Dieter Landgraf

Sandras Rache


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vor, als würde sie sich in einer anderen Welt befinden.

      „Oh, ich bin wohl ein ganz klein wenig eingeschlafen“, bringt sie mühsam hervor.

      „Ein klein wenig ist leicht untertrieben … wir sind schon vier Stunden gefahren und haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns“, antwortet er immer noch vergnügt.

      „Da habe ich wohl viel verpasst … puh, ist das warm geworden“, sagt sie und zieht sich die Jacke aus.

      „Nicht nur warm … hier ist es richtig heiß … wir befinden uns am Ufer des Rio Magdalena, es ist unser größter Fluss … und der liegt nur zweihundert Meter über dem Meeresspiegel.“

      „Dann sind wir schon über zweitausend Meter nach unten gefahren“, überlegt Cornelia Nicolai laut, „dann müssen wir bis Medellin ja genauso viele Meter wieder hoch fahren.“

      „Nicht ganz … aber so in etwa hast du recht … wenn wir das Flussufer hinter uns haben kommen die Serpentinen … da macht das Autofahren richtig Spaß.“

      Weil Alejandro ihr viel über sein Land erzählt, vergeht die Zeit wie im Fluge. Als sie durch Dorandal fahren, erfährt sie, dass Pablo Escobar – der Drogenkönig – hier wie ein Volksheld verehrt wird. Er hatte Häuser für die Armen bauen lassen, damit diese wenigstens ein Dach über dem Kopf haben. Diesen Widerspruch begreift Cornelia Nicolai nicht so richtig. Doch sie möchte Alejandro in seinem Erzählen nicht unterbrechen und hebt sich die Frage für später auf. Und dann beginnen die Serpentinen.

      Alejandro bemerkt: „Wenn wir oben auf dem Gipfel ankommen, dann sind es nur noch zwanzig Kilometer bis Medellin … wie sagt ihr doch gleich in deiner Heimat … nur noch ein Katzensprung … oder so ähnlich.“

      „Ich bin schon mächtig aufgeregt … schließlich soll es doch meine neue Heimat werden.“

      „Kann ich voll und ganz verstehen … aber keine Bange … ich kenne keinen einzigen Menschen, dem Medellin nicht gefallen hat.“

      Cornelia Nicolai kommt aus dem Staunen nicht heraus, als sie die mächtigen Hochhäuser von Medellin wahrnimmt.

      „Das sieht doch genau so aus, wie bei uns zu Hause … ich meine damit natürlich die Großstädte“, äußert sie begeistert, „ich kann überhaupt keinen Unterschied erkennen.“

      „Es wird ja auch behauptet, dass Medellin die europäischste Stadt Südamerikas sein soll.“

      „Und was bedeutet Exito … habe ich jetzt ein paar Mal gelesen.“

      „Das ist eine Supermarktkette … wie bei dir zu Hause … nur hier hat sie eben einen anderen Namen … da gehen

      wir morgen gemeinsam einkaufen.“

      „Und wer ist Juan Valdez … steht auch überall auf den Werbetafeln.“

      „Das ist wiederum eine Cafehaus-Kette … auch diese besuchen wir in den nächsten Tagen … dort bekommst du den besten Kaffee auf der ganzen Welt … er wird aus der Arabica Kaffeebohne gewonnen.“

      „Und warum soll das der beste Kaffee sein?“, fragt sie neugierig.

      „Das Besondere ist, dass die Kaffeekirschen nur mit der Hand geerntet werden … damit ist garantiert, dass man nur die schon reifen Früchte pflückt … übrigens … bei uns gibt es ungefähr eine halbe Million Familien, die im Hochland Kaffee anbauen.“

      Irgendwann biegt Alejandro von der dreispurigen Autostraße ab und sie durchfahren ein Wohngebiet.

      „Hier sind die Häuser doch gar nicht umzäunt, wie du es mir in Bogota geschildert hast?“

      „Nein, hier nicht … die Miete für Wohnungen mit Bewachung können sich nicht alle leisten … es ist nicht anders als in deiner Heimat … dort wohnen doch auch nicht alle in Villen oder Einfamilienhäusern.“

      Die Steigung der Straße nimmt beängstigend zu. Alejandro sieht, wie sich seine Beifahrerin krampfhaft am Türgriff festklammert und sagt beruhigend: „Ja, Medellin liegt im Tal … und die Anden sind nun einmal kein kleiner Hügel … meine Wohnung liegt etwas höher … aber dafür hast du von meinem Balkon einen einzigartigen Ausblick auf Medellin … wir sind auch gleich angekommen.“

      Das Auto hält vor einem riesigen Gittertor. Alejandro weist sich aus und sie fahren in die Wohnanlage. Etwas erhöht nimmt sie einen Swimmingpool wahr.

      „Das finde ich ja ganz komfortabel … eine Wohnung mit Freibad … und das kann jeder nutzen?“

      „Nein, das Freibad steht nur den Bewohner der Anlage zur Verfügung … man nennt die Wohnanlagen bei uns Gated Communities … die gibt es übrigens überall auf der Welt … vielleicht bei uns häufiger … das hat etwas mit der Geschichte zu tun, als hier noch der Drogenkrieg herrschte … die Angst vor kriminellen Straftaten kann man nicht in ein paar Jahren ausmerzen … das dauert bestimmt noch mehrere Generationen … aber wie ich schon mehrmals erwähnt habe … mein Land befindet sich dazu auf einem guten Weg.“

      „Einmal eine ganz andere Frage … du hast mir doch erzählt, dass achtzehn Uhr die Sonne untergeht … und es ist gleich so weit … ich finde aber, dass im Moment noch nicht einmal die Dämmerung eingesetzt hat.“

      „Das wird wohl die nächste Überraschung … der Übergang vom Tag in die Nacht dauert bei uns nur ganz kurze Zeit … dann ist es mit einem Male dunkel … wirst du gleich erleben … schließlich befinden wir uns nahe am Äquator.“

      Der Fahrstuhl hält in der elften Etage.

      „Höher geht es nicht. Ich wohne ganz oben … in der letzten Etage“, bemerkt Alejandro, bevor er die Wohnungstür aufschließt.

      Cornelia Nicolai ist wie so oft an diesem Tage fast sprachlos. Sie erblickt ein Wohnzimmer, geschätzt fünfzig Quadratmeter groß mit einer sechs Meter breiten Glastür zum Balkon. Rechts von ihr befindet sich eine offene Küche, die durch einen Tresen vom Wohnraum getrennt ist. Alejandro bemerkt ihr Zögern und fordert sie zum Eintreten auf.

      „Willkommen in deinem neuen Heim … oder sollte ich besser sagen … in unserem zu Hause.“

      „Danke … ich bin nur überrascht … das habe ich mir so nicht vorgestellt.“

      Er zeigt ihr die drei Zimmer und zwei Bäder. Bei einem weiteren kleineren Raum bemerkt Alejandro: „Das ist das Zimmer für unsere Putzfrau … deshalb auch die Duschkabine … sie kommt zweimal in der Woche … ein ganz fleißiges Mädchen.“

      „Nun brauchst du sie aber nicht mehr … jetzt hast du doch mich … ich bin Hausarbeit gewöhnt.“

      „Du meinst es bestimmt gut … aber sie verdient damit das Geld für ihre Familie … und das kann sie nicht entbehren … eine andere Arbeit zu finden ist schwer … sie ist seit dem Tod von meiner Frau schon hier … ich würde es nicht über das Herz bringen, sie zu entlassen.“

      „Das wusste ich nicht … entschuldige bitte … ich habe dabei auch an unser Geld gedacht.“

      Als er ihr das Gehalt für die Putzfrau nennt, ist sie über die Geringfügigkeit verwundert und sagt: „Das ist aber wenig für die vier großen Zimmer, die Bäder … und dann noch für acht Tage im Monat.“

      „Für unsere Verhältnisse geht das schon in Ordnung … du darfst nicht ständig alles in die Währung deines Landes umrechnen … dafür sind die Preise und Einkommen zu unterschiedlich … aber das wird dir in den nächsten Tagen sicher noch öfter passieren … wenn du deine ersten Peso selbst verdient hast, dann hört das Umrechnen von ganz allein auf.“

      Vor den großen Einbauschränken im Schlafzimmer bleibt sie stehen und fragt: „Das hat bestimmt eine Menge Geld gekostet … was machst du denn damit,

      wenn du eines Tages hier ausziehen solltest?“

      „Das ist kein Problem … die gehören zur Wohnung und sind im Mietpreis enthalten.“

      „Jetzt fange ich langsam