Siri Lindberg

Lilienwinter


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wob. Diese Statue würde sein Abbild sein, und sie hatte keine Ahnung, ob ihm das überhaupt Recht war ... schließlich verehrte er Xatos. Was war, wenn er sie bat, das Modell zu ändern? Denn das kam für sie nicht in Frage, all ihre Liebe zu ihm steckte darin.

      Ich hätte ihn einfach fragen sollen, schalt sich Jerusha. Los, sag es ihm jetzt! Aber dann tat sie es doch nicht – sie war zu gespannt auf seine Reaktion. Vielleicht freute er sich ja.

      In ihrem Einspänner fuhren sie nach Mandeth, die Kapuzen ihrer Umhänge hochgeschlagen. Tief hängende Wolken, aus denen Nieselregen sickerte, verbargen die grünen Hügel der Umgebung fast, und die Schafe auf ihren Weiden grasten eng zusammengedrängt, um sich vor Nebelwölfen zu schützen.

      „Halt an, wir sind da“, sagte Jerusha schließlich. Kiéran brachte den Wagen zum Stehen, sprang vom Kutschbock und klopfte seinem Ersatzpferd Louc den Hals. Dann blickte er sich um. „Wie sieht der Tempel aus?“, fragte er, und Jerusha beschrieb es ihm. Der Ghaliltempel wirkte von außen fast fertig, und sein Kupferdach glänzte selbst in diesem trüben Licht prachtvoll. Nur im Eingangsbereich war er noch von Gerüsten umgeben, weil am Fries noch gearbeitet wurde. Doch vollendet war der Tempel längst nicht, besonders im Inneren sah es chaotisch aus. „Wir müssen uns ranhalten, damit er wirklich Mittherbst nächsten Jahres geweiht werden kann“, sagte Jerusha und entschied, Kiéran besser nicht ins Tempelinnere mitzunehmen. Einer der Freskenmaler mochte sie nicht besonders, weil sie ihm einmal gesagt hatte, dass er seine Pfoten bei sich behalten sollte – seither nutzte er jede Gelegenheit, ganz zufällig einen Topf Farbe fallenzulassen, wenn sie unter seinem Gerüst war.

      Stattdessen ging Jerusha voran zu der aus Brettern gezimmerten Werkstatt, in denen die rund vierzig Steinmetze und Bildhauer in der kalten Jahreszeit arbeiteten. Schon von weitem hörten sie den Klang der Hämmer und hin und wieder ein Kommando oder einen Fluch. Konnte Kiéran verstehen, wie vertraut dies alles für sie war, wie viel es ihr bedeutete, hier zu sein? Er hatte mal gemeint, dass er nicht verstehe, wie man den ganzen Tag auf Steinen herumklopfen könne. Nun gut, das hatte er erst gesagt, nachdem sie ihm vorgeworfen hatte, seine Berufung sei, Leute in Stücke zu hacken. Was auch nicht ganz fair gewesen war.

      Sie überquerten den Vorplatz, auf dem noch das Unkraut wucherte, Jerusha stemmte die Tür zur Werkstatt auf und sog den vertrauten Geruch nach Steinstaub und Metall ein, der hier immer in der Luft lag. Zum Glück war Goram TeRulius, der Erste Baumeister, gerade nicht in Sicht – er hasste es, wenn Besucher in seinem Revier herumstiefelten.

      Jerusha grüßte ein paar andere Bildhauer, die neugierig zu ihnen hinüberspähten, und ging zu ihrem Arbeitsbereich. Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen. Mit klopfendem Herzen zog sie das Leinentuch von dem Block, der mehrere Köpfe größer war als sie selbst. „Hellgrauer Marmor aus den Steinbrüchen von Kesting“, sagte Jerusha und klopfte stolz auf den Stein. „Da drin ist die Statue schon verborgen, jetzt muss ich nur noch alles abtragen, was nicht zu ihr gehört.“

      Neugierig ließ Kiéran die Finger über den Stein gleiten. „Was für eine unglaublich mühsame Arbeit. Die Geduld hätte ich nicht. Aber es ist etwas, was du tun musst, oder?“

      Bei der Gnade der Götter, er verstand! Das war viel mehr, als Jerusha zu hoffen gewagt hatte.

      Jetzt kam der schwierige Teil. Besser, sie brachte es hinter sich.

      „Hier“, sagte Jerusha und räusperte sich. „Hier ist das Tonmodell der Statue.“

      Sie nahm seine Hand und führte sie zu dem Modell, das auf einem Podest stand und etwa halb so groß war wie ein Mensch.

      ***

      Was war mit Jerusha los? Ihre Aura, sonst sonnengelb und dunkelblau, war eben hell aufgeflammt und gleich darauf fast verloschen – war sie nervös, und wenn ja, warum? Weil sie so viel Wert auf seine Meinung legte?

      Hart und kühl fühlte sich der Ton unter seinen Händen an. Kiéran tastete die Figur ab, dann noch einmal. Eigenartig bekannt fühlte sie sich an, und ihm wurde klar, dass sie einen Mann darstellte, der gerade die Anfangspose des Venthis Lijxár einnahm. Jeder Schwerttanz begann auf andere Art, so dass kundige Beobachter selbst ohne Ankündigung wussten, was folgen würde.

      Seine Finger glitten über den Körper der Figur, über das Gesicht. Ein Schauer überlief Kiéran; es war, als habe er sich selbst berührt, was für ein seltsames Gefühl. Jetzt wusste er also, warum seine Gefährtin so unruhig war. Er ließ die Hände sinken. „Das ... Jerusha ... ich ...“

      „Gefällt es dir?“ Ihre Stimme klang ein wenig zittrig.

      Plötzlich musste Kiéran lachen. „Du meinst, bin ich so eitel, mich in manchen Momenten wie ein Gott zu fühlen? Willst du das wirklich – mich als Xatos zeigen?“

      Sie verschränkte die Arme. „Ja, will ich.“

      „Ein paar Leute kennen mich schon in der Gegend ... wenn die mich als Marmorgestalt vor dem Tempel erkennen, werden sie sich das Maul zerreißen.“

      „Das riskiere ich.“

      „Dann danke ich dir“, sagte Kiéran und wurde wieder ernst. Marmor war ein Stein für die Ewigkeit. Was sie ihm schenkte, war ein kleines Stück Unsterblichkeit. Hoffentlich reagierte Xatos nicht eifersüchtig – wenn ihn in nächster Zeit ein Blitzschlag niederstreckte, war der Fall klar!

      Kiéran wusste, dass ein paar andere Menschen in der Nähe arbeiteten, er sah sie als Umrisse in der Dunkelheit, die von einer leuchtenden Aura umgeben waren. Doch jetzt war ihm gleichgültig, wer zusah. Er nahm Jerusha in die Arme, küsste sie und hielt sie fest, genoss jede Sekunde, in der er sie so lebendig spürte, das Schlagen ihres Herzens, das sanfte Auf und Ab ihres Atems, ihre Wärme. Tief sog er den Duft des Nachtlilienöls ein, das sie jeden Abend in ihre Haare knetete. Nicht einmal die Götter konnten wissen, wie viel Zeit sie noch miteinander hatten und ob diese Statue jemals fertig werden würde. Wenn es Krieg gab, dann war nichts mehr sicher.

      Am liebsten wäre er hiergeblieben, hätte sich auf irgendeinen Steinblock gesetzt und beobachtet, wie sie mit Fäustelhammer und Eisen die Arbeit am Marmor begann, aber das ging nicht. Er hatte gleich eine Besprechung mit dem Stadtkommandanten von Mandeth, der ihm erst ums Verrecken nicht hatte glauben wollen, dass es Geschöpfe wie die Skraelings – gefährliche Vogel-Mensch-Wesen aus Khorat – überhaupt gab.

      Erst am Abend trafen sie sich wieder. Kiéran zügelte seinen Braunen vor der Baustelle, bis der leichte Einspänner zum Stehen gekommen war, und mit langsamen, erschöpften Bewegungen kletterte Jerusha zu ihm auf den Kutschbock. Jetzt roch sie deutlich mehr nach Steinstaub als nach Lilien. „Ich bin´s nicht mehr gewöhnt“, stöhnte sie. „Meine Arme sind aus Blei, wahrscheinlich kann ich nicht mal mehr ein Blatt Papier heben.“

      Kiéran zwickte sie in den Oberarm, der sich ganz anders anfühlte als der seiner ehemaligen Verlobten Marielle, einer Dame der feinen Gesellschaft. „Hm“, meinte er. „Doch eher Gummi.“

      Jerusha versuchte, ihn vom Kutschbock zu schubsen, schaffte es aber nicht. Grinsend schnalzte Kiéran mit der Zunge und ließ Louc antraben.

      „Und, wie war´s bei dir?“, fragte sie ihn. „Irgendwas erreicht?“

      „Irgendeins meiner Argumente hat ihn überzeugt. Er lässt zweihundert Barrikaden aus angespitzten Holzpfählen und einige tausend Eisenpfeile fertigen. Außerdem durfte ich seinen Leuten ein paar Tricks zeigen.“

      Das Dumme war, Kiéran hatte keine Ahnung, ob das alles gegen einen Skraeling-Angriff wirklich zu irgendetwas gut sein würde. Er selbst hatte es zwei Mal nur ganz knapp überlebt, als sie ihn aufs Korn genommen hatten. Auch die Eliscan waren furchterregende Gegner, schnell, gewandt und ohne Gnade. Gegen sie half nur eins – ihnen gar nicht erst zu begegnen.

      Es war nicht weit bis Loreshom. Mittlerweile kannte Kiéran den Weg zu Jerushas Heimatdorf und fand ihn ohne Probleme, obwohl er nur dünne bläuliche Umrisse in der ewigen Dunkelheit erkennen konnte. War die Sonne schon untergegangen? Er wusste es nicht, ihr Licht sah er nicht mehr.

      Jerusha war so müde, dass sie sich schwer an seine Schulter lehnte.