Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


Скачать книгу

und es dunkelte früh.

      •••••

      Sophie blickte auf bewegte Jahre zurück. Sie würde Jakob viel zu erzählen haben von ihrem Weg aus Toss hinein ins Leben. Sophie freute sich auf das lang ersehnte Skiwochenende, endlich wieder einmal dem Stadtalltag entfliehen und in die Berge abhauen, in den Schnee eintauchen, viel Schnee.

      «Wie es wohl Jakob gehen mag?» Hoffentlich würde sie ihm in Toss begegnen. Es war wie verflixt: Je näher man wohnte, desto seltener sah man sich. Sophie würde seine Mutter anrufen, um sicher zu sein, dass Jakob ebenfalls in Toss war.

      Ihr Verlangen, Jakob zu sehen, war in den letzten Monaten stets grösser geworden.

      Während der Dauer, die sie mit Max zusammen verbrachte, hatte sie für nichts und niemanden anderen mehr Zeit gefunden. Sie verschwendete kaum einen Gedanken an Toss und an Jakob. Ja, sie war glücklich, und ihr Job in Zürich beim Reisebüro Maruc Travel füllte sie vollständig aus.

      Als Sophie von Toss nach Bern zog, wusste sie nicht, was sie alles erwarten würde. Sie begann eine Lehre als Schuhverkäuferin. Bereits nach einem halben Jahr gab sie diese wieder auf, denn das Herumstehen im Laden und die geheuchelte Freundlichkeit waren nicht nach ihrem Geschmack. Es war definitiv nicht ihr Metier und nur als Notlösung geplant gewesen. Eigentlich hätte sie gerne ihrer Leidenschaft nachgelebt und wäre lieber Fotografin oder Reiseleiterin geworden, aber eine Lehrstelle war nicht zu finden, und so gab sie ihren Traum bald einmal enttäuscht auf. Vater Anderegg war nicht gerade begeistert, als sie ihm stockend mitteilte, dass sie ihre Lehre abbrechen würde. Die Familie Anderegg war nicht auf Rosen gebettet, und die Unterstützung für Sophie fiel bescheiden aus. Kari Anderegg gab nach dem Lehrabbruch seiner Tochter unmissverständlich zu verstehen, dass sie von jetzt an selber für sich zu sorgen hatte. Immerhin wusste Kari, dass seiner Sophie bei Familie Erler für den Notfall ein Zimmer zur Verfügung stand. Sollte aus Sophie nichts Rechtes werden, würde dies Kari wohl nur schlecht verkraften. Und hätte er geahnt, dass seine Tochter nach dem Lehrabbruch in einer Bar arbeitete, wäre er nicht gerade begeistert gewesen. Klar betrachtete Kari wie alle im Dorf die hübschen, langen Beine der Serviertochter im Hirschen, allerdings war das selbstverständlich ganz etwas anderes. Und seine Tochter war für Besseres geboren, als sich von Männern in Kneipen anmachen zu lassen.

      Sophies erster Barjob führte sie als Aushilfe in das Berner Mattequartier, in die Crazybar. Sie lernte, auf die Gäste einzugehen, Betrunkene abzuwimmeln, ein Auge auf den Umsatz zu halten, sie lernte sogar, geduldig zuzuhören.

      Nach knapp einem Jahr wurde es ihr in der Crazybar zu langweilig. Sie wechselte in die elegantere Mugglibar an der Gerechtigkeitsgasse. Jeder mochte die schlagfertige und lebenslustige Sophie, die stets einen Spruch auf den Lippen hatte und wusste, was bei den Gästen ankam. Bern schien ihre zweite Heimat zu werden, es gefiel ihr ausgezeichnet. Sie fühlte sich wohl in dieser kleinen, behutsamen Stadt. Nach Toss würde sie bestimmt nicht mehr zurückkehren, nie mehr! Die Berge, die Leute, die Umgebung, ihr war dies alles zu eng geworden. «Wir haben es immer gesagt, Sophie ist ein Fegnest. Sie hält es nirgends lange aus und wird wohl an keinem Ort Sitzleder haben», tuschelten die Leute hinter ihrem Rücken. Vermutlich hatten sie mit ihrem Getuschel sogar Recht.

      So lebte Sophie mehr oder weniger zufrieden in Bern. Ab und zu telefonierte sie mit ihrer Mutter. Die Gespräche waren meist sehr kurz. Hatte sie zufällig ihren Vater am Telefon, was selten genug vorkam, brummelte er etwas wie: «Hoffentlich geht's dir gut, Söfel – melde dich wieder.» Söfel durfte nur ihr Vater zu ihr sagen, das war sein Privileg. Kari Anderegg mochte eigentlich gar nicht so genau wissen, was seine Tochter arbeitete. Er liess sie gewähren. Oft teilte er seine Sorgen um Sophie Gian mit, und dieser lachte meist: «Was machst du dir für Sorgen, mit ihrem harten Tosserkopf wird sich Sophie überall durchsetzen. Hör auf zu grübeln und nachzudenken. Die wird es noch weit bringen.»

      Sophies Arbeit in der Bar begann jeweils um siebzehn Uhr und dauerte meistens bis in die frühen Morgenstunden. Tagsüber schlief sie bis in den Nachmittag hinein. Dieser Rhythmus tat ihr gar nicht gut, sie wusste es. Der Alkohol wurde ihr ständiger Begleiter, der immer mehr Platz einnahm.

      «So kann das nicht weitergehen mit mir», beschloss sie eines Tages, als sie mit einem Brummschädel erwachte. Sie fühlte sich elend und leer und kehrte bald einmal der Mugglibar und dem Nachtleben den Rücken zu. Ein neuer Job musste her, aber wo? Sophie fand einen als Kassiererin im Coop, aber auch hier würde sie es nicht lange aushalten. Dies wusste sie schon, als sie ihren ersten Arbeitstag beendete. Das stundenlange Sitzen in der engen, zügigen Kabine machte ihr wenig Spass, und die mürrischen Kunden nervten sie bald einmal. Im Grunde genommen war es wie im Schuhladen, nur dass ihr am Abend nicht die Beine wehtaten, sondern der Rücken. Sophie schien rastlos und ständig auf der Suche nach dem richtigen Job, auf der Suche nach dem Glück, nach dem richtigen Partner und gleichzeitig auch noch nach dem Sinn ihres Lebens zu sein. Jeder mochte sie, die Leute fassten gleich Zutrauen zu ihr. Mit ihrer humorvollen und quirligen Art fand sie sich jeweils schnell in einem Job zurecht, sie war sich für keine Aufgabe zu schade. Doch was nützte es ihr, wenn sie in ihrem Herzen unglücklich war? Ihre wahre Berufung hatte sie noch nicht gefunden. «Ich jage wohl ein Leben lang einem Traum nach», stellte Sophie immer wieder fest.

      Als sie damals erwog, nach Bern zu ziehen, hatte sie Glück. Jakob vermittelte ihr ein einfaches Zimmer bei Bekannten im Breitenrainquartier. Zwar bot ihr Mutter Erler ein Zimmer in ihrem Haus in Wabern an, doch Sophie lehnte dankend ab. Es war ihr zu nahe bei Jakob, zu nahe bei den Erlers und damit zu nahe bei der Familie in Toss. «Du wirst immer ein Zimmer bei uns haben», äusserte sich Martha Erler damals. Sie sorgte sich um die junge Frau, behielt es aber für sich.

      Doch Sophie entschied sich für die einfache Bleibe bei Frau Meister, die Jakob ihr empfohlen hatte. Das einfache Zimmer war mit einem breiten Bett, einem alten Bauernschrank, einem Stuhl und einem kleinen Tisch möbliert. Sophie kannte nichts anderes. Es war ein heller Wohnraum, und die Aussicht auf die Stadt liess Sophies Herz jedes Mal höher schlagen, wenn sie am Morgen zum Fenster hinausblickte. Bad und Küche durfte sie mitbenutzen. Die Schlummermutter, Rosina Meister, eine herzliche, ältere Dame, genoss es, mit jungen Menschen zusammen zu sein.

      Sophie beglich die Miete pünktlich, es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich nach einem anderen, besseren Zimmer umzusehen. Es gefiel ihr bei Frau Meister, bei ihr fühlte sie sich geborgen, ohne zu viel Familienanschluss zu haben, der ihre Freiheiten einschränken würde. Manchmal sassen die beiden Frauen gemeinsam am Küchentisch, und Sophie erzählte Frau Meister von ihrem Alltag, von ihren Sorgen und Nöten.

      Ab und zu traf sie sich mit Martha Erler zu einem Tee, dies wurde jedoch immer seltener, je besser sich Sophie in der Stadt zurechtfand. Zudem lebte die Familie Erler neuerdings immer öfter in Toss, wo sie im Hause Anderegg die Ferienwohnung mietete.

      Eines Abends kam Sophie ziemlich müde und niedergeschlagen von ihrem freien Tag nach Hause. Sie war missmutig durch die Stadt gebummelt, hatte sich eine neue Frisur machen lassen und hatte sich Dinge gekauft, die sie gar nicht brauchte. «Frustshoppen», dachte sie, als sie ihre Einkäufe auspackte.

      Sophies Gedanken wanderten immer öfter nach Toss, doch ihr Stolz würde es nicht zulassen, wieder ins Dorf zu ziehen. Sie war froh, als sie Frau Meister vor dem Haus begegnete.

      «Guten Abend, Frau Meister, haben Sie einen Moment Zeit für mich?», rief sie ihrer Schlummermutter zu.

      «Wohl viel Geld ausgegeben heute bei den vielen Tüten?», stellte Rosina Meister schmunzelnd fest.

      «Klar habe ich Zeit für Sie. Was gibt's? Ärger im Geschäft? Schwierigkeiten mit den Männern? Weltuntergangsstimmung?»

      «Nichts geht mehr, nicht vorwärts, nicht rückwärts. Ich habe den Eindruck, mich im Kreise zu drehen», gab Sophie zu.

      «Wird wohl nicht so schlimm sein.»

      «Das kann auf die Länge nicht so weitergehen. Ich jobbe herum, habe keinen Beruf, komme keinen Schritt weiter. Fühle mich unzufrieden, und es ist nur noch mühsam.»

      «Das ewige Hin und Her ist tatsächlich nichts für Sie, da haben Sie Recht.»

      «Aber Frau Meister, ich muss meinen