Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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Sophie los, behielt das Klingeln der Türglocke als Erinnerung im Ohr.

      Sie eilte leichtfüssig nach Hause, ein neues Abenteuer konnte beginnen. Noch blieb ein wenig Zeit, um zu packen und den neuen Mietern, zwei Psychologie-Studentinnen, den Schlüssel zur Wohnung zu überreichen. Sophie war froh, ihre Wohnung im Niederdorf behalten zu können, und die Studentinnen waren begeistert, eine Übergangslösung gefunden zu haben. Zumal die Wohnung in der Nähe der Uni lag und mitten in der Ausgehmeile der Stadt. In einem Jahr würden sie ihr Studium abschliessen, und dann wollte auch Sophie wieder zurückkehren.

      Es war ihr letzter Abend in Zürich. Aufgeregt und voller Vorfreude auf ihren neuen Lebensabschnitt ging sie aussergewöhnlich früh ins Bett. Sophie schlief schlecht und schreckte oft auf, denn keinesfalls wollte sie ihren Flug verpassen. Ein Blick auf den Wecker liess sie jeweils zurücksinken. Viel zu früh stand sie mit Sack und Pack am Flughafen und freute sich auf die feurige Energie der Insel. Sophie schien wie ausgewechselt. Die trübe Stimmung aus dem Reisebüro war verflogen: «Lanzarote, ich komme», schrie sie innerlich.

      •••••

      «Das Flugzeug nach Arrecife steht zum Einsteigen bereit», hörte sie endlich eine verzerrte Stimme aus der Lautsprecheranlage plärren. Kurze Zeit später schaute Sophie zum kleinen Fenster hinaus. Hoch über den Wolken flog sie der Sonne entgegen.

      Während des Fluges holte Sophie etwas Schlaf nach, sie erwachte erst kurz vor der Landung. Nach der Zollkontrolle nahm sie ihr Mietauto in Empfang und fuhr an den Touristenort Costa Teguise. Das Appartement hatte sie bereits von der Schweiz aus gebucht. Sollte es ihr nicht gefallen, würde sie etwas anderes suchen. Wie lange sie den Mietwagen behalten würde, wusste sie noch nicht. In den ersten Wochen waren Faulenzen, Lesen und Ruhe angesagt. Wenn auch Costa Teguise für ihren Geschmack etwas gar touristisch war, gewöhnte sie sich doch rasch an die unbeschwerte Ferienstimmung in diesem Dorf. Nach drei Wochen langweilte sie sich und beschloss, sich nach einer Arbeit umzusehen.

      Die kleine, praktisch eingerichtete Wohnung passte Sophie. Ein Gästebett stand ebenfalls zur Verfügung. «Vielleicht bekomme ich Besuch», mutmasste sie. «Jakob vielleicht oder Gian?» Mal sehen, sie liess sich überraschen.

      In der Carasbar mitten im Dorf trafen sich die Einheimischen, aber auch die Saisonangestellten, und Sophie fühlte sich mittendrin gut aufgehoben. César, ein etwas älterer, runder und gemütlicher Besitzer eines Busunternehmens, war oft Gast in der Carasbar.

      «He Juan, wer ist die junge Dame dort drüben?», rief César zum Barmann hinüber.

      «Meinst du die schöne Sophia? Sie kommt aus Suiza», gab Juan bereitwillig Auskunft.

      «Tuschelt ihr über mich?» Sophie kam zur Theke.

      «César will dich kennen lernen», lachte Juan.

      «So, so. Hier bin ich.»

      «Ich suche jemanden, der die Ausflüge durch die Vulkanlandschaft begleitet, und du sprichst deutsch?»

      «Ja, ich spreche deutsch, aber schlecht spanisch, und die Landschaft kenne ich auch noch nicht auswendig.»

      «Ist nicht ein Problem, andere sprechen gut spanisch und kennen die Landschaft», lachte César laut.

      «Sophia wird die Leute um den Finger wickeln», schäkerte Juan und strahlte Sophie an.

      César und Sophie wurden sich schnell einig, und so begleitete sie schon einige Tage später ihre ersten deutschen Reisegruppen durch Lanzarote.

      Es war Juni. Die Tage wurden länger, und Scharen von Feriengästen belagerten die Insel. Sophie gefiel es, Gäste durch die Vulkanlandschaft zu führen. Sie war beliebt, und dank ihrer charmanten und aufgestellten Art erhielt sie viele Komplimente und grosszügige Trinkgelder für ihre Arbeit.

      Ab und zu schrieb sie Martina eine Karte und schwärmte von der Insel. Keine Zeit für heissblütige Spanier. Keine Zeit, um Trübsal zu blasen. Sie hätte Martina gerne mehr geschrieben. Aber nachdem sie den Job bei César angenommen hatte, wurde ihre Arbeit ständig mehr, und sie kam nicht dazu, Martina ausführlicher zu schreiben. Am Anfang war es zweimal pro Woche, dass sie eine Rundfahrt begleitete. Aber es wurden immer mehr Fahrten, und so war sie bald öfter im Einsatz, als ihr lieb war. Martina vermittelte ihr ab und zu Gäste, sodass Sophie oft einen Gruss aus der Schweiz erhielt. Einmal brachte ihr eine ältere Dame, die bei Maruc Travel ihre Reise buchte, eine grosse Tafel Nussschokolade mit. Sophie war gerührt.

      Die Tage wurden kürzer. Es war noch warm, aber der Sommer war vorbei, die Aufträge gingen zurück, es wurde ruhiger auf der Insel. Die Feriengäste weilten längst wieder in ihrem Alltag.

      So blieb Sophie endlich Zeit für ihre fotografischen Streifzüge quer über die Insel. Die Sujets flogen ihr nur so zu. Zudem fand Sophie endlich wieder etwas Musse, um sich auszuruhen und ihren Gedanken nachzuhängen.

      Oft sass sie auf ihrer Lieblingsbank auf dem kleinen Platz vor dem Appartement, genoss den angenehmen Herbstabend. Sie freute sich auf die Winterzeit, denn der Winter in Lanzarote war wesentlich milder als in der Schweiz. Die Temperaturen betrugen rund 20 Grad am Tag, und der Regen hielt sich in Grenzen. In Toss würde schon bald der erste Schnee fallen. «Wie es wohl Jakob, Gian und meinen Eltern gehen mag?», sinnierte Sophie.

      «Ich bin Helga Adhira Hell. Ihre neue Nachbarin. Darf ich mich zu Ihnen setzen?»

      Sophie schrak aus ihren Gedanken auf. Ehe sie etwas sagen konnte, sass Helga Adhira Hell bereits neben ihr. Helga sprudelte wie ein Wasserfall. Sie liess Sophie keine Chance, etwas zu erwidern. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die seltsame Frau, die sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Das war im Moment wohl nicht von Interesse.

      «Wissen Sie, ich komme im Winter immer auf diese Insel, weil es so angenehm ist, jedes Jahr, um mich von meinem Alltag zu erholen. Ab Oktober leite ich Kurse hier in Lanzarote. Die spirituellen Menschen wollen mit geistiger Nahrung erfüllt werden. Besuchen Sie mich doch im Zentrum Adhira. Ich habe mir das Zentrum für spirituelle Lebensberatung vor einigen Jahren hier in Costa Teguise aufgebaut. Ein Kurs in Reiki würde Ihnen gut tun», sprudelte Helga Adhira Hell weiter.

      Das Zentrum war Sophie kein Begriff, und von Reiki hatte sie ebenso wenig Ahnung wie vom Geistheilen. Sophie lächelte und schwieg höflich.

      Sie betrachtete die grosse, blonde Helga aus den Augenwinkeln, während sie mit ihren Gedanken weit weg war. Helga Adhira Hell war ihr nicht geheuer, und eine innere Stimme mahnte sie, vorsichtig zu sein. Jedenfalls gelang es ihr nicht, den Wasserfall an Worten zu unterbrechen. Jedes Mal, wenn sie einen Anlauf nahm, etwas zu sagen, sprach Helga Adhira Hell schnell und laut weiter. Sie erzählte von ihren Kursen, von ihren Kunden, von ihrer Arbeit. Sie erzählte von ihrem Alltag in Hamburg. Sophie erfuhr, ohne es zu wollen, dass sie geschieden war und wohlhabend. Ihre beiden Kinder waren längst erwachsen und aus dem Haus, nur so konnte sie es sich leisten, ihre Zeit hier in Lanzarote zu verbringen, nie würde sie ihre Kinder alleine lassen! Sophie hörte nicht mehr zu, die vielen Worte schienen ihr belanglos und leer. Eigentlich hätte sie diesen Abend gerne für sich alleine verbracht.

      «Wenn doch diese aufgeblähte Schnepfe nur endlich verschwinden würde. Ich möchte endlich meinen Feierabend geniessen», dachte Sophie. Normalerweise würde sie so jemanden einfach vor die Türe setzen, aber es gelang ihr nicht. Zu tief war sie in ihren Gedanken verloren gewesen, bevor sich diese Frau ihr aufdrängte.

      Nach rund zwei Stunden konnte Sophie ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.

      «Oh, ich habe Sie doch nicht gelangweilt?» Pikiert sah Helga Adhira Hell Sophie an.

      «Nein, nein», erwiderte Sophie viel zu schnell.

      «Ich wollte sie nicht belästigen. Nun habe ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen. Ich bin müde, muss noch ein bisschen vorbereiten, und dann will ich noch lesen. Machen Sie auch nicht mehr zu lange, Kindchen, denn Sie müssen wohl morgen wieder früh raus.»

      «Ja, das stimmt, aber …», schwindelte Sophie.

      «Sehen Sie, ich wusste es doch, mir kann man nichts verbergen. Also schlafen Sie gut.» Helga Adhira Hell stand auf und