Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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Mann rasch das Weite suchte. Nein, Martina war nicht chancenlos, trotz ihrer muskulösen, aber hageren Gestalt wirkte sie attraktiv, und sie kam mit ihrer charmanten Ausstrahlung und ihren grossen, dunklen Augen gut an, nicht nur bei Männern.

      •••••

      In Toss schneite es am andern Morgen immer noch, das Wetter hatte sich in der Nacht wieder verschlechtert. Ein kalter Wind trieb die Schneeflocken waagrecht vor sich her. Wer konnte, blieb zu Hause und verkroch sich hinter dem Ofen. Trotz des schlechten Wetters war Gian mit den Skiern ins Tal gefahren und hatte dafür gesorgt, dass Sophie mit dem Pistenfahrzeug bis zum Oberwald hochgefahren wurde. Dort hatten sich Sophie und Gian die Skier angeschnallt und waren auf dem alten Forstweg durch den Wald ins Dorf gelangt, der einzigen, beschwerlichen Route der Einheimischen ins Dorf, wenn die Strasse gesperrt blieb. Ich stand am Fenster und schaute zu, wie Gian und Sophie sich vor der Casa verabschiedeten. Zwei dick eingepackte, schneebedeckte Figuren, diejenige mit dem riesigen Rucksack musste Sophie sein. Gian grüsste mit dem Skistock zu den Fenstern hin und zog weiter. Ich ging hinunter zum Eingang, mit einem seltsamen Gefühl im Magen, voller Erwartung auf die neue, alte Freundin aus weit zurückliegenden Zeiten.

      Sophie trug eine knallrote Skijacke, hellblaue Hosen und eine gelbe Mütze. «Die Freude an bunten Farben hat sie sich bewahrt», schoss mir durch den Kopf. Mit dem Reisbesen, wie er im Dorf vor jeder Türe stand, fegte sie sich den Schnee von den Skistiefeln, klopfte ihn von den Kleidern. Ich öffnete die Türe vom Windfang, nahm ihr den Rucksack ab.

      «Willkommen zu Hause!» Mehr kam mir nicht in den Sinn.

      «Du hier! Ich glaube es nicht! Deshalb klang deine Mutter so geheimnisvoll am Telefon! Wie schön, dich zu sehen!»

      Wir umarmten uns. «So lange ist es her, ewig!»

      «Ich habe dich vermisst», flüsterte ich und roch an Sophies Haaren.

      Sophie stützte sich auf meine Schulter und stieg aus den klobigen Skistiefeln, rieb sich die kalten Füsse. Dann wand sie sich aus Überhose und Windjacke, Schals und dicken Pullovern. Mit jeder Schicht verwandelte sich die dick gepolsterte Skifrau wieder in die zierliche, drahtige Gestalt Sophies, die ich in Erinnerung hatte.

      «Lass dich ansehen, du bist ja ein richtiger Mann! Bist du auch stärker geworden?»

      Demonstrativ versteckte ich meine Hände auf dem Rücken.

      Sophie strich mir über den Kopf und lachte: «Machst wohl alles mit dem Kopf?»

      Dann stürmte sie die Treppe hoch und trat in die Wohnung, in der sie aufgewachsen war.

      Sophies Backen glühten, als sie in der gut geheizten Stube am Esstisch sass, hinter einer riesigen Tasse heisser Schokolade.

      «So, wie habt ihr es hier oben?» Ein endloses Palaver bahnte sich an. Vater setzte sich hinzu, und alte und neue Dorfgeschichten wurden so lange ausgetauscht, bis alle auf dem neusten Stand waren und es beim besten Willen über nichts und niemanden mehr etwas zu sagen gab. Sorgfältig schlug Mutter einen weiten Bogen um das Thema, das sie bestimmt am meisten interessierte: Max und London. Doch dafür würde später noch Zeit sein, unter Frauen, vermutete ich. Ich beschränkte mich aufs Zuhören. Von der Seite her schaute ich mir Sophie genauer an. Ich suchte nach Spuren in meiner Erinnerung, Sophie beim Heuen, Sophie auf dem Schönausteg, mit Strubbelfrisur. Heute war sie rot, hatte sich die Haare zu zwei artigen Zöpfen geflochten, wie früher, als wir noch Kinder waren. Ich fand, Sophie habe manchmal, in einem unbeobachteten Moment, einen herben Zug um den Mund.

      «Und, was machst denn jetzt so?», fragte Vater.

      Mutter schaute ihn strafend an.

      «Eh ja, man wird doch noch fragen dürfen?»

      «Schon recht», beschwichtigte Sophie, «ich habe einen neuen Anlauf genommen und meine Ausbildung endlich abgeschlossen. Immerhin komme ich jetzt doch noch dazu, die Welt zu sehen und kann herumvagabundieren», lachte sie ihr herzliches Lachen, das mir besonders gefiel. «Bist du immer noch so schwach, Jakob?» Herausfordernd streckte sie mir die Hand entgegen, liess es aber bei einem sanften, freundschaftlichen Druck bewenden.

      Sie prüfte meine Hand. «Bürohände, Papierkramhände. Hast du noch genug Kraft, um einen Skistock zu halten? Ich habe Lust auf Berge und Schnee. Begleitest du mich auf eine Tour zur Scherzlihütte, wenn das Wetter besser wird? Ich habe Gian versprochen, zu prüfen, wie es der Hütte nach dem Sturm geht. Aber nur, wenn es nicht zu anstrengend für dich ist.»

      Ich nickte. «Wenn das Wetter besser wird, warum nicht?»

      «Hilfst du mir beim Nachtessen, Sophie?», fragte die Mutter.

      «Wir drehen noch eine Runde, bis ihr soweit seid», zwinkerte mir Vater zu.

      •••••

      Der Wind hatte nachgelassen, es war unheimlich still geworden nach dem Sturm. Die Wolken hatten sich verzogen, hatten einer eisigen, klaren Nacht Platz gemacht. Ein feiner roter Streifen am Horizont kündigte einen prächtigen Tag an. Über dem Tossberg funkelten die Sterne mit einem Glanz, wie ich ihn nur in Toss gesehen hatte. Sophie federte leicht und unbeschwert voraus, als unternähmen wir einen kleinen Sommerspaziergang. Ich kam mir in der Skimontur eingeschweisst vor wie ein Ritter in seiner Rüstung. Der Schnee unter den Skistiefeln quietschte, das einzige Geräusch. Wir schwiegen, während wir das Dorf durchquerten, als wäre es ein Frevel, die Stille mit Worten zu durchbrechen. Am Dorfplatz brannte eine trübe Strassenlaterne einen Lichtkreis in den Schnee. Noch als wir bereits das Dorf hinter uns gelassen hatten, flüsterte ich. Sophie lachte: «Hier störst du niemanden mehr, kannst wieder normal reden.»

      Bei der alten Sägerei zogen wir die Steigfelle auf die Skier und nahmen den Aufstieg dem Tossbach entlang hinauf zur Pläni in Angriff. Sophie ging voran und legte die Spur. Als die Sonne aufging, machten wir einen Zwischenhalt. Wir besprachen die erste Etappe, die uns zum Sattel zwischen dem Tossberg und der Hochebene, der Pläni, führen sollte. Ein kurzer, prüfender Blick über die Schulter, Sophie trat zur Seite, liess mich vorbei. Stillschweigend wechselten wir uns im Spuren ab, unberührter Schnee lag vor meinen Skispitzen. Ich übernahm jetzt die Führung und die anstrengende Arbeit des Pfadens.

      «Sag, wenn du nicht mehr kannst», bemerkte Sophie. Doch es lag kein Spott in ihrer Stimme, eher Besorgnis. Sophie hatte nichts von ihrer Kraft und Ausdauer verloren. Ernst, mit gleichmässigen Schritten, stiegen wir auf. Ich hing meinen Gedanken nach. Endlich waren wir oben angelangt, der Wald trat zurück. Sophie übernahm wieder die Führung.

      Die Pläni lag bereits im ersten Sonnenlicht. Noch ein paar gleitende Schritte auf die Hochebene, und wir legten eine Rast ein. Ein Felsbrocken, der grau und kalt aus dem Schnee ragte, diente uns als Sitzplatz. Wortlos sassen wir in der Sonne, die schon wärmte. Sophie reicht mir die Sonnencreme, suchte einen Apfel und Tee in ihrem Rucksack.

      «Schön ist es hier oben», sagte sie endlich und atmete tief durch, «das habe ich ewig lange vermisst. Hier finde ich mein Gleichgewicht wieder.» Mit einer ausladenden Geste umfasste sie die Aussicht ins Tal. Weit unter uns lag Toss, das Dorf wirkte klein wie Spielzeug.

      Nach einer guten halben Stunde nahmen wir den restlichen, steilen Aufstieg zur Scherzlihütte in Angriff.

      Die Alphütte wurde nur im Sommer bewohnt, wenn Gian auf der Alp das Vieh der Bauern übersommerte. Jetzt lag sie tief im Schnee versunken. Sophie wies auf die Schneeschaufel hin, die Gian vorsorglich an einen Dachsparren gebunden hatte.

      «Männerarbeit!», lachte Sophie. Ich sank bis zu den Knien ein, als ich die Skier auszog und begann, den verwehten Eingang freizulegen. Sophie prüfte unterdessen die Fensterläden und das Dach, alles schien zu ihrer Zufriedenheit zu sein. Ich hatte die Feierabendbank vor dem Haus freigeschaufelt. Sophie brachte ein paar Decken aus der Hütte, wir setzten uns gut eingepackt in die Sonne und untersuchten den Inhalt der Lunchpakete, die Mutter reichlich gefüllt hatte.

      «Weisst du, Jakob, mit Max in London, das war schon eine wilde Geschichte», begann Sophie ihre Erzählung:

      Nach einem anstrengenden Tag machten wir spät Feierabend. Wir hatten keine Lust, nach Hause zu gehen, und so zog ich mit