Siri Lindberg

Lilienwinter


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mehr alles zu riskieren. Inkognito schmuggelt sie sich in einen Tempel der Schwarzen Spiegel ein und verschafft sich mit einer List ein neues Amulett.

      Zum Glück weiß der Drache Koriónas, der noch immer über sie wacht, wo Kiéran sich aufhält – und Jerusha macht sich auf den Weg zu ihm. Um ihm das Amulett zu geben und ihm zu sagen, wie leid ihr alles tut. Ihr wird klar, dass sie viel zu lange damit gezögert hat, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Über ihre einstigen Heiratspläne mit Dario. Die bislang ungesühnte Vergewaltigung. Und ihre Gefühle für ihn, Kiéran.

      Erst will Kiéran nicht mit ihr sprechen, doch dann beginnt er, ihr zuzuhören, sie reden lange. Nun ahnt Kiéran, was bei den Eliscan geschehen ist, dass Aláes Jerusha erpresst hat. Und er merkt, wie heftig er sie vermisst hat.

      Dass er wieder sehen kann, ist diesmal ihr Geschenk, nicht das der Priester.

      Nach diesem Tag gibt es wieder Hoffnung für ihre Liebe ... aber kann es eine gemeinsame Zukunft für Jerusha und Kiéran geben? Die Gefahr eines Krieges ist nicht gebannt. Und ihr Feind Aláes plant schon seine Rache.

      Ein Stück Unsterblichkeit

      Als Jerusha ihrer Großmutter erzählte, dass der Fluch von ihrem Clan genommen worden war, sagte ihre Großmutter nicht viel. Sie nickte nur und atmete aus, lang und ein wenig zittrig. „Wie hieß er?“, fragte sie. „Dieser Fremde, mit dem ich mich damals im Gasthaus gestritten habe? Der den Fluch über uns gebracht hat?“

      „Aláes“, sagte Jerusha leise. Es war nicht leicht, diesen Namen auszusprechen, alles krampfte sich in ihr zusammen vor Furcht und Hass, wenn sie es tat.

      Ihre Großmutter nickte wieder. Sie hob den Kopf und blickte Jerusha an mit Augen, in die ganz langsam ein Lebensfunke zurückkehrte. Ihre faltige, trockene Hand schloss sich um Jerushas Finger, drückte sie sanft.

      „Ich danke dir“, sagte ihre Großmutter, dann stand sie auf und ging nach draußen, in den Garten des Hofes, in dem Jerusha mit ihrer Mutter und Schwester lebte. Verwirrt blickte Jerusha ihr nach, und kurz darauf hörte sie das Gackern der Hühner, das Prasseln von Körnern auf der Erde. Wieso war sie einfach gegangen, wieso fing sie an, so spät am Abend die Hühner zu füttern? Wollte sie nicht hören, wer dieser Aláes war und was Jerusha im Reich der Eliscan erlebt hatte?

      Ihre Schwester Liriele begann wieder, sie mit Fragen zu bestürmen. Jerusha erzählte und erzählte, es wurde immer später und irgendwann verabschiedete sich ihre Großmutter, um in ihre eigene, ein paar Häuser entfernte Kate zurückzukehren.

      Am nächsten Tag hörte Jerusha von draußen ein eigenartiges Geräusch, war es eine Melodie? Vorsichtig lugte sie in den Gemüsegarten ihres Hofs, über dem die Herbstsonne schien. Ihre Großmutter jätete Unkraut und mit brüchiger Stimme sang sie dabei ein Volkslied vor sich hin. Jerusha staunte; noch nie hatte sie ihre Mutter oder Großmutter singen hören. Sie lauschte einen Moment lächelnd und zog sich dann lautlos zurück.

      Zwei Wochen später, als sie selbst ihr Glück wiedergefunden und mit Kiéran ins Dorf zurückgekehrt war, besuchte Jerusha ihre Großmutter in deren Kate.

      Sie fand sie auf einer Holzbank in der Sonne sitzend vor, ein Lächeln auf dem Gesicht. Jerushas Gruß erwiderte sie nicht, und um ihre Gestalt war eine eigenartige Stille. Sofort wusste Jerusha, was geschehen war. Sie setzte sich neben ihre Großmutter, nahm ihre Hand, die sich trotz des Sonnenscheins kühl anfühlte, und sprach mit gesenktem Kopf das Geleit des Par Teriada für Kala KiTenaro. Vielleicht hatte sie schon sehr lange darauf gewartet, gehen zu können. So lange, bis sie wusste, dass das Unheil ihre Lieben von nun an verschonen würde.

      In dieser ehemaligen Kate ihrer Großmutter lag Jerusha nun in ihrem neuen Bett, das ihnen ein Nachbar aus Kulmenholz gezimmert hatte. Sie atmete den würzigen Duft frischen Holzes ein, lauschte in sich hinein und fühlte, dass ihre Trauerzeit vorbei war. Stattdessen erfüllte sie ein tiefes Glücksgefühl, während sie Kiérans Atemzügen neben sich lauschte. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass er hier bei ihr war, dass ihre Liebe die Zerreißprobe überstanden hatte. Jeder Moment mit ihm war kostbar. Weil sowieso bald die Sonne aufgehen würde, kuschelte sie sich an seinen Rücken und legte den Arm um ihn. Wie immer war er auf der Stelle hellwach. Er drehte sich zu ihr um, küsste sie und zog sie an sich.

      „Gut geschlafen?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

      Kiéran seufzte und schüttelte den Kopf. „Hab wieder die halbe Nacht wachgelegen und darüber nachgedacht, wie wir die Verteidigung organisieren könnten.“

      Jerusha nickte, und die Leichtigkeit verließ ihr Herz wieder. Damit ihre Großmutter in Frieden gehen konnte, hatte Jerusha ihr verschwiegen, dass ihnen allen etwas viel Schlimmeres drohte als ein Fluch. Wenn die Eliscan, die unsterblichen Wesen aus dem Nachbarland Khorat, an ihren Plänen festhielten, Ouenda zu erobern, dann lag die Welt, die Jerusha kannte, bald in Trümmern.

      „Vielleicht überlegen die Eliscan es sich nochmal anders – schließlich hat Aláes doch bekommen, was er wollte“, meinte Jerusha schwach.

      „Würdest du darauf dein Leben verwetten? Und das deiner Schwester?“ Kiéran glitt aus dem Bett, streckte seinen langen, sehnigen Körper, strich sich mit gespreizten Fingern durch seine schulterlangen dunkelbraunen Haare und ging zur Waschschüssel. Er fand sich dank seines magischen Amuletts so gut zurecht, dass Fremde selten merkten, dass er eigentlich blind war.

      „Rattendreck, nein, ich verwette gar nichts“, sagte Jerusha, sie richtete sich auf und setzte die Füße auf den abgenutzten Webteppich, der den Boden bedeckte. „Sag mir einfach, wie ich helfen kann, ja?“

      Sie wusste, dass Kiéran jede Minute des Tages, die er nicht mit ihr zusammen war, dazu nutzte, die wehrfähigen Männer und Frauen des Dorfs zu drillen und mit ihnen Verteidigungspläne durchzusprechen. Außerdem saß er bis spät in der Nacht am Tisch im Wohnraum, um all die Nachrichten zu beantworten, die ihn auf seine Warnungen hin erreichten – von Stadtkommandanten, Priestern, Fürstenhöfen. Da es ihm trotz des Amuletts schwer fiel, Schrift zu erkennen, halfen sie ihm abwechselnd dabei. Sogar Liri, die jetzt dreizehn Sommer alt war und deutlich lieber den Bogen spannte als Zeilen auf Pergament kritzelte. Jerushas Schwester und ihre Mutter hatten Kiéran längst ins Herz geschlossen, und nicht nur, weil er kommentarlos das anstrengende Holzhacken und Wasserholen übernommen hatte.

      Während Kiéran seine Sachen überstreifte – schwarzes Hemd, sandfarbene Hose, weiche Lederstiefel – blickte er zu ihr herüber, und einen Moment lang wurden seine Züge weich. „Pass auf die Nachtlilien auf, so wie bisher. Ich glaube, das ist fast wichtiger als alles andere. Du weißt, was den Eliscan die Dinger bedeuten.“

      „Die Dinger!“ Jerusha schnaubte, und Kiéran schickte ihr ein schnelles Grinsen. Er zog sie mal wieder auf, in Wirklichkeit achtete er die Nachtlilien ebenso wie sie. Ein Dutzend von ihnen wuchs ausgerechnet hinter dem Hof der KiTenaros, nicht weit von der Kate entfernt. Jerusha hatte ihren Duft immer mit einer schönen, aber auch traurigen Erinnerung verglichen – und seit kurzem wusste sie, dass es tatsächlich so war. Nachtlilien wurden gepflanzt, um an besondere Ereignisse zu erinnern. Doch es waren keine Menschen, denen diese Erinnerungen gehörten.

      Kiéran trat auf sie zu, strich ihr über die Wange und beugte sich herab, um sie zu küssen. „Du musst jetzt bestimmt zur Tempelbaustelle, oder? Wie weit bist du mit dem Tonmodell deiner neuen Statue?“

      Es rührte Jerusha, dass er trotz der Gefahr wichtig nahm, was sie tat. „Es ist gestern fertig worden, ich hatte noch keine Zeit, dir davon zu erzählen“, berichtete sie, während sie sich ebenfalls wusch und anzog.

      „Darf ich vorbeikommen und schauen?“, fragte Kiéran, schnallte sich sein Schwert um und befestigte den Umhang über seinen Schultern.

      Zum ersten Mal würde er sie bei der Arbeit besuchen! Eine heiße Welle der Freude stieg in Jerusha hoch, und zugleich fühlte sie sich ertappt. Wie würde er auf das Modell reagieren? Sie hatte sich entschieden, den Krieger-Gott Xatos nicht wie üblich muskelbepackt und kühn, hoch aufgerichtet in prächtiger Rüstung zu zeigen – sondern schlank, fast hager, in einfacher Kleidung. Mit