine Hand, spielte mit meinen Fingern. Ihre Augen leuchteten schelmisch.

      «Nein, Jakob, niemals! Toss ist für mich weit weg. Obwohl, wenn ich so überlege, dir könnte ich wohl noch einiges beibringen, damit du es auch einmal ins Tal schaffst, ohne Badewannen in die Piste zu drücken.»

      Ein kalter Wind liess die Herbstblätter über die Bohlen rascheln. Eine Ente schnatterte, ein Velofahrer schob sein Rad über die Brücke. Sophies brave Zöpfe, deren Bild ich als Erinnerung in mir trug, waren einer wilden Strubbelfrisur gewichen. Ich verspürte Lust, mit den Händen durch die Haare zu fahren wie der Wind durch das Herbstlaub, nach längst vergessenen Heuhalmen zu suchen.

      «Du bist gross geworden, und schön!», erwiderte ich stattdessen mit einer Stimme, die mir rau und fremd vorkam.

      «Fang du jetzt nicht auch noch damit an!» Sophie gab sachte Druck auf die Hand. Ich erwiderte ihn, so gut es ging. Doch Sophie hatte nichts von ihrer Kraft eingebüsst und gewann unser kleines, vertrautes Spiel.

      Sophie hakte sich bei mir unter, lehnte sich an meine Schulter. Wir nahmen unseren Weg wieder auf.

      «Was machst du hier in der Stadt?»

      «Ich musste einfach weg aus Toss. Das Dorf wurde mir zu eng, die Leute schienen mir zu alt. Jeden Weg war ich bereits hundertmal gegangen, ich kannte jeden Stein. Jede Woche sah gleich aus, jedes neue Jahr war eine genaue Kopie des vergangenen. In die Stadt, eine Ausbildung machen, Sprachen lernen, Reisebüro, reisen, die Welt sehen, ich wollte alles auf einmal. Pluff, alles ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Bis ich weiss, wie 's weitergeht, jobbe ich hier und dort, um mich über Wasser zu halten.»

      Sophie schien nicht im Geringsten verlegen. «Der Vater weiss noch nichts davon, es war schon ein Krampf, bis er mich ziehen liess. Gian hat mir geholfen, den Vater umzustimmen. Er hat gesagt: Anderegg, lass die Jungen ziehen, was kannst denn noch bieten, hier oben? Die müssen in die Welt, sonst bleiben sie ewig hier oben hocken.

      Für uns war's immer noch gut genug, brummelte der Vater, nickte aber schlussendlich: Geh halt, Söfel, wenn's sein muss. Aber der Mutter habe ich es gebeichtet. Die Brüder werden mich auslachen, sie haben's ja schon immer besser gewusst. Sollen sie.»

      Sophies Augen blitzten trotzig. «Und du?»

      «Meine Eltern möchten, dass ich Ingenieur werde, und später soll ich das Büro vom Vater übernehmen. Transportanlagen aller Art. Wir bewegen alles, Ihr Transportproblem wird garantiert gelöst, Erlerwort. So einfach ist das.»

      «Und willst du das?»

      «Ich weiss nicht. Nein, eigentlich nicht. Ist egal.»

      Wir bummelten schweigend dem Fluss entlang, immer den vertrauten Turm des Berner Münsters vor uns. In einem herbsttrüben, leeren Restaurant am Ufer des Flusses tranken wir