Dieter Landgraf

Sandras Rache


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der Ruf voraus, dass ihr es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nehmen würdet.“

      Laut lachend entgegnet er: „So Unrecht hast du gar nicht … bei uns sagt man, das Einzige in Kolumbien, was pünktlich kommt und geht ist die Sonne … die geht täglich sechs Uhr auf und achtzehn Uhr wieder unter.“

      Jetzt muss auch Cornelia Nicolai lachen: „Dann habe ich ja schon eine erste große Aufgabe, damit du so zuverlässig bleibst, wie heute … die Pünktlichkeit werde ich dir ganz schnell beibringen.“

      Genau so freundlich erwidert Alejandro: „Oder es wird umgekehrt und du gewöhnst dich an unsere nicht so ganz exakten Zeitabläufe.“

      Auf dem Weg zum Parkplatz fragt er vorsichtig: „Als ich dich zur Begrüßung in die Arme geschlossen habe … sag mal … war dir das unangenehm … ich hatte das Gefühl, dass du dich ein wenig dagegen gesträubt hast.“

      „Nein, es war mir wirklich nicht unangenehm … nur etwas unerwartet … dein südamerikanisches Temperament ist nur ein klein wenig ungewohnt für mich.“

      „Toll, dann habe ich auch schon eine großartige Mission … aber eine viel angenehmere als du mit der Pünktlichkeit … ich werde dich in unsere ungezwungene südländische Lebensart einführen … da können wir beide eine Menge Spaß haben“, fügt er scherzend hinzu.

      „Was meinst du damit?“, fragt sie, wohl wissend wie die Antwort lautet.

      „Ganz einfach … du sollst die Lebendigkeit und Vitalität von mir als Kolumbianer kennenlernen.“

      Auf dem Weg zum Parkplatz nennt er ihr seinen vollständigen Namen und sie erfährt, dass alle Kolumbianer zwei Vornamen und zwei Familiennamen haben.

      „Dann muss ich dich also mit Alejandro Juan Sanchez Rodriguez ansprechen?“

      „Um Gottes Willen, nein … wenn du mich Alejandro nennst, reicht das vollkommen aus … so kompliziert sind wir nun auch wieder nicht.“

      Vor einem kleinen Jeep bleibt er stehen. Etwas ungläubig schaut sie ihn an.

      „Ist das dein Auto?“, fragt sie vorsichtig.

      „Ja, richtig … das ist ein Willy … nicht besonders komfortabel … aber zuverlässig … und man kann eine ganze Menge auch selbst reparieren … stammt noch aus den fünfziger Jahren.“

      „Und damit wollen wir die weite Strecke bis Medellin schaffen?“, fragt sie besorgt.

      „Keine Angst … es sind doch nur ungefähr vierhundert Kilometer … das schafft mein Willy in sieben Stunden … und du kannst dir dabei die wilde Schönheit meines Landes ganz in Ruhe anschauen.“

      Leicht fröstelnd bemerkt sie: „Von den Temperaturen habe ich mir Kolumbien viel wärmer vorgestellt … meine Jacke ist in der Reisetasche … die werde ich mir jetzt anziehen.“

      „Da hast du nur zum Teil recht … jetzt in den Morgenstunden ist es noch kühl … Bogota liegt zweitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel … dafür ist es doch trotzdem relativ warm … natürlich nicht zu vergleichen mit den Temperaturen in Medellin.“

      „Wie hoch liegt denn deine Heimatstadt?“

      „Im Vergleich zu Bogota bei Weitem nicht so hoch … es sind nur eintausendfünfhundert Meter.“

      „Und dann ist es dort sicher auch viel wärmer.“

      Alejandro gerät fast ins Schwärmen: „Weißt du … wir nennen Medellin auch die Stadt des Ewigen Frühlings … es herrschen das ganze Jahr über Temperaturen so um die dreißig Grad. Ich freue mich schon riesig, dir meine immer grüne und blühende Stadt zu zeigen … im Botanischen Garten kannst du dann als Erstes die Flora und Fauna von Kolumbien bestaunen … deine Jacke kannst du dann auch getrost zu Hause lassen“, fügt er lächelnd hinzu.

      Ausgesprochen zurückhaltend fragt sie: „Im Internet habe ich gelesen, dass Medellin auch die gefährlichste Metropole der Welt sei … stimmt denn diese Behauptung?“

      „Das ist Geschichte … vor über dreißig Jahren war die Aussage schon zutreffend … aber heute sind die Zeiten des Kokain-Königs Pablo Escobar glücklicher Weise vorbei … heute bestimmt nicht mehr Gewalt und Korruption das alltägliche Leben … die Normalität, wie du das Leben aus Europa kennst, hat auch hier längst Einzug gehalten.“

      „Ist denn aus dieser Zeit nichts zurückgeblieben … sind sich alle Menschen wirklich sicher?“, fragt sie wiederum ganz behutsam, um Alejandro in seinen Gefühlen für seine Heimatstadt nicht zu verletzen.

      „Auf jeden Fall gibt es noch Hinterlassenschaften aus dieser unrühmlichen Phase von Medellin … das wird sicher auch noch einige Jahre dauern, bis alles beseitigt ist.“

      „Was sind das denn für Relikte … was muss ich mir darunter vorstellen?“

      Um nur zwei Beispiele zu nennen: „Wohnhäuser oder auch Wohnungen sind generell bewacht und haben oft auch Alarmanlagen … und die Motorradfahrer tragen das Kennzeichen ihres Krades auf Warnwesten.“

      „Das mit der Sicherung der Wohnungen verstehe ich … aber warum das Motorradkennzeichen auf einer Weste?“

      In Zeiten der Herrschaft der Maffiabosse wurden oftmals unbequeme Personen von vorbeifahrenden Motorradfahrern erschossen … die konnten dann unerkannt davonfahren … dem will man heute vorbeugen.“

      Cornelia Nicolai hört aufmerksam zu. Ihr erschließt sich durch die Ausführungen von Alejandro eine bisher unbekannte Welt. Sie könnte am liebsten noch tausend Fragen stellen, doch wegen des dichten Verkehrs und dem ständigen Hupen der Autofahrer hinter und neben ihnen, will sie Alejandro nicht vom Fahren ablenken. An einer Ampelkreuzung, an der sie wegen Rot halten müssen sagt sie: „Solch einen dichten Verkehr hatte ich mir nicht vorgestellt … das erinnert mich an einen Urlaub in Italien … als wir durch Neapel gefahren sind, hat mein damaliger Ehemann die Äußerung gemacht: Wer in Neapel Auto fahren kann, der bringt es auch auf der ganzen Welt.“

      Alejandro schaut sie fragend an und äußert: „Du warst schon einmal verheiratet … warum hast du dich denn von deinen Partner getrennt?“

      „Ach, weißt du, dass ist nun schon über zwanzig Jahre her … er war unerträglich eifersüchtig, obwohl ich ihm nie Grund dafür gegeben habe … aber das sind alte Geschichten … damit sollten wir uns nicht belasten.“

      „Doch, doch … wenn wir uns ein gemeinsames Leben aufbauen wollen, dann können wir unsere Vergangenheit nicht einfach über Bord werfen … und bei deinem Aussehen ist wohl die Reaktion deines damaligen Partners nicht verwunderlich.“

      Cornelia Nicolai fühlt sich wegen des Komplimentes geschmeichelt. Trotzdem beschleicht bei diesen Worten ein eigenartiges Gefühl. Sie hat ein dunkles Geheimnis, was sie auf keinen Fall preisgeben möchte. Sie ist doch deshalb aus ihrer Heimat ausgewandert, damit sie unbelastet ein neues Leben beginnen kann. Doch viel Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, bleibt nicht. Schon erzählt Alejandro munter weiter: „Wenn ich es so richtig bedenke … wir wissen eigentlich recht wenig voneinander … aber das wird sich in den nächsten Tagen ändern … ich habe mir extra ein paar Tage von der Arbeit frei genommen … ich stehe dir also ab sofort voll zur Verfügung.“

      Weitere Bemerkungen muss er sich im Moment verkneifen, denn die Ampel schaltet auf Grün und Alejandro widmet sich wieder ganz dem zäh dahinfließenden Straßenverkehr. Der Sitz im Auto ist bequemer, als es Cornelia Nicolai bei der ersten in Augenscheinnahme des kleinen „Willy“ vermutet hat. Die Reisestrapazen und die Zeitumstellung fordern jetzt ihren Tribut. Langsam schließen sich ihre Augen. Schon im Dahindämmern vernimmt sie Alejandros Stimme: „Schau, das ist der Monserrate … er ist über dreitausend Meter hoch.“

      Dann übermannt sie der Schlaf. Ein lautes Stimmengeschwirr und ebenso laute Musik wecken sie unsanft aus ihren Träumen. Ihr ist unsäglich heiß. Alejandro hält vor einem Bistro, um etwas zu Trinken und zu Essen zu besorgen. Als er bemerkt, dass Cornelia Nicolai die Augen öffnet, sagt er heiter: „Entschuldige bitte