Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach

Sieben Berge


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auf Wolke sieben.

      Ein paar Jahre später, als die alten Andereggs das Bauern aufgaben und die Jungen den Erwerbsmöglichkeiten ins Tal nachzogen, richteten sich Vater und Mutter als Dauermieter in der Ferienwohnung im Chalet ein. Wenn die Andereggs im Tal unten waren, bei den Söhnen und Grosskindern, schaute Vater in der Casa zum Rechten. «Hauswart war schon immer mein heimlicher Traumberuf!», witzelte er, als wir zu einer seiner Dorfrunden aufbrachen. «Man könnte meinen, er sei zudem noch der Abwart im Hirschen drüben», frotzelte die Mutter, als sie sanft die Türe hinter uns schloss.

       Kapitel 3

      Mit den Jahren verschwamm mein Bild von Sophie. Ihre Stimme, ihre Lebendigkeit empfand ich unverändert. Doch ihre Gesichtszüge schienen zu verblassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Sophie als Dreissigjährige aussehen würde, wie sie sich kleidete, welche Musik sie hörte, was sie las, wie sie ging. Mein Leben schien mir banal, alles ging den gewohnten Trott, jahrein, jahraus. Ich beneidete Sophie darum, wie sie es geschafft hatte, auszubrechen. In mir wuchs ein ähnlicher Traum, weniger wild und wesentlich geordneter als Sophies ungestümer Ausstieg. Aber ein Leben lang Förderbänder? Ein Leben lang Pläne entwerfen, immer neu, schon, aber trotzdem immer dasselbe? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Gerne hätte ich mit Sophie darüber gesprochen. Aber wahrscheinlich hätte sie mir nur kräftig die Hand gedrückt und gelacht: «Bist immer noch nicht stärker geworden, Jakob?», wenn ich ihrem Druck nichts entgegenhalten könnte. Ich stellte mir vor, wie sie mit energischen Schritten und kopfschüttelnd weitergehen würde, einem neuen Abenteuer entgegen.

      Doch schon bald sollte ich Sophie treffen und meine Träumereien mit der Realität vergleichen können. Die Ski-Weltmeisterschaft in Bormio und die erfolgreiche Schweizer Skimannschaft trieben die halbe Nation begeistert auf die Pisten. Auch ich verschrieb mir ein paar Tage Abwechslung an der frischen Bergluft, natürlich in Toss. Die Eltern hatten ihre Absicht wahr gemacht. Aus den beabsichtigten zwei, drei Monaten im Jahr wurden immer längere Erholungszeiten vom Stadtleben, die beiden verbrachten eigentlich die meiste Zeit in den Bergen. Sie drängten mich, sie öfter im Dorf zu besuchen. Vater hatte sich nach und nach aus dem Geschäftsleben zurückgezogen. Er war bei den grossen Abschlüssen dabei, besuchte zwischendurch einen Geschäftsfreund oder einen wichtigen Kunden und ging an einen Anlass, wenn ich verhindert war. In die Geschäftsführung mischte er sich selten ein. Er stand aber immer und gerne mit Rat zur Seite, wenn ich ihn darum bat. Als Ausgleich zum monotonen Geschäftsalltag vertiefte ich mich in meine Erfindungen. Mehr als launische Spielerei entwickelte ich eine doppelte Wäscheklammer zur Serienreife und liess die Idee patentieren. Mit dieser frech gestalteten, bunten Wäscheklammer konnten zwei Wäschestücke gleichzeitig zum Trocknen aufgehängt werden, das sparte Material und vor allem Platz auf der Leine, so meine Verkaufsargumente, die aus einer Schnapsidee gewachsen waren.

      An einem Samstagmorgen im März, an den man sich noch Jahre später in Gesprächen im Hirschen als besonders kalt und schneereich erinnerte, erreichte ich das Dorf nur knapp vor einem heftigen Schneesturm. Die Schneeböen schoben mich im konturenlosen Hellgrau von der Haltestelle zur Casa Anderegg, zerrten knatternd an Windjacke und Hosen wie an einer Fahne im Sturm. Die Türe zum Windfang schlug hinter mir zu, ich konnte endlich Luft holen, mich aus den dicken Winterkleidern befreien und in die gut geheizte Casa treten.

      In diesem Jahr waren die alten Andereggs im Tal geblieben, die harten Bergwinter waren ihnen zu anstrengend geworden. Die alten Bergbauern waren, wie andere auch, endgültig hinunter ins Tal gezogen. Meine Eltern waren deshalb in die grössere, alte Wohnung der Andereggs gezogen und kümmerten sich jetzt um die Gäste in der Ferienwohnung. Vater schaute zum Haus, hielt die Heizung in Gang, schaufelte Schnee und drehte seine Runden, die ihm regelmässig einen Besuch im Hirschen ermöglichten. Er sah gut aus, die Tätigkeit an der frischen Luft tat ihm gut.

      Nach dem Mittagessen half ich Mutter beim Abtrocknen. «Wie früher», lächelte sie, «das war deine Aufgabe, Jakob.» Die gewohnte Vertrautheit stellte sich wieder ein. Wir fanden unseren Rhythmus in der engen Küche, arbeiteten einander in die Hand. Mutter klönte über dies und jenes, kaute die neuesten Dorfgerüchte durch. Sie schien zu einer der Dorffrauen geworden zu sein. Neuerdings gehe sie mit Vater Schneewandern, erzählte sie begeistert. Ja genau, mit den Tennisschlägern an den Schuhen, parierte sie meine Anspielung. Herrlich sei es entlang den stillen Hängen und durch den tief verschneiten Oberwald. Dann kam die Sprache auf Sophie.

      Man erzähle im Dorf, sie sei irgendwo im Schmelztiegel Londons gestrandet. «Stell dir vor, man sagt, sie singt in Nachtlokalen.» Mutters Abscheu vor solch sündigen Etablissements, die sie offenbar mit den Dorffrauen teilte, war deutlich herauszuhören. Nur wenig fehlte, und sie hätte sich bekreuzigt, wie es hier oben Sitte war, wenn es galt, Unheil abzuwenden. Als Mutter mein wachsendes Interesse am Thema bemerkte, lächelte sie schelmisch: «Du wirst Sophie morgen selber fragen können. Sie hat angerufen, sie brauche für ein paar Tage Heimatluft und ein paar Kubikmeter Schnee, hat sie gesagt. Ich habe ihr altes Zimmer für sie hergerichtet.

      Der Schneesturm hatte etwas nachgelassen. «Ich drehe noch eine Runde», rief ich vom Windfang her über die Schulter.

      «Wie der Vater, genau der Vater», rief mir Mutter nach.

      Genau, Vater stand mit Gian Piatt vor dem Hirschen. «Wie früher, exakt wie früher!», ereiferte sich Gian in weissen Atemwolken, die Hände in den Hosentaschen, mit einer schwarzen Zipfelmütze tief über die Ohren heruntergezogen. «Die machen doch nie etwas für uns hier oben.»

      Seit Mittag war die Strasse einmal mehr unpassierbar, das Postauto hatte es noch knapp ins Tal geschafft. Die Verwehungen bei der oberen Brücke würden erst morgen geräumt werden, wenn der schwere Schneepflug aus dem Tal den Weg nach Toss in Angriff nehmen konnte.

      «Unerhört! An uns denken sie immer zuletzt!», wetterte Gian.

      Vater winkte mir zu, legte den Arm um Gian: «Kommt, kommt, wir wollen schauen, ob die im Hirschen etwas Neues wissen.»

      «Aber da kommen wir doch gerade her?», wunderte sich Gian.

      «Aber Jakob noch nicht!», wurde er überzeugt.

      •••••

      Sophies Umzug von Bern nach Zürich war keine grosse Sache, ein Koffer, ein Rucksack, darin fand die gesamte Habe Platz. Mitten im lebendigen Niederdorf, in der Nähe des Predigerplatzes, entdeckte sie eine bezahlbare Einzimmerwohnung. Sie lag direkt neben der für ihr Musikprogramm berühmten Carltonbar. Es spielten bekannte und weniger bekannte Musikgruppen. Sophie genoss es, sich nach einem anstrengenden Tag bei einem Schlummertrunk in der Bar zu entspannen. Ab und zu besuchte sie einen Konzertabend, Schlafen konnte sie meist nicht vor Mitternacht, da die Konzerte oft bis weit in die Nacht hinein dauerten und die Bässe bis in ihre Wohnung hämmerten. Aber sie wusste dies bereits, als sie die Wohnung in der Altstadt besichtigte. Der Vermieter, ein dicklicher, nach Alkohol riechender älterer Herr, erklärte ihr: «Ruhig werden Sie es hier nicht haben, Frau Anderegg, aber Sie sind noch jung und haben sicher Spass an der lebendigen Umgebung.»

      Ihre Wohnung lag ausserdem in der Nähe ihres Arbeitsortes, dem Reisebüro Maruc Travel. Martina Maruc, die Besitzerin, war ausgesprochen nett und zuvorkommend. Beim Vorstellungsgespräch waren sich die beiden Frauen auf Anhieb sympathisch. Die hagere, gross gewachsene, sportlich-elegant gekleidete Martina und die eher freche, wilde Sophie schienen gut zueinander zu passen und freuten sich auf die gemeinsame Arbeit. Auch in einer Zeit, in der man froh war, qualifiziertes Personal zu finden, war Martina Maruc sehr wählerisch. Sie wusste, was ein gutes Team bedeutete. Hervorragende Beratung und Kundenfreundlichkeit waren eine Spezialität des Reisebüros, das als Geheimtipp galt.

      Die zwei Jahre ältere Martina interessierte sich nach einigen Enttäuschungen, über die sie schwieg, kaum noch für Männerbekanntschaften. Sie stellte ihre Arbeit in den Vordergrund, selbst wenn der Richtige käme, würde sie kaum Zeit für eine neue Partnerschaft finden.

      «Komm, du musst wieder einmal unter die Leute», pflegte Sophie Martina von der Arbeit weg zu locken. Nach einigen anfänglichen Protesten zogen die beiden Frauen dann doch ausgelassen wie Schulmädchen durch die Bars im Dörfli.

      Wenn