Siri Lindberg

Lilienwinter


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      Absichtlich hatte sie einen Rastplatz in der Nähe eines Nussbaums gewählt. Ihre Stute Damaris war gerade dabei, friedlich Blätter davon abzurupfen. „He, was bist du denn für eine? Schmeckt dir das wirklich?“, fragte Jerusha lachend. Jetzt wirkte ihr Pferd völlig ruhig und ausgeglichen, vielleicht hatte ihm gestern einfach nicht gefallen, bei Nacht draußen zu sein.

      Nachdem sie mit Hilfe der Nussschalen Rawelhas Pferd in ein normal gefärbtes Tier verwandelt hatten, ritten sie weiter und erreichten tatsächlich schon am frühen Nachmittag die Grenze nach Benaris. Wachen gab es hier keine. Ein paar verwitterte Grenzsteine, mehr war nicht zu sehen, denn zwischen den beiden Fürstentümern herrschte schon seit längerer Zeit Frieden. Bis zum Wald von Atordar, zum Ort des angeblichen Zwischenfalls, waren es noch etwa drei Tagesreisen.

      Jerusha und Kiéran hatten beschlossen, die erste Nacht draußen zu verbringen, damit sie und die Eliscan sich in Ruhe aneinander gewöhnen konnten. Bei Dämmerung suchten sie sich eine Lichtung im Wald, um dort ihr Lager aufzuschlagen. Die Eliscan blickten zwar drein, als wären sie am liebsten noch weiter geritten, doch Jerusha war so müde, dass sie immer wieder im Sattel einnickte. Damaris entging das anscheinend nicht, denn jedes Mal begann sie zu tänzeln, als wolle sie sie aufwecken.

      Diesmal war es Qedyr, der half, das Feuer vorzubereiten. Jerusha fühlte sich noch ein wenig eingeschüchtert von seiner Gegenwart – nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie einmal Seite an Seite mit einem Eliscan-König Holz sammeln würde!

      „Ihr seid Bildhauerin, habe ich erfahren?“, meinte er freundlich, vielleicht um ihr die Scheu zu nehmen.

      Jerusha nickte. „Ja, und deshalb habe ich mir auch etwas ausgedacht – ich werde als Erinnerung an diese ganz besondere Reise bei jedem Nachtlager ein Zeichen in einen Stein in der Nähe meißeln. Lilie und Drachen, wenn Ihr einverstanden seid.“

      „Bin ich. Das klingt nach einer ausgezeichneten Idee“, sagte Qedyr, zerrte einen toten Baum aus dem Gebüsch und zerlegte ihn mit gezielten Fußtritten auf handliche Größe. Doch eins der Stücke war zu dick, sein Fuß prallte immer wieder ab. „Zarre Mak!“, schimpfte er leise, und Jerusha lächelte, anscheinend hatte sie gerade ihren allerersten Eliscan-Fluch gelernt.

      Rawelha fiel es sichtlich schwerer, sich zu entspannen – sie versuchte nicht, sich mit ihnen zu unterhalten, behielt Qedyr immer in Sichtweite und wirkte unruhig. Ihrer Haltung nach erwartet sie, dass jeden Moment ein Trupp Soldaten aus dem Gebüsch springt ...

      Colmarél übernahm es, aus dem Proviant der Eliscan einen Eintopf zu kochen. Zwar hatte Jerusha keine Ahnung, was darin war, und die violette Farbe schreckte sie etwas ab, doch er schmeckte himmlisch, scharf-würzig und süß zugleich. Besonders lecker war es zusammen mit dem flachen Brot aus gemahlenen Nüssen, das Colmarél aus seinen Satteltaschen zum Vorschein brachte. „Köstlich“, sagte Kiéran und ließ sich einen Nachschlag geben.

      Nach dem Essen plauderten sie noch etwas, dann zog sich Kiéran für seine täglichen Übungen ein Stück in den Wald zurück. Jerusha sah ihn nicht mehr, es war zu dunkel, doch die Augen der Eliscan waren anscheinend sanftes Mondlicht gewohnt. Immer wieder schauten sie, während sie sich mit Jerusha unterhielten, in Kiérans Richtung, blickten sich dann an und nickten beifällig. Besonders die stille Rawelha wirkte zum ersten Mal neugierig.

      „Der Lin´tháresh macht das sehr gut“, sagte Colmarél zufrieden. „Wusstet ihr, dass Silmar ihn im Zweikampf nicht besiegen konnte?“

      „Mir scheint, er ist ein ungewöhnlicher Mensch“, sagte Qedyr. „Aber ich kenne nicht viele Menschen, möglicherweise irre ich mich.“

      „Nein, Ihr irrt Euch nicht“, sagte Jerusha, und ihr Herz klopfte stolz und warm.

      ***

      Nach dem langen Ritt fühlte es sich gut an, seinen Körper zu strecken – und ja, auch einen Moment allein sein zu können. Kiéran entschied, als Drill diesmal den Ardosth Carh durchzugehen, einen Schwerttanz, den er vor einigen Jahresläufen in Larangva gelernt hatte. Er nahm die Anfangpose ein – Schrittstellung, das Schwert mit beiden Händen horizontal in Kopfhöhe gehalten – sammelte seine Gedanken und spannte jeden Muskel an. Dann glitt er hinein in die Bewegung, und die Klinge war ein Teil von ihm.

      Nach den Übungen wusch sich Kiéran an einem Bach in der Nähe und kehrte ans Lagerfeuer zurück, wo die Eliscan beieinander hockten und sich leise unterhielten. Ein Stück entfernt unter einer Pinie schrieb Jerusha anscheinend einen Brief und sandte ihn mit einem Botenvogel ab, dann breitete sie ihren Umhang aus. Ihre Bewegungen waren langsam und kraftlos, wahrscheinlich war sie zum Umfallen müde.

      Kiéran wünschte den anderen heitere Träume, obwohl er nicht wusste, ob Anderwesen überhaupt träumten, und überprüfte kurz, ob es den Pferden gut ging. Dann richtete er neben Jerusha sein Nachtlager. „Wem hast du geschrieben, deiner Schwester?“, fragte er.

      Sie nickte. „Wenn Liri nicht wäre, würde ich meine Familie gar nicht vermissen – ist das nicht ein furchtbarer Gedanke?“

      Kiéran zuckte die Schultern. Seine Eltern waren schon seit einigen Jahren tot, und Geschwister hatte er keine. Anscheinend fiel Jerusha das nun auch ein, denn sie sagte rasch: „Entschuldige, das war taktlos ... du hast ja nicht mal eine Familie, die du vermissen könntest, das ist viel schlimmer.“

      Sie küssten sich kurz und etwas verlegen, weil sie nicht wussten, ob die Eliscan sie beobachteten, und rollten sich eng beieinander in ihre Decken.

      Doch es fühlte sich eigenartig an, unter den Blicken der Eliscan schlafen zu müssen; obwohl Kiéran erschöpft war, schaffte er es nicht wegzudämmern. Vielleicht hat etwas in mir sie immer noch als Feinde eingestuft, und in Gegenwart von Feinden schläft man nicht.

      „Sind sie immer noch wach?“, flüsterte er Jerusha ins Ohr.

      „Ja“, hauchte sie zurück.

      „Ist es nicht toll, wie sie auf uns arme, schwache Menschen Rücksicht nehmen?“

      Jerusha seufzte ganz leise. „Sie sehen auf den ersten Blick aus wie wir … aber sie sind doch ganz schön anders.“

      Mit offenen Augen blickte Kiéran in die Dunkelheit, deshalb merkte er, dass sich der Schattenspringer näherte – als er ihn zum ersten Mal bemerkt hatte, hatte er sich auf dieses silberne Wabern der Luft keinen Reim machen können.

      „Grísho, alles in Ordnung?“, fragte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, doch der Schattenspringer hörte es. Seine Stimme war wie ein Windhauch in den Bäumen, als er antwortete.

      „Soll ich sie für euch belauschen?“

      „Nein!“, sagte Jerusha erschrocken und lauter als nötig. Alarmiert legte Kiéran ihr eine Hand auf den Mund. Empört ergriff Jerusha seine Hand und zog sie weg. Na toll. Womöglich dachten die Eliscan jetzt, dass er seiner Gefährtin Gewalt antun wollte!

      Innerlich seufzend drehte er sich auf den Rücken und starrte in den Himmel, in dem er nie wieder Sterne sehen würde. Grísho und Jerusha unterhielten sich noch einen Moment lang fast unhörbar, dann wandte sich Jerusha wieder ihm zu. „Schlaf jetzt“, wisperte sie und küsste ihn rasch. „Alles wird gut.“

      Das sollte wahrscheinlich ein Witz sein.

      Leider war Kiéran gerade nicht nach Lachen zumute.

      Der Schrecken der Gast­häuser

      Jerusha arbeitete rasch – sie wollte nicht riskieren, dass jemand vorbeikam und sie hörte. Mit genau dosierter Kraft ließ sie den Hammer auf das schmale Eisen niedersausen, das sie in der rechten Hand hielt, und meißelte die Konturen von Lilie und Drachen aus dem Granit. Das Zeug war verdammt hart, aber ein anderes Gestein gab es hier nicht.

      Schon zum dritten Mal brachte sie unterwegs das Zeichen an, drei Tage lang waren sie nun unterwegs. Und langsam wurde es ernst. Sie waren bereits im Wald von Atordar, und das Dorf Oordak, wo sich angeblich der Zwischenfall mit den verletzten Eliscan ereignet hatte,