Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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wir vor der Hütte. Ich suchte Sophies Hand, wir rückten eng zusammen. Nach einem langen Schweigen fasste sich Sophie wieder.

      Sie schälte sich aus der Decke, stand auf. «Magst du noch was?» Ich verneinte, und Sophie begann zusammenzuräumen, faltete die Decken zusammen. Sie schenkte mir den letzten Becher heissen Tee aus der Thermosflasche ein.

      «Den teilen wir uns noch», bot ich an. Der Becher wanderte hin und her.

      «Es ist schon seltsam, im Dorf», wechselte ich das Thema, «jedes Mal, wenn ich nach Toss komme, sind ein paar weggezogen. Die Hanghäuser ob dem Dorf wirken schon richtig verlottert.»

      «Ja, es ist überall das Gleiche. Immer mehr Leute ziehen ins Tal. Zu wenig gute Arbeit, harte Winter und die Strasse ewig geschlossen. Da ist es in der Stadt schon angenehmer.»

      «Mutter hat erzählt, dass man darüber redet, dass die Schule geschlossen werden soll, es habe kaum noch Kinder in Toss.»

      «Richtig, und Gian hat mir berichtet, das Postauto fahre ab nächstem Jahr unter der Woche nur noch zweimal am Tag.»

      «Ich könnte mir gut vorstellen, im Dorf zu leben. Mir gefallen die Abgeschiedenheit und die Ruhe gut. Das Geschäft in Bern läuft wie von selbst, und ich habe mir überlegt, es zu verkaufen, wenn die Eltern einmal nicht mehr da sind. Ich möchte etwas ganz anderes machen und weg von der Stadt.»

      «Komm, du machst Witze», lachte Sophie, «was willst du in diesem Nest?»

      «Ich habe dich immer bewundert, wie du deinen eigenen Weg gegangen bist, ohne zurückzuschauen. Für mich läuft’s einfach umgekehrt, raus aus der Geschäftswelt, rein in die kleine Dorfwelt.»

      Sophie schüttelte den Kopf. «Dummes Zeug!»

      Energischer als notwendig gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Sorgfältig verschlossen wir die Hütte, hängten die Schneeschaufel wieder an ihren Platz. Sophie zog sich die Skibrille über die Augen. «Wetten, ich bin zuerst auf der Pläni?» Und schon rauschte sie durch den Tiefschnee talwärts. Ich verspürte keine Lust, ein Rennen zu fahren, und schaute den eleganten Schwüngen nach, die Sophie anmutig für mich in den Schnee zeichnete. Nachdenklich stiess ich mit den Stöcken ab, langsam nahmen meine Skis Fahrt auf.

      Noch lange hafteten mir die Bilder vom verschneiten Wald im flachen Sonnenlicht im Gedächtnis. Es würden für etliche Jahre die letzten sein, die mir als Erinnerung dienen würden. Bereits früh am nächsten Morgen, nach einem stillen Frühstück und einem kurzen Abschied, hatte es Sophie wieder in die Welt hinausgewirbelt. Ich schien einfach zu träge, um mit Sophie gleichziehen zu können. Und so war ich wieder alleine mit meinen Gedanken an das Berglermädchen, das als junge Frau die Welt eroberte. Bei jeder meiner Bergtouren, wenn mich der Weg über die Pläni führte, richtete ich es ein, dass ich bei unserem Felsbrocken eine kurze Rast einlegen konnte.

       Kapitel 5

      Sophie hatte sich schnell wieder in Zürich eingelebt. Sie freute sich, nach dem Londonabenteuer wieder zu Martina zurückzufinden. Diese empfing die Ausreisserin mit offenen Armen und machte ihr keine Vorwürfe. Klar war Martina neugierig, wie es Sophie ergangen war, doch sie liess ihr Zeit, von Schadenfreude jedenfalls war nichts zu erkennen, vielleicht eine gewisse Genugtuung, dass Sophie wieder im Büro war. Wie wenn sie nie weg gewesen wäre, nahm Sophie ihre Arbeit bei Maruc Travel wieder auf und war ganz glücklich, wieder in Zürich zu sein. Die beiden Frauen verstanden sich wie Schwestern, wenn auch Martina ab und zu den Kopf schüttelte, weil die quirlige Sophie zuweilen ungeduldig wurde, wenn sie etwas nicht begriff.

      Nach dem tollen Skiwochenende mit Jakob fühlte sich Sophie wie neu geboren. Die alte Vertrautheit blieb unverändert, und sie war froh, Jakob die Geschichte von Max erzählt zu haben. Aber was hatte sie denn über Jakob erfahren? Es war einfach zu wenig Zeit geblieben, um über seine Projekte zu reden. Das schlechte Gewissen regte sich in Sophie. Ahnte sie, wie und was Jakob fühlte? Oder war er bloss ihr Zuhörer? «Ach was, wenn er mir etwas erzählen will, wird er dies auch tun», schnitt Sophie die Gedanken ab.

      Auf dem Arbeitsweg am Montagmorgen ging sie nochmals die kurze Zeit in Toss durch: Das Wochenende war so schnell verflogen, dass sie nicht einmal Zeit gefunden hatte, um Gian zu treffen. Wie es ihm wohl ging? Gerne wäre sie mit ihm im Hirschen zusammengesessen, aber die Zeit war einfach zu knapp geworden; bestimmt ein andermal. Sie würde gewiss wieder nach Toss reisen und sich dann Zeit für ihn reservieren. Vielleicht würden sie es schaffen, gemeinsam in die Scherzlihütte zu wandern.

      «Hattest du ein gutes Wochenende?», begrüsste sie Martina fröhlich, als sie das Reisebüro aufschlossen.

      «Ja, es war toll, die Skitour, das Picknick im Schnee, das schöne Wetter, die Aussicht. Es war einfach traumhaft.» Sie schwärmte in den höchsten Tönen vom Wochenende.

      «Du warst doch mit Jakob zusammen?»

      «Ja, das war ich.» Für einen kurzen Moment betrachtete sie Martina verblüfft.

      «Wieso fragst du mich?»

      «Weil du so aufgestellt und glücklich bist. Bist du in ihn verliebt?» Für einmal war ihr strenger Zug um den Mund verschwunden.

      «Ach was, ich bin doch nicht verliebt. Jakob ist ein alter Kumpel und mein Sandkastenfreund. Ich mag ihn, aber als Mann? Kann ich mir nicht vorstellen.»

      Martina warf Sophie einen kritischen Blick zu. Sie schien nicht ganz überzeugt.

      «Und du, hattest du auch ein gemütliches Wochenende?», wich Sophie aus. Sie verspürte absolut keine Lust, mit Martina über Jakob zu sprechen, das war für einmal etwas, das sie für sich behalten wollte.

      «Ach, wie immer. Ich habe gearbeitet, und das ist in Ordnung so», meinte Martina etwas betrübt. Sie mochte Sophie das schöne Wochenende von Herzen gönnen, aber irgendwie spürte sie einen Anflug von Neid auf Sophies unbekümmerten Lebensstil. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und sah die Morgenpost durch.

      Der Arbeitstag schien unendlich lang und wollte nie enden. Immer wieder dachte Sophie an Jakob. Dabei war sie absolut nicht verliebt, wenigstens redete sie sich das ein. Jakob war ein guter Freund und ein herrlicher Zuhörer. Basta! In der Mittagspause schrieb sie ihm eine Postkarte und bedankte sich für das wundervolle Wochenende, und damit war für sie dieser Ausflug erledigt. Als sie die Karte einwarf, fühlte sie sich erleichtert.

      Der Alltag hielt Einzug, die Erinnerung an das angenehme Skiwochenende verblasste immer mehr. Sophie und Martina hatten genug zu tun, auch ohne sich mit störenden Männergeschichten beschäftigen zu müssen. Zwischendurch erkundigte sich Martina nach den Tosser Freunden. «Hast du wieder einmal etwas von Jakob gehört?», fragte Martina eines Tages unvermittelt.

      Sophie, die gerade Reisepapiere ausfertigte, sah Martina völlig perplex an.

      «Wieso fragst du?»

      «Kam mir einfach so in den Sinn.» Martina wies auf einen Prospekt für Winterferien hin, der heute mit der Post gekommen war.

      Sophie schaute verwundert auf: «Du magst Wintersport? Das wusste ich gar nicht!»

      •••••

      Die Tage, Wochen und Monate plätscherten dahin. Eigentlich wäre Sophie im Frühjahr gerne nochmals nach Toss gefahren, aber irgendwie hatte es sich nicht ergeben, es war immer so viel los. Im Sommer nutzte sie eine günstige Gelegenheit, für zwei Wochen nach Teneriffa zu fliegen; wieder verschob sie den Gedanken an Toss. Im Herbst war sie für eine Studienreise nach Lanzarote eingeschrieben, und so blieb erneut keine freie Zeit mehr, um nach Toss zu reisen. Zu selten besuchte sie ihre Eltern. Ihr Leben war ihr schon wieder langweilig geworden. Manchmal schrieb sie Jakob und Gian eine Postkarte. In der hektischen Zeit der Reisesaison, die Sophie genau wegen des Trubels mochte, gestand sie sich endlich ein, dass sie Toss vermisste. Die Ruhe und die Abgeschiedenheit fehlten ihr öfter, als ihr lieb war. Allerdings würde sie dies nie zugeben.

      Die flippige und quirlige Sophie brauchte doch keine Ruhe! Es erinnerte sie an damals in Bern, als sie in der Bar arbeitete. Trotz aller Betriebsamkeit wurde sie stiller und