Siri Lindberg

Lilienwinter


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möglich, dass einige dieser Berichte stimmten. Anderwesen hatten in Ouenda keinen guten Ruf, und die meisten Menschen sprachen mit Furcht und Abneigung von ihnen. Und das ohne wirklichen Grund, ging es Jerusha durch den Kopf, denn getroffen haben die meisten von ihnen noch nie einen Elis!

      „Wenn Qedyr mit eigenen Augen sieht, dass hier alles ruhig ist ... wird er uns dann Frieden garantierten? Uns zusichern, dass die Eliscan nicht versuchen, unser Reich einzunehmen?“ Kiéran ließ den Elis noch immer nicht aus den Augen.

      „Ihr hättet die Gelegenheit, uns die friedlichen Absichten eures Volkes zu beweisen“, wich Colmarél aus. „Und wenn es doch zu einem Krieg käme, würden wir diesen Ort hier verschonen und einen weiteren Ort, der eurem Herzen nah ist.“

      Loreshom würde verschont! Liri und ihre Mutter würden überleben! Jerusha spürte, wie Tränen der Erleichterung in ihre Augen traten, und wischte sie hastig weg, bevor Colmarél sie bemerkte. Noch war nichts vereinbart, nichts entschieden.

      „Warum will Qedyr selbst kommen?“, platzte sie heraus. „Ist das nicht viel zu gefährlich? Er könnte doch einen Abgesandten schicken, dem er vertraut.“

      Verlegen zwirbelte Colmarél eine seiner Locken zwischen den Fingern. „Es ist bei Hofe manchmal schwer zu sagen, wem vertraut werden kann und wem nicht. Außerdem ist er ... wie sagt man?“

      „Neugierig?“, meinte Kiéran trocken.

      „So in etwa. Bisher war er nur sehr selten in euren Fürstentümern, und meist nur kurz und in der Nacht. Er will Menschen verstehen lernen.“

      Am liebsten hätte Jerusha auf der Stelle zugestimmt, doch sie ahnte, dass das unklug war. Kurz zog sie sich mit Kiéran in die enge Küche der Hütte zurück, ihre Lippen berührten sein Ohr. „Und, was meinst du?“, hauchte sie. „Sollen wir es machen?“

      „Es ist eine unglaubliche Chance“, flüsterte Kiéran zurück, sein Atem streifte ihre Wange. „Aber auch ein enormes Risiko. Wenn sich Qedyr auch nur einen Fingernagel abbricht bei dieser Reise, dann sind wir beide so gut wie tot.“

      Erschrocken tastete Jerusha nach seiner Hand, und einen Moment lang hielten sie sich aneinander fest. Sie wagten nichts mehr zu sagen, denn sie wussten beide, was für feine Ohren die Eliscan hatten. Wenn wir wirklich diskutieren wollen, müssen wir dafür einen anderen Ort finden.

      Als sie in die Wohnstube zurückkehrten, flackerte im Kaminofen ein bläuliches Feuer, und Colmarél hatte es sich davor gemütlich gemacht. Anscheinend hatte er damit gerechnet, dass sie sich länger besprechen würden. Hastig nahm er die Füße von dem zweiten Sessel, den er sich herangezogen hatte, und das Feuer verlosch genauso plötzlich, wie es entstanden war.

      „Wir brauchen mehr Bedenkzeit“, kündigte Jerusha an, ohne seine Verlegenheit zu beachten. „Kannst du morgen wiederkommen?“

      „Ja, natürlich, Lady Jerusha.“ Colmarél verbeugte sich, dann versuchte er, seinen feuchten Hut wieder aufzusetzen. Ein Tropfen fiel auf seine Nase. „Bei Mondaufgang?“

      „So sei es. Aber nicht hier“, sagte Jerusha schnell. Die Leute im Dorf, allen voran Irini DaEwinh, durften nichts von diesem Besuch mitbekommen. „Besser auf dem Fir Evarn – das ist ein Hügel im Craunenwald westlich von hier, dort stehen sechs Bäume im Kreis, ich habe Gesichter in sie eingeschnitzt ...“

      Colmarél nickte feierlich. „Ich bin dort vorbeigeritten. Es ist ein guter Ort und bald noch besser.“

      Na, mit dieser Meinung stand er in der Gegend ziemlich alleine da. Den Menschen im Dorf waren die Gesichter in den Bäumen unheimlich. Was genau meinte Colmarél mit ´bald noch besser´?

      Zum Abschied verbeugte sich Jerusha vor ihrem unerwarteten Gast, und Kiéran brachte ein Lächeln und einen freundlichen Abschiedsgruß zustande.

      ***

      „Ich will, dass Koriónas dabei ist, wenn wir uns beraten“, sagte Jerusha, kaum dass sich die Tür hinter dem Elis geschlossen hatte. Kiéran legte den Finger auf die Lippen und überprüfte rasch, ob Colmarél wirklich die Umgebung verlassen hatte und nicht etwa hinter einer der dünnen Hüttenwände lauschte. Erst als er sicher war, dass der Elis wirklich weg war, verließ die furchtbare Anspannung ihn. Er hätte jetzt einen Krug Met gebrauchen können, oder zur Not auch diesen fiesen Schnaps aus Khelgardsland, doch bedauerlicherweise hatten sie alles leergetrunken, was sie gekauft hatten, und die Vorräte von Jerushas verstorbener Großmutter bestanden aus lauter vernünftigen Dingen wie getrockneten Erbsen und Dörrobst.

      Langsam drang zu ihm durch, was Jerusha eben gesagt hatte. „Koriónas? Gute Idee“, erwiderte er. Der Drache, mit dem ihr Clan verbündet war, flößte ihm noch immer Ehrfurcht ein, und Kiéran schätzte seine Klugheit.

      „Dann los.“ Jerusha nahm eine Laterne vom Haken neben der Tür, zündete sie für sich an und ließ Kiéran vorangehen auf dem Pfad, der über die Brücke in den Wald führte. Dank seiner neuen Augen bewegte er sich in völliger Dunkelheit ebenso sicher wie bei Tag, er bemerkte nicht einmal, ob die Sonne am Himmel stand oder nicht.

      Kiéran wusste, dass seine Gefährtin wahrscheinlich schon jetzt mit ihrem Drachen in Kontakt stand und ihn bat herzukommen, wenn es irgendwie ging. Kaum waren sie auf der Lichtung angekommen, sah er den Drachen über dem Wald durch die Luft gleiten und hörte das Sausen seiner ledernen Schwingen in der Nachtluft. Wie so viele Anderwesen trat auch dieses klar und deutlich aus der ewigen Dunkelheit hervor, die Kiéran umgab, und wie gebannt beobachtete er, wie der Schuppenpanzer des Drachens schimmerte. Es sah aus wie die Lichtreflexe auf fließendem Wasser.

      Koriónas konnte so behutsam aufsetzen wie ein fallendes Blatt, doch diesmal verpatzte er die Landung, und seine Vorderpranken gruben sich tief ins kieselige Bachbett am Rande der Lichtung. Sein Schwanz peitschte zur Seite und entwurzelte einen jungen Baum. Diese Spuren müssen wir beseitigen, bevor wir zurückgehen ins Dorf, niemand darf ahnen, dass ein Drache hier gewesen ist! Die meisten Bewohner Kalamancas wissen ja nicht mal, dass es noch welche gibt.

      Ein erstickender Geruch nach Reptil umhüllte Kiéran, und einen Moment lang hielt er den Atem an, als der Drache ihm den gewaltigen Kopf zuwandte. Nicht, weil er Angst hatte – dazu kannten sie sich zu gut – sondern weil es schon eine Weile her war, dass sich Koriónas zuletzt das Maul gereinigt hatte, indem er armdicke Weidenzweige zerkaute.

      Ein tellergroßes gelbes Auge mit schlitzförmiger Pupille wandte sich ihm zu. So, ich stinke also?, donnerte eine Stimme in Kiérans Kopf.

      Manchmal hatte es Nachteile, dass Drachen Gedanken spüren konnten. Kiéran setzte zu einer diplomatischen Antwort an, doch Jerusha kam ihm zuvor. „Ja, ein bisschen, aber das ist egal, es sind ein paar wichtige Dinge geschehen ...“

      Sie setzte sich neben Koriónas ans Bachufer und berichtete, was ihr unerwarteter Besucher ihnen im Auftrag der Eliscan-Herrscher vorgeschlagen hatte. Verblüfft schnaubte Koriónas, und ein paar Blätter wirbelten Kiéran um die Ohren. Das ist eine erstaunliche Bitte, stellte der Drache fest. Aber Qedyr ist auch ein erstaunlicher Herrscher, anders als viele vor ihm. Wahrheit ist ihm wichtiger als Macht.

      „Das ist sehr löblich, aber was ist, wenn diese ganze Reise grandios daneben geht?“ Kiéran hatte Kopfschmerzen, wie so oft seit dem Gefecht in Daressal. „Colmarél hat gesagt, dass Qedyr die Menschen verstehen lernen will – da bin ich zusammengezuckt. Menschen sind grausam, neidisch, verschlagen und gierig – natürlich nicht dauernd, aber viel zu oft. Auch ich habe schon Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin.“

      „Das ... aber ...“ Jerusha klang erschrocken – worüber? Dass er nicht perfekt war oder dass er einen so miesen Eindruck von der Menschheit hatte? Sie stockte, setzte dann noch einmal an. „Ja, du hast wohl Recht, aber er erwartet hier bestimmt kein Paradies der Gerechtigkeit oder so etwas. Schließlich nennt sich sein Volk die Edlen des Mondes, und manche von ihnen haben die Moral einer fünfschwänzigen Sumpfnatter!“

      Das stimmt, mischte sich Koriónas ein. Während ihr Menschen zwar die meiste Zeit über unausstehlich seid, aber in manchen Momenten richtig