Siri Lindberg

Lilienwinter


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den Grenzstein neben der Straße, fand ihr Gleichgewicht wieder, rannte weiter. Hoffentlich kam sie noch rechtzeitig! Atemlos umrundete sie den Hof, und tatsächlich, hinter dem Haus stand gerade ein Mann, ließ mit wutverzerrtem Gesicht einen Stock durch die Luft pfeifen und wollte ihn gerade auf die Nachtlilien niedersausen lassen. Ihre Nachtlilien!

      „Halt!“ brüllte Jerusha, und weil sie wusste, dass das normalerweise nicht viel nützte, rannte sie einfach weiter. Als sie zwischen dem Fremden und ihren Lilien stand, griff sie mit beiden Händen nach dem Stock und zerrte daran. Verbissen rangen sie um das Stück Holz.

      „Was soll das?“, keuchte der Mann halb wütend, halb verblüfft. „Lass los, du miese Viper!“

      Jerusha hatte nicht die Absicht, das zu tun. „Warum wolltet Ihr auf die Blumen einschlagen?“, schoss sie zurück. „Ghalils Schande, die haben Euch nichts getan!“

      Es wirkte, der Kampfgeist wich aus dem Fremden und er lockerte unwillkürlich seinen Griff. Mit einem Ruck riss Jerusha ihm den Stock weg. Nun wirkte der Fremde ein wenig verwirrt, so als wisse er selbst nicht mehr so recht, warum er eigentlich hier sei. „Warum?“, wiederholte er und runzelte die Stirn. „Nun…“

      „Ja, genau“, sagte Jerusha kampflustig. „Warum wolltet Ihr das tun?“

      Sie erwartete keine Antwort. Es kam nie eine, die auch nur annähernd Sinn machte.

      „Shani, bist du das?“ Schnelle Schritte näherten sich, und Liriele, ihre jüngere Schwester, bog leichtfüßig um die Ecke, über der Schulter wie so oft den Bogen. Hoch aufgeschossen und schlank stand sie im Gegenlicht, das aus den Fenstern des Hofs fiel. Obwohl sie sonst so übermütig war wie ein Fohlen, erkannte sie sofort den Ernst der Lage. In einer einzigen fließenden Bewegung nahm sie den Bogen von ihrer Schulter, nockte einen Pfeil auf, spannte die Sehne und zielte auf den Fremden. „Besser, Ihr verschwindet – und lasst Euch nie wieder hier sehen!“

      Erschrocken murmelte der Mann einen Protest und machte gleichzeitig einen Schritt nach hinten, dann noch einen und noch einen. Er verschwand hinter der Hütte, und sie hörten, wie er sich hastig entfernte.

      Liri strich sich eine kurze, blonde Strähne aus der Stirn. Ihre Haare waren noch feucht vom Waschen. „Oh, Shani, schon wieder einer. Kann es sein, dass es mehr werden?“

      „Scheint fast so“, sagte Jerusha. „Danke, Liri, du bist genau zur rechten Zeit gekommen.“

      Sie überprüfte, ob ihren Nachtlilien etwas geschehen war. Zum Glück hatten sie nur ein paar Blätter verloren – das, was geknickt am Boden lag, war hauptsächlich Gras. Die zwölf handlangen, in einem dunklen Violett schimmernden Blüten waren unversehrt, und ihr herrlicher Duft, den sie nur nach Einbruch der Dunkelheit verströmten, stieg Jerusha in die Nase. Es ist ein Duft, der nicht von dieser Welt ist. Das ist sicher auch der Grund, warum manche Leute die Nachtlilien hassen, ohne selbst zu wissen wieso! Die Feindschaft zwischen Menschen und Eliscan geht tief.

      „Komm, wir gehen wieder rein“, sagte Jerusha und lächelte ihre Schwester an, die noch immer den Bogen hielt. Liri hatte das Talent der KiTenaros geerbt – ihr Clan hatte schon viele berühmte Bogenschützen hervorgebracht. „Warum wartest du mit dem Üben nicht, bis deine Haare trocken sind? Brauchst du gerade eine Erkältung?“

      Liri verdrehte die Augen. „Führ dich nicht auf wie Mama!“

      „Fängt das jetzt an mit den Widerworten?“ Jerusha knuffte ihre kleine Schwester. „Alle haben mich gewarnt, dass Kinder in diesem Alter grauenvoll frech werden.“

      „Gute Idee“, meinte Liri heiter, und sie gingen zusammen ins Haus; Jerusha wollte kurz ihre Mutter Myrial begrüßen. Doch auch diesmal war das keine angenehme Erfahrung, ihre Mutter beachtete sie kaum. Ihr Blick war teilnahmslos, ihr Gesicht blass, ihre dunklen Locken stumpf – für sie hatte sich nicht viel geändert dadurch, dass der Fluch aufgehoben war. Es ließ sich ja nicht mehr rückgängig machen, dass sie unter dessen Einfluss versucht hatte, ihren Mann – Jerushas Vater Josuan – zu töten.

      Schon nach kurzer Zeit im bedrückenden Schweigen sagte Jerusha „Ich gehe dann mal wieder“, denn es war spät, sie hatte bohrenden Hunger und die beiden hatten längst gegessen. Zum Glück hatte wenigstens Kiéran auf sie gewartet. Er hatte mit Kräutern eingeriebenen Lammrücken und Pristanbohnen gekocht, die Hälfte hatte er vorhin bei ihrer Familie vorbeigebracht. Für beides bekam ihr Gefährte einen dankbaren Kuss.

      „Es war ziemlich knapp mit den Nachtlilien vorhin“, erzählte Jerusha ihm, während sie ihren Anteil vertilgte. „Wieder jemand, der sie zerstören wollte.“

      „Verdammt“, entfuhr es Kiéran.

      „Liri hilft mir dabei, sie zu hüten“, versicherte ihm Jerusha. Sie wusste, dass Kiéran diese Blumen inzwischen fast so viel bedeuteten wie ihr selbst.

      Kiéran nickte und wechselte das Thema. „Morgen ist Jilderstag, da ist in Mandeth Pferdemarkt, habe ich gehört. Ich würde vorschlagen, wir gehen hin, du brauchst endlich wieder ein eigenes Pferd.“

      Jerusha ließ die Gabel sinken, ihr war der Appetit vergangen. Das stimmte, ohne Pferd konnte sie eine solche Reise wie die mit dem Eliscan-König nicht antreten – nur Geld hatte sie leider kaum noch. Werde ich die letzten meiner Skulpturen, die ich selbst besitze, verkaufen müssen?

      „Was ist los?“, fragte Kiéran beunruhigt. Jerusha wusste, dass er keine Gesichtsausdrücke erkennen konnte, auch den ihren nicht, deshalb musste er oft herumrätseln oder ihrer Stimme ablauschen, was sie bewegte.

      „Ein Pferd ist teuer“, brachte Jerusha nur heraus.

      Kiéran schüttelte den Kopf. Er ging zu einer Truhe im Wohnraum, klappte sie auf und tastete herum, bis er einen Lederbeutel fand. „Stell mal die Teller weg“, bat er sie, dann kippte er den Inhalt des Beutels auf den Tisch, und ein Strom von Silbermünzen ergoss sich auf die Holzplatte.

      Jerusha schnappte nach Luft, sie hatte nicht gewusst, dass er so viel Geld in ihrer Kate aufbewahrte – und meistens verriegelten sie nicht mal die Tür, wenn sie gingen! Die Münzen waren alle frisch geprägt und trugen auf der einen Seite den Kopf des Fürsten AoWesta, auf der anderen das Symbol Ouendas, einen Brunnen, der von einem Wasserdrachen geschützt wird. Es musste das Geld sein, das er bei seiner ehrenhaften Entlassung aus den Diensten AoWestas bekommen hatte.

      Kiéran tastete nach den Münzen, teilte den Stapel in zwei ungefähr gleich große Haufen und schob ihr einen davon zu. „Hier. Ich habe genug von dem Zeug. Das Erbe meiner Eltern habe ich bisher nicht mal angetastet.“

      Lange starrte Jerusha auf das Geld, und das Bild vor ihr verschwamm, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nein, meine Familie muss sich diesmal nicht von wässriger Kräutersuppe ernähren, während ich weg bin. Und ich muss nicht auf dem Boden schlafen und Äpfel aus fremden Obstgärten stehlen.

      „Jetzt sag mir bitte nicht, dass du sowas nicht annehmen kannst, sonst muss ich dich leider schlagen“, sagte Kiéran, ohne eine Miene zu verziehen.

      Jerusha sprang auf, fiel über ihn her und küsste ihn, bis ihnen beiden die Luft ausging.

      ***

      Als sie ankamen, herrschte auf dem Marktplatz schon reger Betrieb, der Geruch von Tieren und feuchtem Stroh hing in der Luft. Kiéran sah nicht sonderlich viel von den Pferden, sie traten kaum aus der Dunkelheit hervor, weil das Oscurus, das seinem Amulett die Kraft verlieh, sie anscheinend nicht als wichtig erachtete. Doch er konnte sich vorstellen, wie es hier aussah – Braune, Rappen, Füchse, Großpferde und Ponys in allen Farben und in jedem Stockmaß. Wahrscheinlich standen Hunderte von Tieren hier, während ihre Besitzer neben ihnen auf Käufer warteten. „Ganz schön was los hier“, bestätigte ihm Jerusha.

      Schräg von vorne hörte er Schnauben und das scharfe Geräusch von Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster. Ein paar Meter weiter wieherte ein Pferd, dem Klang nach begrüßte es einen Stallgefährten. Und überall unterhielten sich Menschen, fachsimpelten, handelten, berieten sich. Kiéran lauschte mal hier, mal dort einen Moment lang und lächelte, als er jemanden hörte,