Kristina C. Stauber

Das Leuchten der Sterne in uns - Teil Eins: Aufbruch


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auf die Frage, sondern streckte ihre dreckigen kleinen Hände nach dem Buch aus. „Was ‘n das?“, wollte sie neugierig wissen. Eleonore seufzte. Für sie war es unverständlich, dass jemand, auch wenn er erst fünf Jahre alt war wie Ada, nicht wusste, was ein Buch war. Dann ermahnte sie sich selbst, nicht hochmütig zu sein. Sie hatte einmal, als sie und ihre Mutter gerade neu in die Stadt gekommen waren, entsetzt über die Art des Broterwerbs der Huren, eine abfällige Bemerkung darüber gemacht und sich laut gewundert, warum die Frauen nichts Ehrenwertes machten. Da war ihre Mutter, die sonst immer so besonnene Frau, aus der Haut gefahren und hatte ihr eine Standpauke darüber gehalten, dass Eleonore Glück gehabt hatte, dass ihr eine solche Bildung zuteilgeworden war, dass nicht jeder solch eine Gelegenheit im Leben gehabt hatte und dass sie sich nicht anmaßen dürfe, darüber zu urteilen, wenn sie nicht die Hintergründe kenne. Sie hatte Eleonore an den Grundsatz des Vaters erinnert, alles zu hinterfragen und nicht leichtfertig zu urteilen. Danach war sie aus dem Zimmer gerauscht. Eleonore war verdattert zurückgeblieben, aber die Worte ihrer Mutter hatte sie sich zu Herzen genommen. Wer war sie, dass sie darüber richtete, wenn jemand dazu gezwungen war, seinen Körper zu verkaufen? Bildung und damit der Weg zu einem anderen Broterwerb war ein Privileg! Und selbst sie, die viel wusste und noch mehr lernen wollte, verdiente doch ihr karges Leben auch bloß als Dienstmagd.

      Erst später hatte Tante Mary ihr erklärt, dass dieser Ausbruch der Mutter noch einen weiteren Hintergrund hatte: Die Schwestern Mary und Margaret hatten noch eine ältere Schwester gehabt: Mabel. Diese war nach einem Streit mit dem Vater mit einem Mann durchgebrannt und die Familie hatte fünf lange Jahre kein Lebenszeichen von ihr gehabt. Der Altersunterschied zwischen Mary, Margaret und Mabel war erheblich, so dass die beiden Schwestern die genauen Hintergründe damals nicht verstanden hatten. Sehr wohl verstanden hatten sie aber, was die fremde Frau, die eines Morgens an die Tür geklopft hatte, der Familie unverblümt und schonungslos mitteilte. Mabel war von dem Mann sitzen gelassen worden, ein Souvenir hatte er ihr aber dagelassen: Mabel hatte ein lediges Kind zur Welt gebracht. Da sie zu stolz gewesen war, um in Schande nach Hause zurückzukehren, und sich und das Kind durchbringen musste, war sie schnell den Verlockungen des scheinbar leichten Geldes erlegen und war Hure in einem der zahllosen billigen Freudenhäuser geworden. Das Kind hatte nicht lange überlebt. Die Fremde, die eine Leidensgenossin von Mabel war, hatte berichtet, dass Mabel immer Geld zur Seite gelegt hatte, da die Erkenntnis schnell gekommen war, dass sie auf Dauer nicht bleiben konnte, wo sie war, ohne daran zu zerbrechen. Sie war nicht mehr dazu gekommen, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen: Die Schwindsucht hatte sie erwischt, noch bevor sie ein besseres Leben beginnen konnte.

      Das war die traurige Geschichte, welche die fremde Prostituierte ihnen erzählt hatte. Mabel hatte ihr das Versprechen abgerungen, die Eltern zu suchen und es ihnen zu beichten und das gesparte Geld zu überbringen. Mary hatte immer gemutmaßt, dass nicht die ganze Summe angekommen war, aber das hatte auch keine allzu große Rolle mehr gespielt, denn Geld hatte den Verlust nicht aufwiegen können.

      „Ellono, was ist das?“, insistierte die fordernde, piepsige Stimme der kleinen Ada und riss Eleonore aus den Gedanken. Ada tat sich mit Eleonores Namen schwer.

      „Das, Ada, ist ein Buch. Da stehen Geschichten drin. Siehst du, die Zeichen hier sind alles Buchstaben und sie bilden Wörter. Und die Wörter bilden Sätze und daraus wird eine Geschichte“, erklärte sie der Kleinen. Die sah sie vertrauensvoll aus großen Kinderaugen an. „Ui, ich mag Geschichten! Erzählst du mir welche?“, bat sie.

      „Na, dann komm her, du kleiner Racker.“ Eleonore klopfte auf den Platz neben sich. Sie überlegte kurz und fing dann an, der Kleinen aus „Reise um die Erde in 80 Tagen“ vorzulesen. Diese schmiegte ihren mageren Körper an Eleonore und hörte gebannt zu. Jedoch wurde sie bereits nach einigen Sätzen unruhig und rutschte hin und her. Eleonore unterbrach die Lektüre und schaute Ada fragend an.

      „Ellono“, piepste die Kleine, „ist das alles da drin? Ich will wissen, wie das geht!“, sagte sie energisch.

      „Wirklich, Ada?“ Eleonore schaute erstaunt auf das Kind herunter und war begeistert. Mit einem Mal sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie der Kleinen das Lesen und Schreiben und vielleicht auch noch Rechnen lehren würde.

      Vielleicht würde das Ada eines Tages ermöglichen, einem anderen Broterwerb als ihre Mutter nachzugehen!

      „Wenn du möchtest, Ada, bringe ich dir gerne die Bedeutung der Buchstaben bei, dann kannst du irgendwann selbst lesen.“

      „Au ja, fein!“

      Eleonore nahm ein Stöckchen zur Hand und begann, die erste Lektion ohne zu zögern gleich dort in den Sand zu zeichnen.

      Ada war wissbegierig und nahm schnell auf. Eleonore war ganz in ihrem Element. Schon bei Jane hatte ihr die Wissensweitergabe viel Freude gemacht und mit der neuen kleinen gelehrigen Schülerin bestätigte sich ihre Vermutung wieder, dass ihr das Lehren am Herzen lag.

      Als sie später darüber sinnierend die Treppen hochstieg, hörte sie aus der Wohnung der Tante lautes Geschrei. Entsetzt eilte sie hinüber.

      Tante Mary saß am Tisch, das Gesicht in den Händen verborgen, während Onkel Wilbur dem zappelnden Peter eine gehörige Tracht Prügel verpasste und dabei laut schrie. Eleonore zuckte zusammen. Körperliche Züchtigung war durchaus üblich, aber nicht in ihrer Familie. Wie versteinert blieb sie in der Tür stehen. Das Geschrei ihres Onkels ergab keinen Sinn. Was war hier los? Noch bevor sie sich einen Reim auf die Szene machen konnte, riss Peter sich plötzlich los, als Wilbur den Griff etwas lockerte, und rannte mit trotzigem Geheul aus der Tür. Mary sah mit rotgeränderten Augen auf, während Peter mit voller Wucht gegen Eleonore prallte. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Dieser Augenblick genügte Peter, um Eleonore zur Seite zu stoßen und aus der Tür hinaus zu fliehen. Mary machte einen halbherzigen Versuch, ihm hinterher zu laufen, aber als der Stuhl polternd hinter ihr zu Boden fiel, war es, als ob alle Energie aus ihr wich und sie blieb nur hilflos mitten im Raum stehen.

      Dann schaute sie zu Wilbur hinüber. Der sonst so ruhige Onkel explodierte regelrecht: „Schau mich nicht so an! Er hat nur bekommen, was er verdient. Das war mehr als ein dummer Jungen-Streich! Das hätte mich die Anstellung kosten können!“ Auch er stürmte an Eleonore vorbei nach draußen.

      „Mary, was um alles in der Welt geht hier bloß vor sich?“, fragte Eleonore vorsichtig. Die Tante schüttelte nur den Kopf, stellte den Stuhl wieder zurecht und machte sich am Herd zu schaffen. Eleonore sah jedoch, dass ihr schon wieder die Tränen kamen, denn Marys Schultern begannen zu zucken.

      Eleonore trat zu ihr hinüber, fasste sie an den Schultern und führte sie sanft wieder an den Tisch, drückte sie auf den Stuhl. Sie war überfordert, denn sie wusste nicht, was die ganze Aufregung verursacht hatte. Und nie hatte es bisher eine Situation gegeben, in der sie die Tante hatte Schwäche zeigen sehen.

      Nach mehreren Versuchen gelang es ihr endlich, den Grund der Aufregung herauszufinden: Peter hatte mit einer Gruppe älterer Burschen wohl einen Überfall auf eine der Kutschen geplant, die vom Fuhrunternehmen betrieben wurden, für das Wilbur arbeitete. Die Burschen, zwei, drei Jahre älter als Peter selbst, waren Kleinkriminelle und dafür bekannt, dass sie immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Wie Peter sie kennengelernt hatte, wusste Mary nicht. Scheinbar hatten sie ihm mächtig imponiert und er war naiv genug gewesen, Details wiederzugeben, die Wilbur am heimischen Tisch erzählt hatte. Solche pikanten Informationen, wie die Tatsache, dass hin und wieder Geld in nicht unbeträchtlichen Summen auf gewissen Routen transportiert wurde. Peter hatte damit vor seinen Freunden geprahlt und die hatten seine Naivität ausgenutzt. Als Peter seinen Vater ungeschickt und zu detailliert über die Routen und Summen ausgefragt hatte, war dieser hellhörig geworden. Ihm war schon zuvor aufgefallen, dass sein Sohn seit einiger Zeit viel zu spät nach Hause gekommen war, und das ein oder andere Mal schien er nach billigem Fusel gerochen zu haben.

      „Weißt du, das Schlimmste ist, ich hatte auch die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber was hätte ich denn tun sollen? Ich dachte halt, es ist das Alter, da werden sie schwierig. Und ich habe weiß Gott auch so genug Sorgen...“ Mary verstummte und starrte vor sich hin. Als Wilbur dann an diesem Abend auf dem Nachhauseweg Peter mit der Gruppe der Burschen hatte herumlungern sehen, zu einer